Der Dadaist als Wissenschaftler und Erfinder

Arndt Niebisch präsentiert eine Auswahl aus Raoul Hausmanns wissenschaftlichen Schriften

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Erinnerung geblieben ist Raoul Hausmann vor allem als umtriebiger Protagonist der Berliner Dadaisten-Szene seit ihrer von Richard Huelsenbeck betriebenen Gründung im Jahre 1918. Was sich vor allem im Dadaistischen Manifest als aggressiv-provokanter Schlachtruf der Berliner Dependance der avantgardistischen Internationale mit Zentralen in Zürich und Paris behauptete, hatte aber, wie dieser Band eindrucksvoll zeigt, nur am Rande mit Hausmanns Anliegen und weiterer Entwicklung zu tun.

Entgegen dem futuristischen Vorbild eines Marinetti oder der Rolle von Handlungsreisenden der Avantgarde, wie sie Huelsenbeck oder Tristan Tzara ausfüllten, findet sich in Hausmanns Œuvre und Lebensweg eine Besonderheit, die allenfalls noch mit Hugo Balls Konversion zu vergleichen ist. Denn Hausmann mag zwar in seinem manifestantischen Text „PRÉsentismus. Gegen den Puffkeïsmus der teutschen Seele“ (1921) die „ewigen, nörglerischen Analysen und Bagatellen der deutschen Seele“ in einem dem Dadaisten eigenen Ton des Bürgerschrecks angegriffen haben, jedoch zeigt sich schon an dieser Stelle, dass seine Interessen woanders liegen: „Wir wollen […] endlich den Aspekt einer Welt, die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie“. Und weiter: „Vergegenwärtigen wir uns, daß allen unseren Sinnen beigemengt […] der Tastsinn ist, […] dessen Emanationen als exzentrische Empfindungsfähigkeit über die 600 Kilometer Dunsthülle der Erde als geschleuderter Blick hinauswandern zum Sirius“ – was sich hier zeigt, mag dem heutigen Leser als krude Metaphysik erscheinen. Eben diesen Eindruck zu korrigieren, jene Diskurse und Diskursnetzwerke, die solche Aussagen einst (para)wissenschaftlich legitimierten, nachzuzeichnen, nimmt sich die vorliegende Auswahl aus Raoul Hausmanns wissenschaftlichen und technischen Schriften vor. Damit entstand auch ein Bild des Dadaisten als Teilnehmer an den (wenn auch partiell randständigen) wissenschaftlichen Strömungen und Debatten der 1920er-Jahre.

Arndt Niebisch, der die Edition und Kommentierung der größtenteils unveröffentlichten oder seit Jahrzehnten schwer zugänglichen Schriften und Notizen Hausmanns aus dem Raoul-Hausmann-Archiv der Berlinischen Galerien vornahm, stellte sich einer großen Herausforderung: Nicht nur galt es, aus verstreuten Bemerkungen, fragmentarischen Notizen und privaten Korrespondenzen eine repräsentative und in sich schlüssige Auswahl zu treffen, auch sind viele von Hausmanns wissenschaftlichen Bezugspunkten längst auf den Abraumhalden des überholten Wissens, der überlebten Thesen gelandet. Ob nun Hanns Hörbigers volksgermanisch aufgeladene Welteislehre, Ernst Marcus’ Thesen zur haptischen Qualität aller Wahrnehmung oder Karl Koelschs Arbeiten zum „spiereligen Wesen der Wellen“ – den Leser von heute stellen Theorie und Terminologie dieser in den 1910er- und 1920er-Jahren durchaus populären Entwürfe vor gewisse Verständnisschwierigkeiten. Niebisch gelingt in seiner Einführung die Erschließung dieser Bezugspunkte ausgesprochen gut; Koelsch, Marcus und Hörbiger werden in ihren eigenen Theoriegebäuden wie auch in ihrem Einfluss auf Hausmann vorgestellt.

So ausgestattet kann sich der Leser Hausmanns „,optophonetischen‘ Weltanschauung“ nähern, die, in Niebischs Worten, darauf zielt, „kosmologische Vorgänge, moderne Medientechnologie und das menschliche Leben in Einklang miteinander“ zu bringen. Dies ist aus Hausmanns Perspektive dadurch möglich, dass Ton, Licht und Elektrizität gleichermaßen auf Schwingungen im Äther basieren und damit ineinander übersetzbar seien: „Die Aufgabe von Kunst und Medientechnologie sei es, diesen Zusammenhang aufzudecken und das menschliche Sensorium so zu schulen, dass es diese Transformationen bewusst erleben kann.“ (Niebisch) Während Niebisch in seinem Kommentar im Sinne einer Medienarchäologie den Schwerpunkt auf medientechnologische und kulturtechnische Implikationen dieser Weltsicht legt, zeugen Hausmanns Texte auch von einer Art sensorischem Holismus, dem die mythoiden Potentiale seiner quasiwissenschaftlichen Gewährsmänner nicht fern sind. So lässt sich in seinem „Versuch einer kosmischen Ontographie“ (1922-1923), diesem zentralen Text zur Darlegung seiner Weltsicht, lesen: „Was ist nun Sehen? Das Eindringen der Kraftemanationen in unseren Leib und das Wiederhinausschleudern in den Raum durch das Auge.“

Und über die Sonne heißt es, sie stelle „den Ausgangspunkt eines Kraftgebildes von wechselnder Gestalt, eines leibhaften, universalen Organismus dar, der sich in sich zusammenzieht und wiederausdehnt“. Das ‚kosmische Atmen‘ aus Kontraktion und Expansion der Sonne ist für Hausmann wie für Karl Koelsch, auf dessen Thesen er sich stützt, nicht nur Beschreibung makro-, sondern auch mikrokosmischer, subatomarer Prozesse. Die organische ‚Hintergrundmetaphorik‘ rückt gänzlich in den Vordergrund, wenn Hausmann beispielsweise gegen die Mathematisierung der Welterkenntnis polemisiert: „Nicht eine einzige Formel der Mathematik ist fähig, Wesentliches der organischen Weltvorgänge, als Zeit, Raum, Masse, Wärme, Licht, Bewegung auszudrücken – es bleibt immer ein Rest, der […] gerade das Allerwesentlichste darstellt.“ Ganz im Geiste der zeitgenössischen Lebensphilosophie wird die „verzweiflungsvolle Täuschung“ durch die Zahl, diesen „Ausdruck eines starren, unbeugsamen, unbiegsamen Denkgesetzes“ verurteilt.

Mit Blick auf solche Polemiken mag der zweite große Teil des Buches überraschen: In seinen technischen Schriften (wie auch schon in seiner im Band ebenfalls dokumentierten Kritik an der – ihn durchaus faszinierenden – Welteislehre) zeigt sich Hausmann als Kenner vor allem der Optik und Elektrotechnik – und als (mehr oder minder erfolgreicher) Erfinder. Hier erweist sich der Titel des Bandes – „Dada-Wissenschaft“ – als werbetechnisch wirksame Fehlbenennung: Denn Hausmanns Kenntnisse der Physik und Ingenieurswissenschaften setzten sich, ganz pragmatisch, im Entwurf von praktischen, nützlichen, potentiell gewinnbringenden Erfindungen um. Niebisch konzentriert sich in seiner Auswahl auf die Dokumentation des „Verfahrens zur fotoelektrischen Schaltung von Rechen- Zähl- Register- und Sortiermaschinen“, das Hausmann zusammen mit dem Ingenieur Daniel Broïdo entwickelte und (letztlich erfolglos) als Patent anzumelden trachtete. Ein besonderes Faszinosum stellt die Lektüre des umfangreichen Briefverkehrs zwischen Hausmann, Broïdo und dem Patentanwalt Fritz Warschauer dar. Hausmann zeigt sich getrieben von einem starken Wunsch nach Anerkennung seines originären Beitrags zur Erfindung: Seitenweise rekonstruiert Hausmann den Prozess, der zur Idee, zur Konzeption eines funktionierenden Entwurfs, zur Lösung bestehender technischer Probleme führte, immerzu bemüht, seine Eigenleistung herauszustellen, als geistiger Vater der Erfindung akzeptiert zu werden.

Der Bohèmien Hausmann changiert zwischen Kleinlich- und Sachlichkeit, antikapitalistischer Geste und einem – psychologisiert formuliert – eitlen, ‚kleinbürgerlichen‘ Tonfall: Auf detaillierteste Rekonstruktionen der Gespräche und Aussagen, die Hausmanns Beitrag deutlich herausstellen sollen, folgen emphatische Beschwörungen der gemeinsamen antibürgerlichen Identität: „Wir sind doch beide schliesslich ausgewachsene Männer, und haben, besonders weil wir Socialisten sind, nicht nötig, einander Konkurrenz zu machen.“

Auf dem Höhepunkt des Konflikts heißt es dann nur noch apodiktisch: „Ich habe Dir nur mitzuteilen, dass ich strikte [sic] wünsche, dass Du jedem Menschen gegenüber, sei dies Deine Mutter oder Sanja, oder sonst jemand, zu sagen hast, dass die Erfindung eine gemeinsame ist.“ Die Anerkennung der Urheberschaft würde Hausmann, dem Amateur der Wissenschaften und Technik, die Anerkennung in ebendiesen Bereichen verschaffen. Diese Korrespondenz über rund hundert Seiten zu verfolgen, wirft ein anderes Licht auf einen Autor, der noch 1920 als Aufgabe des Dadaismus definierte, die „moralisch-pharisäische Bürgerwelt mit ihren Mitteln zu zerschlagen“.

Arndt Niebisch ist es mit dem sorgsam und klug editierten Band gelungen, eine fast vergessene Seite an Raoul Hausmann in den Vordergrund treten zu lassen. Der Leser, dem die Wissenschaftsdiskurse der Weimarer Republik unbekannt sind, erhält von Niebisch eine konzentrierte Einführung, die garantiert, dass Hausmanns Thesen („Gewiss erkennen wir Gestirne auch nur, weil seit Jahrmillionen unablässig feinste Teile von ihnen zu uns gelangen“) nicht nur als krude Gedankenspielereien einer physikfremden Künstlernatur wahrgenommen werden. Zu kritisieren gibt es an diesem Band wenig; er stellt weder den Vollständigkeitsanspruch noch will er als „historisch-kritische Aufbereitung des Materials“ gelesen werden, sondern als „Versuch, dem Leser Hausmanns Texte zu erschließen“. Gerade in dieser Zielrichtung ist höchstens das Fehlen eines Glossars zum schnellen Nachschlagen bestimmter Fachbegriffe aus Optik, Fototechnik oder „Spiereltheorie“ zu beanstanden. Dennoch wird der Band seinem Anspruch, Hinführung und Einführung zu sein, durchgehend gerecht. Und für die tiefergehende, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hausmanns Œuvre bleibt weiterhin der Besuch im Raoul-Hausmann-Archiv unverzichtbar.

Titelbild

Raoul Hausmann: Dada-Wissenschaft. Wissenschaftliche und technische Schriften.
Herausgegeben von der Berlinischen Galerie.
Philo Verlagsgesellschaft, Hamburg 2010.
430 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783865726575

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