Von Kupferdrähten, Krieg und Kokain

Über Tom McCarthys „K“

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„‚Kokain?‘, fragt Serge. ‚Ich dachte, das ist für die Zähne.‘ ‚Stimmt, aber auch für den Blick bewirkt es Wunder und schärft ihn ohne Ende.‘“ – Serge hat, auch ohne Kokain oder andere chemische Mittel, einen sehr eigenwilligen Blick auf die Dinge. Dort, wo seine Schwester artig die ihr diktierten Sätze niederschreibt, sieht der junge Serge Buchstaben durch die Luft wirbeln und neue Konstellationen und Bedeutungen annehmen. Dort, wo seine Kameraden tödliches Geschützfeuer sehen, sieht er, als Flieger beim Royal Flying Corps, tanzende Geschosse, die die Erde animieren und in Bewegung setzen. Er ist ein intensiver Beobachter der über ihn hereinbrechenden Moderne. In seinem rauschhaften Erleben der Technik und des technisierten Krieges proklamiert er, ganz im Geiste Filippo Tommaso Marinettis, ein neues Zeitalter, eine „Ära von Metall und Sprengstoff“, deren Schlüsselerlebnis die Geschwindigkeit ist.

Tom McCarthys dritter Roman „K“ ist ein Bildungsroman im doppelten Sinn: er erzählt die Entwicklung des jungen Protagonisten Serge Karrefax und die der anbrechenden Moderne. Karrefax wird 1898 auf dem englischen Landgut Versoie geboren. Seine Mutter, eine taube Französin, betreibt eine florierende Seidenspinnerei und sein Vater, ein exzentrischer Techniknarr, leitet eine Schule für gehörlose Kinder. Serge wächst in einer Zeit auf, in der die Technisierung Einzug hält. Ein Geflecht von Kupferdraht, Empfangsstationen und Sendemasten breitet sich über das elterliche Landgut, ja über das gesamte Land und den Kontinent und zieht sichtbare und unsichtbare Verbindungen, wo vorher keine waren – genauso engmaschig legt sich das Bedeutungsgeflecht, das um den Buchstaben „K“ kreist, über den Roman.

Nach dem Tod seiner Schwester Sophie wird Serge nach Klodĕbrady geschickt, ein tschechisches Kurbad, in dem man sein nervöses Leiden auch mit einer ausgeklügelten Wassertherapie nicht in den Griff bekommt. Die nicht zu definierende Krankheit schwelt in ihm wie der politische Konflikt in Europa. Erst die sexuelle Anziehungskraft einer jungen Angestellten vermag seine Lethargie zu vertreiben. Dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Serge studiert an der Schule für Militärische Aeronautik und wird, mit allerlei Wissen über Kommunikation, Kodierung, Kartenkunde und Kursbeschickung ausgestattet, als Beobachter und Navigator in den Krieg geschickt. Vom Kokain betäubt und durch seinen technischen Blick distanziert, gelingt es Serge nicht nur, zu überleben, sondern auch seine militärische Pflicht zu ästhetisieren. McCarthys bildgewaltige Sprache eröffnet dem Leser eindringliche Panoramen subjektiver Wahrnehmung. Das Waffenfeuer, das Karrefax am Heck des Propellerflugzeugs bedient, wird für ihn zu einem rhythmisch-poetischen Stakkato, zu dem er Verse aus einem Historienspiel seiner Kindheit skandiert. Dass er auch Hölderlin an der Front liest, grenzt für viele seiner Kameraden an Verrat. Für ihn ist es ein Weg, die Kriegserfahrung in modernen Begriffen fassbar zu machen. Die erste Zeile der Christushymne Patmos „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott“ interpretiert Serge äußerst technisch: „Nah“ und „fassen“ seien kommunikatorische Aufgaben, er müsse nur seine Sender korrekt justieren, um Gott, der lediglich ein beliebiger Punkt in seinem Visier ist, zu finden.

Das einzige, was Serge jedoch im Nachkriegslondon findet, ist erneuter Rausch: durchzechte Nächte, Drogen, Liebschaften. Auch die Versetzung nach Ägypten, wo er beim militärischen Informationsdienst arbeitet und die Aufstellung eines britischen Funknetzes betreuen soll, kann die Leere nicht füllen. McCarthy gelingt es eindrucksvoll, Serges Seelenzustand – heute würde man wohl von einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen – bildlich zu fassen. Seine Sprache ist ein eigenartiges poetisches Gewebe von technischem Vokabular und subjektiver Welterfahrung.

Der Roman gipfelt in einer sprachlichen und bildlichen Explosion. Karrefax zieht mit einem Erkundungstrupp aus Archäologen und Militärs nach Sedment. In dem dortigen Gräberlabyrinth scheinen alle Zeitalter aufeinander zu treffen: Frühägyptische Reliquien vermischen sich in den Grabungsstätten mit den Hinterlassenschaften des modernen Menschen; Zeitungsfetzen und Skarabäen liegen nebeneinander. Serge, der in einer der Grabkammern von einem Insekt gebissen wird, fällt in ein tödliches Fieber. Er deliriert und glaubt sich ebenfalls in ein Insekt, eine technisierte Version Gregor Samsas verwandelt, dessen Fühler zu Antennen werden, um „Ursignale“ zu empfangen.

McCarthys Roman „K“ ist eine Fallstudie des anbrechenden 20. Jahrhunderts, die durch ihre Bildgewalt fesselt. Die Erfahrung der Technisierung und des Krieges entfalten sich in einem dichten Motiv-und Bedeutungsgeflecht, das den Roman zu einer schillernden Vision zusammenbindet. Nicht zuletzt trägt auch die Übersetzungsleistung Bernhards Robbens zu diesem Eindruck bei. Seine Übersetzung fängt die semantische Vielschichtigkeit auch im Deutschen ein. Die Übertragung vom Englischen ins Deutsche geht an manchen Stellen einher mit einem Tausch von bestimmten Bedeutungsfeldern: Beispielsweise geht das Assoziationsfeld um „C“ und „sea“ verloren, wohingegen andere, wie zum Beispiel „K“ wie Krieg oder Kafka, dazu gewonnen werden. „K“ ist, im Englischen wie im Deutschen, ein Roman, der nachklingt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tom McCarthy: K.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
480 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044891

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