Der ‚transnationale Körper‘ als Kampfplatz

Oskar Panizzas antisemitisches Panoptikum in „Der operirte Jud‘“

Von Ariane TotzkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ariane Totzke

Oskar Panizzas Erzählung „Der operirte Jud“, erschienen 1893 in der Textsammlung „Visionen“, zählt zu den gröbsten Auswüchsen antisemitischer Demagogie, die die deutsche Literaturlandschaft hervorgebracht hat. Der Text wurde 1927 durch die Nazis funktionalisiert und im „Völkischen Beobachter“ abgedruckt. Umso erstaunlicher ist es, dass Panizzas Groteske in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kaum Beachtung gefunden hat. Bekannt wurde Oskar Panizza, der zeitweise auch als Arzt und Psychiater gearbeitet hat, vor allem durch spektakuläre Literaturskandale. 1895 verbüßte er eine Gefängnisstrafe wegen Blasphemie. Grund hierfür war sein 1894 veröffentlichtes Hauptwerk „Das Liebeskonzil“, eine satirische „Himmelstragödie“, in der christlich-katholische Glaubensvorstellungen im Kontext des Sittenverfalls unter dem Borgia-Papst Alexander VI. beispiellos verunglimpft werden.

Panizzas schriftstellerische Attacken auf den wilhelminischen Obrigkeitsstaat und die katholische Kirche brachten ihm die Sympathien jüdischer Linksintellektueller wie Kurt Tucholsky und Walter Benjamin ein. Tucholsky bezeichnet ihn in einem 1920 erschienen Essay als „de[n] frechste[n] und kühnste[n], de[n] geistvollste[n] und revolutionärste[n] Prophet[en] seines Landes, […] gegen den Heine eine matte Zitronenlimonade genannt werden kann“. Trotz dieser Allianzen muss betont werden, dass Panizza keinesfalls ein liberaler Intellektueller war. Gesellschaftshass und Misanthropie bezogen sich bei ihm gleichermaßen auch auf Juden, die für ihn eine die Gesellschaft und das Christentum ‚zersetzende Kraft‘ darstellten.

In zwei Artikeln – „Ueber Selbstmord“, gedruckt in den „Modernen Blättern“ 1891, sowie „Bayreuth und die Homosexualität“ (1895) – äußert Panizza im typisch antisemitischen Jargon Richard Wagners und Werner Sombarts rassistische Topoi wie die stereotype Vorstellung von einer körperlichen sowie geistigen Versehrtheit der Juden, die mit einer Disposition zur Homosexualität und zur Emotionslosigkeit einhergehe.

Der auch in seinen literarischen Texten plump inszenierte Rassismus gibt zwar keine großen Rätsel auf, doch verrät uns Panizzas antisemitisches Panoptikum eine Menge darüber, wie hegemoniale Nationalitätsdiskurse auf dem ‚Körper‘ exkludierter Minderheiten ausgetragen werden. Die satirische Groteske „Der operirte Jud‘“ verbindet antisemitische Hetze mit unverblümter Kritik an der obrigkeitsgläubigen wilhelminischen Gesellschaft, die ihre Bürger durch Körper- und Rassen-Axiome zu domestizieren sucht. Hier rückt gerade ‚der Jude‘ ins Zentrum der Betrachtung, denn an ihm, der nicht „mit“, sondern „in“ den Deutschen „zu leben sich entschlossen hat“ – wie Richard Wagner in seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ die ‚parasitäre‘ Mimikry der Juden beschreibt – lässt sich ‚Rasse‘ als eine konstruierte Kategorie sozialer Ordnung entlarven. Die anatomischen Zeichen einer ‚jüdischen‘ Andersartigkeit werden über den herrschenden Machtdiskurs festgeschrieben, verallgemeinert und ‚erkennbar gemacht‘, so dass Assimilation für die von diesen Zuschreibungen betroffenen Personen unmöglich wird. Hautfarbe, Gesichts- und Nasenform, Körpergröße, Haarstruktur und -farbe werden katalogisiert, Abweichungen von der Norm als ‚Entartung‘ klassifiziert. ‚Der Jude‘ wird durch den panoptischen Blick der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft zum Abjekt. Die Unangepasstheit und obszöne Grenzenlosigkeit eines ‚monströsen‘ (jüdischen) Körpers dient als Negativfolie für den im Wilhelminismus geprägten militärischen Körper der deutschen Nation.

Besonders in literarischen Texten um 1900 wird der jüdische Leib im Bachtin’schen Sinne als ein grotesker inszeniert, wie Yahya Elsaghe in seiner Studie „Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das Deutsche“ (2000) nachgewiesen hat. Ähnliches lässt sich auch für Panizzas Erzählung aufzeigen: Der jüdische Protagonist, Itzig Faitel Stern, ein „grauenhaftes Stück Menschenfleisch“, wie ihn der Ich-Erzähler ‚liebevoll‘ nennt, wird durch die ‚wissenschaftlich‘ motivierten Bemühungen eines Professors Klotz zum deutschen Idealbürger umoperiert. Mit diesem Thema rekurriert Panizza offenkundig auf einen neuen Wissenschaftszweig der Medizin, die Schönheitschirurgie, die am Ende des 19. Jahrhunderts ihren historischen Anfang nahm. Der Arzt Julius Wolff, ein Pionier auf dem Gebiet der rekonstruktiven Orthopädie, machte ebenso von sich reden wie sein Schüler Jacques Joseph, der aufgrund experimenteller Schönheitsoperationen seine Anstellung an Wolffs „Provisorischer Poliklinik für orthopädische Chirurgie“ in Berlin verlor.

Joseph, selbst ein „stark akkulturalisierter junger deutsch-jüdischer Chirurg“, wie Sander L. Gilman in seiner Studie „Die jüdische Nase: Sind Juden/ Jüdinnen weiß? Oder: Die Geschichte der Nasenchirurgie“ (2005) aufzeigt, etablierte die operative Praxis der Nasenkorrektur und löste damit in Deutschland und Österreich eine ‚manische Operationssucht’ aus. Von Kollegen und Öffentlichkeit ironisch „Nasenjoseph“ beziehungsweise „Noseph“ genannt, verhalf er vor allem auch seiner jüdischen Klientel, die stigmatisierte ‚Judennase‘ verschwinden zu lassen.

Auch Panizzas Protagonisten geht die ‚Judennase‘ operativ verlustig. Itzig Stern, der dem Stereotyp des lächerlichen ‚Geldjuden‘ entspricht, ruft bei jeder ihm vorgeschlagenen chirurgischen Prozedur freudig aus: „ich beßahl’s, ich beßahl’s“, „ich beßahl mei neie Statür“. Da werden Knochen gebrochen, Korsette angelegt, die Gliedmaßen gestreckt und gezogen, das Nackenband wird durch „blutige Operation“ verkürzt, die „weizengelbe“ Gesichtsfarbe weicht einem feinen „pastösen Bleiteint“, und die „verdächtig“ nach Schweiß riechenden „Sechserlöckchen“ werden durch „englische Waschungen“ in ein prachtvolles Goldblond verwandelt. Zahlreiche deutsche Spezialisten werden mit dem Fall betraut, so ein „berühmte[r] Tübinger Linguist“, der dem Untersuchungsobjekt das Jiddeln austreiben soll, ein „Heidelberger Physiologe“ und ein „hannoveranische[r] Hofmeister“, dessen „hell-näselnde, klirrende Sprechweise“ Itzig wochenlang nachsprechen muss.

Dass jene Prozeduren und Lektionen eine Unmenge an Faitels ‚jüdischem Kapital‘ verschlingen, versteht sich von selbst. Schlussendlich scheint das „Menschenwerk“ fast vollbracht, wenn Itzig alias „Siegfried Freudenstern“ als hannoveranischer Gutsbesitzers-Sohn in die feinsten Kreise der deutschen Gesellschaft aufsteigt. Freudig resümiert der Ich-Erzähler den augenscheinlich geglückten Performanz-Akt: „Ja, was Pomade, Schminke, weiße Steif-Leinwand, einige Meter Kammgarn, Wattons und etwas Lackleder an einem Menschen herzustellen vermögen, das war an Faitel geschehen“.

Die deutsch-jüdische ‚Mogelpackung’ überzeugt – zumindest auf der Oberfläche. Wie aber sieht es „innerlich“ aus? „Hat Faitel eine Seele?“, fragt der Erzähler weiter und knüpft damit an den von Werner Sombart, Otto Weininger und vielen anderen vertretenen antisemitischen Diskurs über die biologische Vererbung „rassischer Eigenschaften“ an. Da „der Sitz der Seele […] das Blut“ sei, äußert Itzig beherzt, „kaaf ich mer ä christlich’s Bluth“. Mittels „Transfusionen“ werden sodann „mehrere kräftige Schwarzwälderinnen“ zur Ader gelassen und deren deutsche ‚Säfte‘ in ‚den Juden‘ gepumpt.

Itzig Faitel Stern, nun durch und durch verwandelt, ist zwar tagsüber „im europäischen Corset“ eingeschnürt; wenn jedoch nachts der panoptische Blick der Gesellschaft aus dem Schlafgemach verbannt ist, bricht die „pfälzisch-jüdische Sündflut“ unkontrolliert aus seinem operierten Leib hervor. In einem fiebrigen Wahn befangen, quellen ihm die Augen aus den Höhlen, und Schaum trieft aus seinem Mund – ‚das Jüdische‘ läuft also gewissermaßen über, aus der maßgeschneiderten ‚arischen Hülle‘ heraus, womit das Scheitern des ‚Domestizierungsakts‘ am Ende der Erzählung bereits vorweggenommen wird. Faitel, der mit einer armen, „aber schöne[n], flachshärige[n]“ Beamtentochter namens „Othilia Schnack“ verheiratet werden soll, hält der Hochzeitsfeier nicht mehr Stand. Die doppelt kritische Stoßrichtung der Erzählung, die auf die Minderheit ebenso wie auf die Mehrheitsgesellschaft abzielt, manifestiert sich bereits in der sprechenden Namensgebung. Der Familienname „Schnack“ gibt über Wortassoziationen wie Schnickschnack, Schnackeln, Schnacken oder Schnackseln das preußische Beamtentum der Lächerlichkeit preis. Auf der Vermählungsfeier bricht der ‚performierte‘ jüdische Körper dann endgültig auf. Itzig Faitel Siegfried (Freuden-)Stern erleidet eine vollständige Entäußerung. Ausgelöst durch regen Alkoholkonsum spritzt das ‚ewig Jüdische‘ in Form von Ausscheidungen aller Art (im Sinne der Bachtin’schen „Akte des Körperdramas“) aus allen Körperöffnungen auf das bürgerliche Parkett.

Der jüdische Körper wird in Panizzas Erzählung zum ‚transnationalen‘ Raum; zum Kampfplatz für gesellschaftliche In- und Exklusionsstrategien. Assimilationsstreit und Judenfrage werden auf dem Körper ‚des Juden‘ ausgetragen, der die hegemonialen Ordnungsmuster sozusagen absorbiert und ihnen schlussendlich nicht mehr standhält, so dass ein detonierter Leib zurückbleibt; ein Trümmerhaufen, hergestellt durch die paternalistische Gesellschaft. Panizza funktionalisiert ‚den Juden‘, um an ihm die identitätsstiftende Performanz des deutschen Nationalstaates bloßzulegen. An der diskriminierten Minderheit verkörperlichen sich die Mechanismen der Aus- und Abgrenzung. „Der operirte Jud‘“ kann entsprechend als Karikatur ‚des Eigenen‘ gelesen werden, dass sich über das Fremde herstellt und stabilisiert. Dennoch wiederholt der Text die gängigen antisemitischen Stereotype der Zeit völlig ungebrochen und trägt zu ihrer Verbreitung bei, womit man ihn zu Recht als rassistische Satire klassifizieren kann.

Zugleich aber, und das muss betont werden, dekonstruiert die Erzählung auch sämtliche Instanzen der wilhelminischen Gesellschaft. Beamtentum, Wissenschaft und andere staatliche Institutionen sowie die kapitalistische Wirtschaftsordnung erscheinen in Panizzas Text als groteske Inszenierung, in der mechanisch gelenkte Marionetten des sich verselbstständigten Staatsapparats ein Lügentheater aufführen. Panizza selbst ist an seinem eigenen ‚Desillusionierungsimperativ‘ gescheitert. Nachdem er sich, von Wahnvorstellungen heimgesucht, 1904 eine „Dissozjazjon der Persönlichkeit“ diagnostizierte, wurde er 1905 gerichtlich entmündigt und in eine Heilanstalt eingewiesen. Michael Bauer interpretiert in seiner Studie „Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt“ den Gerichtsprozess gegen den „zum Wilhelminischen Kaiserreich in Opposition getretenen Schriftsteller“ als „politisch motiviert“. Allein auf diese Weise, durch panoptische Verwahrung, konnte sich der Staat offenbar des lästigen Querulanten entledigen – also genau durch diejenige Strategie, gegen die Panizza sich zeitlebens zur Wehr gesetzt hatte, die er literarisch aber dennoch mitinszenierte.