Amnestie, Integration und normative Abgrenzung

Norbert Frei beschreibt in seinem Buch „Vergangenheitspolitik“ den lobbyistischen Umgang des Adenauerstaates mit den Lasten der NS-Zeit

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum hatten Regierung und Parlament des neuen deutschen Weststaates im Herbst 1949 ihre Arbeit aufgenommen, erregten sie mit der Verabschiedung eines ersten Amnestiegesetzes für scheinbar geringfügige Straftaten vor dem 15. September 1949 den Argwohn der alliierten Siegermächte. Geriet doch das von fast allen Parteien des Bundestages getragene gesetzgeberische Projekt, das immerhin 800.000 Fälle betraf, zu einer unverhohlenen Demonstration des damals in der Bevölkerung weithin empfundenen Bedürfnisses nach bürgerlicher Normalität und vor allem nach einer Schlussstrichziehung unter die NS-Vergangenheit. Selbst ein Mann wie Bundeskanzler Konrad Adenauer, dem keinerlei Sympathien für das „Dritte Reich“ und dessen Vertreter nachzusagen war, empfahl gleich in der ersten Kabinettssitzung am 26. September 1949, nach den so „verwirrten Zeitverhältnissen“ jetzt doch „tabula rasa“ zu machen. Da schien es auch nicht zu stören, dass das erste Straffreiheitsgesetz, das in höchster Eile bis zum 31. Dezember 1949 durch alle politischen Instanzen gepeitscht worden war, sogar Gewalttätern und Totschlägern der erst vier Jahre zuvor untergegangenen Diktatur noch Amnestie gewährte, sofern das vorgesehene Strafmaß ein halbes Jahr nicht überstieg.

Zugleich formierte sich unter dem Dach der neuen deutschen Staatlichkeit eine agile Lobby aus Politikern, ehemaligen Soldaten und sogar Kirchenvertretern, die es sich zur zentralen Aufgabe gemacht hatte, im Kontext des beginnenden Kalten Krieges auf die Begnadigung von verurteilten Kriegsverbrechern im Gewahrsam der Siegermächte hinzuwirken. Dabei erzielte sie durchaus beachtliche Erfolge, wie etwa die Revisionen aller Strafmaße im so genannten Malmedy-Prozess. Keines der ursprünglich ausgesprochenen 43 Todesurteile wurde tatsächlich vollstreckt, und der letzte Angeklagte kam schon 1956 frei. Wer nicht in der vordersten Reihe des Regimes gestanden hatte und nunmehr deutliche Anzeichen einer inneren Distanz zu seiner NS-Vergangenheit erkennen ließ, durfte auf die Solidarität der alten Eliten rechnen, die im Begriff waren, auch im neuen Staat wieder ihre angestammten Schlüsselpositionen in Justiz und Wirtschaft zu besetzen. Wo aber – wie etwa im Falle des Wehrmachtsgenerals Otto Ernst Remer und seiner Sozialistischen Reichspartei – diese notwendige Einsicht in die neuen Verhältnisse verweigert wurde, schlugen die Vertreter der politischen Klasse erstaunlich hart zurück und setzten schließlich in Karlsruhe sogar ein Parteiverbot durch. Wo ein hier überaus geschickt agierender Bundeskanzler für seine Politik der militärischen Westbindung nationalistisches Störfeuer befürchten musste, akzeptierte er sogar die Verhaftung der führenden Köpfe der konspirativen Naumann-Gruppe durch Sicherheitskräfte des britischen Hochkommissars, ein Vorgehen, das er unter anderen Umständen als Desavouierung der Souveränität seines aufstrebenden Weststaates heftig kritisiert hätte.

Der in Jena lehrende Historiker Norbert Frei hat in seiner bereits 1996 erschienenen und jetzt wieder aufgelegten Studie über den Umgang der entstehenden Adenauerrepublik mit dem Erbe des untergegangenen „Dritten Reiches“ an Hand von drei charakteristischen Themenfeldern versucht, das bis dahin eher nur essayistisch behandelte Thema erstmals einer genauen historiografischen Analyse zu unterziehen. Unter sorgfältiger Eingrenzung seiner Thematik auf die erste Hälfte der 1950er-Jahre zeichnet er atmosphärisch dicht und auf breiter Quellenbasis das Bild einer sich wieder formierenden politischen Klasse, die in einer bemerkenswerten Gratwanderung zwischen drohendem alliierten Veto und befürchteter Desintegration der noch ungefestigten Republik zu einem spezifischen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit fand, die im Ergebnis von Frei kritisch als „Vergangenheitspolitik“ bezeichnet wird. Gemeint ist damit der allgemeine Konsens der westdeutschen Trümmergesellschaft, sich die moralischen und politischen Desaster ihrer jüngsten Vergangenheit schön zu reden, in dem man sich hauptsächlich als Verführte oder Opfer der Umstände sah und eine deutsche Kollektivschuld vehement bestritt. Die allgemeine Verweigerungshaltung war jedoch kein einheitlich gesteuerter Prozess, sondern die Resultate unterschiedlichster Motive. Grundsätzlich wertete man die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit nicht als einen dringend gebotenen Akt der geistigen Hygiene, sondern als ein Anliegen ausschließlich der Siegermächte, gegen das sich aufzulehnen einer nationalen Tugend gleichkam. Oberstes und von einer breiten Mehrheit geteiltes Ziel war dagegen die Integration der Integrationswilligen, ob belastet oder nicht. Deren Exkulpierung schien auch der Königsweg zur moralischen Entlastung der gesamten Gesellschaft. Das Selbstverständnis der neuen Republik, sich als bewusste Antwort und als politisches Gegenbild zum „Dritten Reich“ zu präsentieren, dies aber mit beinahe demselben Personal anzustreben, das zuvor zwölf Jahre lang der Diktatur treu gedient hatte, musste jedoch auf die Quadratur des Kreises hinauslaufen.

Von einer deutlichen und direkten Thematisierung deutscher Schuld und der Leiden der Millionen Opfer war daher die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik weit entfernt. In ihrem tiefen Wunsch nach bürgerlicher Normalität und dem Ende der alliierten Gesinnungsschnüffelei schoben die Westdeutschen in kollektivem Einvernehmen eine gewaltige Last vor sich her, die den Altgewordenen, als sie sich ihrer schon längst ledig wähnten, später umso heftiger auf die Füße fallen sollte. Die bis heute anhaltende Präsenz des „Dritten Reiches“ im öffentlichen Diskurs (von Frei an anderer Stelle als „Vergangenheitsbewahrung“ bezeichnet) und die daraus resultierende und von Konservativen oft beklagte exzessive nationale Selbstverdammung kann sogar als Überreaktion und damit als direkte Folge der Vergangenheitsverdrängung in den frühen 1950er-Jahren gedeutet werden. Freis brillante und detaillierte Studie bietet somit einen dringend gebotenen Kontrapunkt zu den historiografischen Jubeltönen, welche bisher die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte zu feiern pflegen. Ökonomisch und außenpolitisch mag das noch zutreffen. Doch es war eine Gesellschaft der Verlierer, die sich, nachdem sie sich das öffentliche Schuldbekenntnis selbst erlassen hatte, in das so genannte Wirtschaftswunder stürzte. Jene Geschichte der geheimen Scham aber, der latenten Gewalt und der vielfältigen Repressionen hinter den wieder errichteten bürgerlichen Fassaden, die von einer zutiefst desavouierten Gesellschaft der kleinen Täter, Mitläufer und Wegducker millionenfach ausgeübt wurde, diese andere Geschichte der frühen Bundesrepublik ist allerdings erst ansatzweise geschrieben.

Titelbild

Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
472 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406636615

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