Das Weib schweige in der deutschen Literatur!

Wieso Heinz Ludwig Arnold nicht mit Schriftstellerinnen sprechen wollte

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Aus der Stadtbibliothek brachte ich mir Heinz Ludwig Arnolds „Gespräche mit Schriftstellern“ mit – die beiden ersten von insgesamt drei MP3-CDs. Auf einem Cover ist Arnold im Gespräch mit Heinrich Böll, auf dem andern mit Peter Rühmkorf zu sehen. 40 Stunden Gespräche aus den Jahren 1970 bis 1979. Damals lebten Ingeborg Bachmann, Ingeborg Drewitz, Marieluise Fleißer, Christa Reinig, Mascha Kaleko und Marie Luise Kaschnitz noch – wie gerne hätte ich ein dreistündiges Gespräch mit ihnen gehört, wie wir es in Arnolds Sammlung etwa mit Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt serviert bekommen. Aber Fehlanzeige. Mit Frauen redete Heinz Ludwig Arnold anscheinend nicht. Auch in der dritten Tranche, die den Zeitraum 1979 bis 1999 umfasst, kommen keine Schriftstellerinnen zu Wort. Es konnte also nicht an der zeitbedingten Männerfixiertheit des bundesdeutschen Literaturbetriebs liegen, wie sie noch bis weit in die 1970er-Jahre vorherrschte. Bis 1999 hatte sich da in Sachen Frauenbewusstheit doch schon einiges getan, die Frauenbewegung war in den 1990er-Jahren sogar an der deutschen Männer-Uni angekommen. Aber nicht bei Heinz Ludwig Arnold, so scheint es.

Die einzige Frau, die in dieser Mammutveranstaltung zu Wort kommt, ist Christa Wolf, 11 Minuten lang. Er bedauert das, wie er im Kommentar notiert: „Leider hat sie sich einem längeren Gespräch mit mir immer wieder verweigert, was ich sehr bedauere. Vielleicht befürchtete sie, dass ich zu kritisch sein würde mit meinen Fragen. Sie war eben in der DDR und konnte nicht so frei reden, schon gar nicht für den Rundfunk. Andererseits hat es ihr wahrscheinlich widerstrebt, mit mir ein Scheingespräch zu führen.“

Vielleicht haben sich ihm auch die fehlenden Schriftstellerinnen „immer wieder verweigert“? Um mir darüber Klarheit zu verschaffen, fing ich an zu googeln – denn in den Beiheften zu den CDs fand ich dazu nichts, nur Kommentare zu den Gesprächen mit all den Männern.

Ich fand aber – trotz mehrstündiger Recherche – auch im Internet kein einziges Wort über die fehlenden Schriftstellerinnen. Nur Lobeshymnen über Arnolds Interviewkunst. Anscheinend ist es den Rezensenten nicht einmal aufgefallen, dass Arnold in über 60 Stunden Gesprächen nur elf Minuten lang mit einer Schriftstellerin geredet hat.

Arnold, der Begründer der Literaturzeitschrift „Text und Kritik“, starb 2011 mit 71 Jahren. Er gründete die Zeitschrift als junger Mensch im Jahre 1963, als ich mit meinem Studium anfing, und da ich sehr literaturbeflissen war, abonnierte ich seine Zeitschrift. Nach 12 Jahren habe ich sie abbestellt. Im Jahre 1975 war ich frauenpolitisch aufgewacht und mochte eine Zeitschrift für literarische Porträts, die in 12 Jahren, 45 Heften und 5 Sonderheften nur drei Frauen (Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs, Anna Seghers) der Mühe wert befand, mit meinem Geld nicht mehr unterstützen.

Inzwischen ist die Reihe bei Band 198 angekommen und hat sich noch folgende Bände zu Schriftstellerinnen abgerungen: Ilse Aichinger, Hannah Arendt, Veza Canetti, Marieluise Fleißer, Elfriede Jelinek, Irmgard Keun, Sarah Kirsch, Brigitte Kronauer, Else Lasker-Schüler, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Marlene Streeruwitz, Yoko Tawada, Grete Weil, Christa Wolf.

Macht ziemlich genau 9 Prozent. Als ich die Zeitschrift vor 38 Jahren abbestellte, lagen Frauen noch bei 6 Prozent. Da haben wir ja mächtig zugelegt! Aber: Schreiben deutsche Männer wirklich zehnmal besser als deutsche Frauen?

Bestimmt sehe ich das nach Feministinnenart alles zu verbissen. Der (Männer-)Literaturbetrieb und die (Männer-)Medien sind völlig anderer Meinung: Hier eine kleine Auswahl der Stimmen zu Arnold und seinem Werk und Wirken:

„Heinz Ludwig Arnold war einer der besten Kenner der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – und bis zu seinem Tod am 1. November 2011 ihr engagiertester Vermittler. Legendär sind seine ausführlichen Gespräche mit Autoren, die heute moderne Klassiker sind: Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Hildesheimer, Jurek Becker, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Martin Walser, Rolf Hochhuth, Peter Handke. Dieser Band stellt die aufschlussreichsten Gespräche zusammen, viele davon in Buchform unveröffentlicht – ein Gipfeltreffen der Literaten, ein Fest für den Leser“. (Der Verlag über die gebundene Ausgabe der Gespräche)

„Sehr gut und unnachahmlich in seiner Hingabe an Literatur war Heinz Ludwig Arnolds Wirken für eine komplette Schriftstellergeneration“. Florian Felix Weyh, 3.11.2012, dradio „Büchermarkt“

„Wer die Literaturgeschichte nach 1945 kennenlernen möchte …, der muss diese Gespräche hören“. – Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2011

„Nicht zuletzt zeugen diese Aufnahmen von einer fabelhaften Gesprächskultur … Sie sind für den Hörer ein intellektueller Genuss, eine vergnügliche Unterhaltung und ein enormer Gewinn zugleich“. – Neue Zürcher Zeitung vom 29. Oktober 2011

„65 großartige Stunden deutscher Literaturgeschichte“. – DIE ZEIT vom 17. November 2011

Der Göttinger Literaturwissenschaftler galt vielen als „das Zentralnervensystem des Literaturbetriebs”. –Der Spiegel in einem Nachruf

Wer Rang und Namen hatte, landete irgendwann vor seinem Mikrofon und ließ sich von den Arnold-Fragen behutsam einkreisen. – dradio/büchermarkt

Zur Jahrtausendwende habe ich ein zweites Mal eine Literaturzeitschrift abonniert, Sigrid Löfflers mutiges Unternehmen „Literaturen”. Nach fünf Jahren musste ich sie leider aus demselben Grunde abbestellen wie zuvor „Text und Kritik”. Ich schrieb der Aboverwaltung des Friedrich-Verlags:

„… hiermit möchte ich mein Literaturen-Abo zum nächstmöglichen Termin kündigen. Ich habe im Jahr 2001 als Abonnentin der ersten Stunde gezeichnet aus Solidarität mit Sigrid Löffler und aus Ärger über Reich-Ranickis unsägliches Verhalten ihr gegenüber. Kurz – ich war zum großen Teil feministisch motiviert. 
Leider musste ich bei vielen Heften dann eine ziemliche Männerlastigkeit der Themen feststellen. Es überwiegen Rezensionen und Artikel von Männern über Bücher von Männern. 
Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn die Verteilung ausgewogen ist, dann werde ich ,Literaturen’ gern wieder abonnieren. 
Sie können diesen Brief gern an Sigrid Löffler weiterleiten.“

Auf meine Kritik bekam ich nie eine Antwort. Heute ist „Literaturen” eine Beilage von „Cicero”.

Und damit gute Nacht, liebe Frauen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glosse „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheint.