Realität – Eine Wundertüte

Richard Dawkins beschwört den „Zauber der Wirklichkeit“ herauf

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Überzeugung, dass man Kinder beliebig formen und zu jedweder geistigen Haltung erziehen kann, wenn man nur früh genug anfängt und nachdrücklich genug verfährt, haben über die Jahrhunderte vielerlei Personen (angeblich) vertreten – von Ignatius von Loyola bis B. F. Skinner. Mit seinem jüngsten Werk möchte Richard Dawkins sich und seiner Mission offensichtlich auch endlich diese Zielgruppe erschließen: „Der Zauber der Wirklichkeit“ ist ein mit den großartigen Illustrationen von Dave McKean aufwändig gestaltetes Bilderbuch, quasi eine textlich und grafisch für ein jüngeres Publikum aufbereitete Fassung seines 2002 erschienenen Sachbuchs „Der entzauberte Regenbogen“. Die Ähnlichkeit zieht sich immerhin bis zur jeweils titelgebenden Idee durch: Durch ihre wissenschaftliche Erforschung würden Naturphänomene ‚entzaubert‘ – aber das sei positiv und ohnehin notwendig, außerdem besäße diese entzauberte Welt ihre ganz eigene Schönheit (oder, verwirrenderweise, doch wieder einen „Zauber“).

Die 12 Kapitel des Buches behandeln verschiedene Fragen über – grob gesprochen – die Natur: von „Was ist ein Regenbogen?“ und „Woraus bestehen die Dinge?“ bis „Was ist ein Wunder?“ Die Antworten, die Dawkins dazu jeweils gibt oder wiedergibt, sucht er klar zu unterteilen in wissenschaftlich-empirische auf der einen, mystische, abergläubische oder religiöse, – kurz: nichtwissenschaftliche – auf der anderen Seite. Mit zusammenfassenden Ausführungen zu letzteren beginnen alle Kapitel, bevor dann jeweils, deutlich ausführlicher und umfangreicher, physikalische, chemische und biologische Erläuterungen folgen. Tenor des Werkes ist, dass wir allein mittels wissenschaftlicher Forschung die „Wahrheit hinter den Rätseln der Natur“ entdecken können und dass diese „faszinierende“ wissenschaftliche Wahrheit „viel aufregender ist als Mythen, Geheimnisse oder Wunder“. Wie quasi alle jüngeren Werke Dawkins’ wird auch dieses Buch in Feuilletons und Internetforen zumeist gelobt, nämlich als engagiertes, rationales Plädoyer gegen den Aberglauben, das insbesondere aufgrund seiner inhaltlichen Anschaulichkeit bestäche. Eine ablehnende Haltung wird hingegen schnell als durch eine inhaltliche Gegenposition motiviert gedeutet, etwa als Reaktion religiöser Fundamentalisten.

Doch das ist durchaus nicht der einzig mögliche Grund, Vorbehalte gegenüber Dawkins zu haben und zu äußern: Ganz unabhängig von der persönlichen Einstellung zu ‚Übernatürlichem‘ und sogar, wenn man wie Dawkins Atheist ist, mag man einwenden, dass er schlicht nicht stimmig und schlüssig argumentiert. Denn wenn Jugendliche sich die Phänomene der Welt ohne Rückgriff auf unzureichende oder gar falschen Erklärungen und bloße Märchen erschließen sollen, ist er selbst es, der diesen Plan in doppelter Hinsicht gefährdet: Zum einen zeichnet er in „Der Zauber der Wirklichkeit“ ein streckenweise albernes, verzerrendes und verunglimpfendes Feindbild (dazu später mehr). Zum anderen weisen aber auch seine vorgeblich wissenschaftlichen Erläuterungen verschiedene Mängel auf.

‚Wissenschaftlich‘ bezieht sich auf die Form, nicht auf den Inhalt

Eine makellose Argumentation ist gerade das Qualitätsmerkmal der von ihm so gelobten Wissenschaft: Eine auf unwidersprochene Sachverhalte aufbauende Darlegung verdient nur dann das Prädikat ‚wissenschaftlich‘, wenn sie allgemeine Zustimmung insofern findet, dass ihr in formaler Hinsicht nicht einmal sinnvoll widersprochen werden kann. Einfach nur das (vermeintlich) Richtige zu wissen reicht nicht aus; ohne allgemein nachvollziehbare Begründung Recht zu haben – das ist lediglich ein Glückstreffer. Was Dawkins allerdings regelmäßig präsentiert, ähnelt der folgenden Pseudo-Schlussfolgerung: ‚Nur Vögel haben Federn, Fische hingegen haben keine Federn, folglich sind Fische keine Vögel.‘ Diese Argumentation mag auf den ersten Blick korrekt erscheinen, dass es sich aber um einen Trugschluss handelt, wird deutlich, wenn man statt ‚Fische‘ ‚gerupfte Hühner‘ einsetzt. Den formalen Fehler übersehen wir deswegen so leicht, weil wir allen drei im Satz enthaltenen Sachverhalten zustimmen können (die genannten sind durchaus alle unstrittige biologische Tatsachen).

In ähnlicher Weise übersehen anscheinend viele, die Dawkins' naturwissenschaftsaffirmative Grundhaltung teilen, die Schwachstellen seiner Argumentation als solcher. Genauso wie im vorherigen Beispiel bleibt die aus der Pseudo-Folgerung resultierende These formal strittig: ‚Nur wahre Theorien der Wirklichkeit halten der naturwissenschaftlichen Überprüfung stand, Mythen halten hingegen der naturwissenschaftlichen Überprüfung nicht stand, folglich sind Mythen keine wahren Theorien der Wirklichkeit.’

Die These bleibt wohlgemerkt strittig, sie wird nicht falsch: Man kann auch weiterhin darüber diskutieren, ob es andere als wissenschaftliche Wahrheiten gibt. Diese metaphysische Frage kann nicht auf allein der Basis der Naturwissenschaften entschieden werden, denn diese treten gerade mit dem selbstgesetzten Anspruch auf, sich zu metaphysischen Fragen grundsätzlich nicht zu äußern. Schon an diesem Punkt scheitert Dawkins’ Ansatz also.

Nirgends sind Mythen bizarrer als in Dawkins’ Darstellung

Laut Buchklappentext „erzählt“ Dawkins „die Mythen der Menschheit und erklärt die wissenschaftliche Wahrheit, die hinter ihnen steckt“. Andere als wissenschaftliche Wahrheiten scheint es für ihn ohnehin nicht zu geben, alles Nichtwissenschaftliche – wohlgemerkt ist ‚nichtwissenschaftlich‘ nicht dasselbe wie ‚unwissenschaftlich‘ oder gar ‚antiwissenschaftlich‘ – diffamiert er in erkenntnistheoretischer wie auch moralischer Hinsicht. Immerhin kann es nicht als ‚erzählen‘ gelten, entstellte Legendenbrocken aneinanderzureihen und auf dieser Grundlage ständig abwertende Kommentare – etwa zu „der üblichen merkwürdigen Logik von Mythen“ – anzubringen. „Im Mittelalter glaubten viele Menschen, Krankheiten würden durch die Bewegungen der Planeten vor dem Hintergrund der Sterne verursacht. Das ist Teil eines Glaubenssystems, das man Astrologie nennt und das – obwohl es so absurd ist – sogar heute noch eine Menge Anhänger hat.“ Warum soll es nicht bloß faktisch falsch (darüber ließe sich sprechen), sondern grundsätzlich absurd sein, Himmelskörpern, die immerhin etwa Ebbe und Flut auslösen, auch gewisse andere Wirkungen zuzusprechen?

Man mag sich fragen, wie Dawkins sich wohl als Zeitgenosse von etwa Ignaz Semmelweis, Otto Lilienthal oder Alfred Wegener verhalten hätte: „Vor etwa 100 Jahren äußerte der deutsche Forscher Alfred Wegener eine kühne Vermutung. Sie war so kühn, dass seine Zeitgenossen ihn für verrückt hielten. Wegener nahm an, dass die Kontinente wie riesige Schiffe umhertreiben. […] Damals lachten die Leute Wegener aus. Heute wissen wir, dass er recht hatte – oder jedenfalls war er der Wahrheit viel näher als diejenigen, die ihn verspotteten.“ Dawkins’ formal zu starke Ablehnung der Astrologie (‚absurd‘ statt nur ‚falsch‘) wirkt vor diesem Hintergrund naiv; es entsteht zudem bei seinen Ausführungen bisweilen der Eindruck, als wähne er uns schon am Ende der Entdeckungsgeschichte.

An Stellen wie dieser wird ferner deutlich, dass Dawkins gut daran täte, die These der durch ihn selbst angeregten Memetik ernst zu nehmen, nach der auch Ideen (‚Meme‘) einer Art Evolution unterworfen seien: Glaubenssysteme ohne Reiz für ihre Anhänger würden nicht lange Bestand haben, sondern der natürlichen Selektion zum Opfer fallen und vergessen werden. Auch wenn das über ihren wissenschaftlichen Gehalt selbstverständlich überhaupt nichts aussagt, war und ist die Astrologie offenbar in diesem Sinne evolutionär erfolgreich. Indiz für eine Falschdarstellung der Mythen-Meme durch Dawkins mag es daher durchaus sein, dass die Abwertung, die sie durch ihn erfahren, ihrer faktischen Beständigkeit schlicht nicht genügend Rechnung trägt.

Mentalisten und Zauberkünstler, die nicht explizit zugeben, dass sie Tricks verwenden, sind für Dawkins „Betrüger (ein gutes Wort für sie ist ‚Scharlatane‘)“. Damit unterstellt er auch all jenen, die wirklich daran glauben, übernatürliche Kräfte zu haben, eine vorsätzliche Täuschungsabsicht. „Falsche Erinnerungen [hier: bezüglich Entführungen durch Außerirdische] können einem Menschen aber auch von skrupellosen ‚Therapeuten‘ eingegeben werden.“ Selbst die Opfer solcher Betrüger seien (denk-) „faul“ und generell „unehrlich“.

Insgesamt stellt Dawkins Andersdenkende auf unverschämte, anmaßendste Weise unter Generalverdacht: „Häufig gründen Männer nur deshalb Sekten, damit sie sich an die weiblichen Anhänger heranmachen können.“ Dieser konkrete Vorwurf ist umso haarsträubender, weil gerade der Fall, in dessen Zusammenhang er ihn erhebt, eine solche Erklärung – wie er sogar selbst anführt – nicht zulässt: Der fragliche Sektenführer habe sich kastrieren lassen, „Sex stand bei ihm also vermutlich nicht im Vordergrund“. In Hinblick auf derartige, immer mitschwingende oder gar explizit gemachte Vorwürfe gegen einen verzerrt dargestellten Gegner mag das Buch daher durchaus als Hetzschrift gelten: ‚Wissenschaft gut, Rest dumm und böse!‘

Fehler und Sprachverwirrungen

Den Wert der von Ihm angesprochenen Wissenschaften mindert seine überzogene Ablehnung des Nichtwissenschaftlichen selbstverständlich nicht. Doch selbst ohne seine voreingenommenen und gezielt voreinnehmenden Kapiteleinleitungen zu den Mythen wäre das Buch eine Sammlung mäßig solider Kurzerklärungen natürlicher Gegebenheiten. Mäßig gut wäre sie mindestens, da sich immer wieder kleine sachliche Fehler einschleichen. So bedeutet „Carnivora“ zwar wörtlich ‚Fleischfresser‘, die entsprechende biologische Ordnung heißt im Deutschen allerdings „Raubtiere“ (und ironischerweise ernähren sich nicht alle Carnivora von Fleisch). Nicht bloß ein Übersetzungsfehler sondern direkt der englischen Vorlage entnommen ist die Rede von „16 Arten aus der Familie der Pferde (Pferde, Zebras, Tapire und Nashörner)“. Doch Nashörner sind partout keine Pferde: Korrekt wäre es, von 17 Arten aus der Ordnung der Unpaarhufer zu sprechen, welche die drei Familien Pferde (inklusive Zebras), Tapire und Nashörner umfasst.

Wiederholt verliert Dawkins – wie schon in vielen seiner früheren Publikationen – den Überblick über seine eigenen Metaphern: Auf der einen Seite besteht er strikt auf der Reduzierung von Lebewesen auf ihre Rolle als Gen-Behältnis, auf der anderen erzählt er in „Die Lebensgeschichte eines Sterns“ unbekümmert von dessen „Geburt“, „Leben“ und „Tod“, spricht von „Babysternen“ und „Sternenzoos“. Wenn Mythen unwissenschaftliche Märchen sind, die man sich erzählt, um sich etwas verständlich zu machen, dann verlässt Dawkins mit seinem Sternenmärchen wohl den Bereich der Wissenschaften, für die, wie er selbst sagt, gilt: „Wir haben es nicht nötig, uns haarsträubende Geschichten auszudenken“.

Mit Feststellungen wie „Die natürliche Selektion drängt die Evolution in eine nützliche Richtung: in Richtung Überleben.“ sagt er eigentlich nichts anderes als: ‚Selektion ist Selektion ist Selektion.‘ Seine Ausdrucksweise ist lediglich blumiger und – insofern der Evolutionsfaktor ‚Selektion‘ die Evolution durchaus nicht ‚drängt‘ – metaphorischer. Dabei wird außerdem verschleiert, dass der Ausdruck ‚Selektion‘ ohnehin immer schon das Überleben einiger Subjekte impliziert (sonst wäre es eine ‚Auslöschung‘) und die Rede von ‚nützlich‘ bloß eine erneute, wenngleich nun bewertende Reformulierung desselben Sachverhalts darstellt.

Dawkins scheint seiner eigenen Metaphorik erneut auf den Leim zu gehen, wenn er die folgende schlicht unsinnige Frage stellt: „Sind die Autoimmunkrankheiten vielleicht ein Anhaltspunkt dafür, dass die Evolution ständig an wirksamen Waffen gegen Krebs arbeitet?“ Immerhin ist ‚Evolution‘ bei ihm definiert als die zumindest in der Rekonstruktion zielgerichtet erscheinende Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population aufgrund von Variation und Selektion. Insofern ist es definitionsgemäß wahr, dass – um hier seine metaphorische Ausdrucksweise aufzugreifen – ständig bessere Waffen entwickelt werden. Definitorische Wahrheiten bedürfen aber nicht des Belegs durch „Anhaltspunkte“.

Ärgerlich oder zumindest unnötig sind auch sprachliche Unsauberkeiten wie die folgenden. Ein Regenbogen „ist eine Illusion, allerdings eine faszinierende“: Ein Regenbogen ist ein realer optischer Effekt – und genauso wenig eine ‚Illusion‘ wie etwa ein Spiegelbild. „Übrigens versucht jeder Regenbogen zu einem vollständigen Kreis zu werden, in dessen Mittelpunkt unser Auge steht“: Nicht nur versucht ein Regenbogen gar nichts, sondern das ihn sehende Auge liegt auch immer außerhalb seiner Kreisebene. „Eine Flüssigkeitsmenge behält anders als die gleiche Gasmenge stets ein festes Volumen bei und wird von der Schwerkraft nach unten gezogen: Es [sic!] füllt den Behälter vom Boden aufwärts nur so weit, wie es notwendig ist.“ Wird Gas nicht ‚nach unten gezogen‘? Wie ist ‚notwendig‘ hier zu verstehen? An die entsprechende Stelle im englischen Originaltext lassen sich analoge Fragen richten.

Dawkins glaubt, dass er wüsste, was er nicht weiß

Während Dawkins bei der Erklärung, warum Sonnenstrahlen im meteorologischen Winter nicht so stark wärmen wie im Sommer, einen der Hauptfaktoren schlicht zu erwähnen vergisst, gibt er sich bezüglich der Teilchenphysik ganz ausdrücklich bescheiden: Von Quarks solle „in diesem Buch nicht die Rede sein, aber nicht, weil ich glaube, dass du es nicht verstehst, sondern weil ich es nicht verstehe! Wir begeben uns hier in ein rätselhaftes Wunderland. Und es ist wichtig, dass man erkennt, wann man die Grenzen des Wissens erreicht hat. Das heiß nicht, dass wir diese Dinge nie verstehen werden. Das wird sicher irgendwann gelingen, und die Forschung läuft auch bereits auf Hochtouren. Manche Wissenschaftler verstehen zumindest schon ein wenig von diesem Wunderland des Allerkleinsten, aber ich gehöre nicht dazu. Ich kenne meine Grenzen.“ Auch bezüglich der Kosmologie räumt er ein: „Manche Wissenschaftler erklären, auch die Zeit habe mit dem Urknall begonnen, und deshalb sollten wir nicht fragen, was vor dem Urknall geschah – genau wie wir nicht fragen, was nördlicher ist als der Nordpol. Das verstehst du nicht? Ich auch nicht.“

Diese Bescheidenheit mutet zwar ehrlich an, mit ihr führt Dawkins jedoch seinen eigenen Erklärungs- und Wissenschaftsansatz ad absurdum. Schließlich besteht er andernorts darauf, dass die Geltung wissenschaftlicher Thesen für prinzipiell jeden verständlich sein muss und nicht auf Autoritäten beruhen darf – dies muss in Hinblick auf Physiker genauso gelten wie für Gurus, Swamis und Propheten: ‚Rätselhafte Wunderländer‘ können kein Arbeitsgebiet für Wissenschaftler sein! Wer einwenden möchte, dass man Dawkins an dieser Stelle doch ein wenig sprachliche Freiheit einräumen kann, möge sich klar machen, dass es sein ureigenster Verhaltenskodex ist, gegen den er mit seinen misslungenen Ausführungen verstößt. Übrigens ist der Nordpol-Vergleich gänzlich unangebracht, denn egal ob man die Erde als Kugel oder als Scheibe ansah: Im Unterschied zur Zeit-Achse wurde die Nord-Süd-Achse immer schon als endlich aufgefasst. Dass man nur endlich weit nach Norden gehen kann, ist also begriffsimmanent, dass hingegen die Zeit einen Anfang haben soll, widerspricht unserem Zeitbegriff.

Nichtwissenschaftliche Ursprungsmythen findet Dawkins „ein wenig enttäuschend: Sie gehen davon aus, dass es schon vor der Entstehung des Universums irgendein Wesen gab […]. Sollte man nicht annehmen, dass das Universum zuerst da gewesen sein muss und einen Ort bot, an dem ein Schöpfergeist arbeiten konnte? Kein Mythos erklärt uns, wie der Schöpfer des Universums selbst (in der Regel ein Mann) entstanden ist.“ Die Alternative, die er dem aber entgegenstellt, ist in der Art, wie er sie vorstellt, eine epistemologische Bankrotterklärung, insofern nichts erklärt, sondern ein unverstandener Sachverhalt bloß festgestellt wird: „Nach den heutigen Modellen nahm [mit dem Urknall] nicht nur das Universum selbst seinen Anfang, sondern auch Raum und Zeit. Erklären kann ich das nicht – ich bin kein Kosmologe und verstehe es selbst nicht.“

Es muss hier keine kosmologische Debatte geführt werden, um festzuhalten, dass dies im Widerspruch zu seinem eigenen kausalistischen Weltbild steht: „Alles geschieht aus einem Grund – Ereignisse haben Ursachen, und die Ursache liegt stets vor dem Ereignis.“ Wenn man ihn ernst nimmt, müsste also die sich aufdrängende Frage, wie und wieso es überhaupt zum Urknall kam, eine zulässige sein – und die Antwort darauf bleibt er selbstverständlich schuldig.

Die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest

Derartige Ungereimtheiten wiegen umso schwerer wenn man bedenkt, dass er sich schon auf Seite 17 von „Der Zauber der Wirklichkeit“ berechtigt sah festzuhalten: „Nun haben wir geklärt, was Realität ist und wie man herausfindet, ob etwas existiert oder nicht.“ Nach nur acht Textseiten meint er also, eine der ältesten erkenntnistheoretischen Fragen überhaupt beantwortet zu haben – und das ausgerecht mit einer naiven, dabei unbestimmten Form des Sensualismus: „Was Wirklichkeit ist, [hängt] immer irgendwie von unseren Sinnesorganen ab.“ Mängel einer derartigen Auffassung wurden indes bereits von Gottfried Wilhelm Leibniz oder Baruch de Spinoza aufgezeigt, und angeregt durch die Theoretische Physik sinniert auch Dawkins selbst später inkonsequenterweise: „Möglicherweise gibt es noch andere Universen, die für unsere Sinne und Instrumente unzugänglich sind.“

In dem Sinne, in dem er mit dieser These Recht haben könnte, überschreitet er die selbst gesetzten Grenzen der empirischen Wissenschaften – obwohl er doch verschiedentlich konstatiert, dass sich über den jenseitigen Bereich nichts Sinnvolles mehr sagen lässt beziehungsweise dass es überhaupt keinen jenseitigen Bereich gebe. In diesem Fall wäre Dawkins' Botschaft eine metaphysische. Er selbst würde seine Ausführungen aber sicherlich lieber als wissenschaftstheoretische Botschaft verstanden sehen. In diesem Fall müsste aber die fragliche These als unsinnig angesehen werden und generell wären seine Vorbehalte gegen das Nichtwissenschaftliche dann bloße definitorische Notwendigkeiten – somit aber eben trivial und ebenso spannend wie die Feststellung: „Nicht-q ist nicht q.“

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: „Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr wird einem klar, dass bereits die Grundidee ‚Wunder‘ Unsinn ist. Wenn etwas geschieht, das scheinbar mit Wissenschaft nicht zu erklären ist, kann man mit Sicherheit eines von zwei Dingen annehmen. Entweder es ist nicht wirklich geschehen (der Beobachter hat sich geirrt, hat gelogen oder wurde hereingelegt), oder wir haben eine Lücke in unserem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand entdeckt.“ Die Ablehnung, die er hier formuliert, ist eine definitorische: Es wird nicht wissenschaftlich gezeigt, dass es keine Wunder gibt, sondern dies wird als Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens vorausgesetzt. Damit sagt Dawkins aber nichts über ‚die Welt‘ aus, sondern allein über sein Weltbild.

Ironischerweise hatten einige der von ihm hoch gelobten Wissenschaftler, in deren Folge er sich gerne sieht, ganz andere Ansichten: Isaac Newton, den er im Buch gleich zweimal ausdrücklich einen „der größten Wissenschaftler aller Zeiten“ nennt, war immerhin nicht nur gläubiger Christ, der sich von Gott erleuchtet sah, sondern auch überzeugter Okkultist, Alchemist und Weltuntergangsprophet. Das schmälert nicht Newtons Ansehen oder seine wissenschaftliche Leistungen, wirft aber die Frage auf, ob Dawkins’ dogmatischer atheistischer Naturalismus wirklich so grundlegend für die wissenschaftliche Forschung ist, wie er es behauptet.

Als Fazit bleibt: Wer ‚nüchterne‘, dabei solide Erklärungen für Kinder und Jugendliche sucht, ist mit einem ‚Was ist was‘-Buch weitaus besser bedient als mit „Der Zauber der Wirklichkeit“. Dem Ziel, junge Leser zu unterstützen, sich ihres Verstandes ohne geistige Bevormundung eines anderen bedienen zu lernen, anstatt sich ein Thema inklusive seiner moralischen Bewertung gleichsam vorkauen zu lassen, dürfte die Dawkins-Lektüre sogar abträglich sein. Denn was Dawkins anderen nachsagt, mag grundsätzlich auch für ihn gelten: „Es ist erstaunlich, wie oft Menschen solchen Unsinn daherreden.“

Titelbild

Richard Dawkins: Der Zauber der Wirklichkeit. Die faszinierende Wahrheit hinter den Rätseln der Natur.
Ullstein Verlag, Berlin 2012.
270 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783550088506

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