Was braucht es für einen Juden

Sprachliche Imitationen in Literatur und Film

Von Lea SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Schäfer

Sprache charakterisiert. Wer einen Wiener darstellen will, kommt nicht umhin, die besondere Sprechweise des Wiener Stadtdialekts aufzugreifen. Doch man wird einen Protowiener kaum voll und ganz wienern lassen, sondern sich statt dessen auf gezielte, gemeinhin verständliche Kennzeichen dieses Dialekts beschränken, um die allgemeine Verständlichkeit gewährleisten zu können. So erwarten wir von einem Wiener eine etwas nasalierte, in die länge gezogene Aussprache – in der wir Piefkes den besonderen wiener Schmäh sehen. Hier und da dürfen ein paar bekannte Austriazismen (wie Stiege, Jänner, baba!) nicht fehlen, und bestenfalls werden noch ein paar guate bairische Vokale auftauchen. Ebenso verhält es sich, wollen wir einen typischen Schwaben, Schweizer, Sachsen, Kölner oder auch Franzosen, Amerikaner oder Holländer darstellen, der Deutsch spricht. Egal ob Literatur, Film, Schauspiel, Kabarett oder Werbung – wo es um Regionalisierung geht, finden wir regionalsprachliche Merkmale. Diese Merkmale werden über die Medien selbst kommuniziert, und wir erlernen sie zumeist passiv. So können die meisten, ohne jemals selbst mit einem Leipziger gesprochen zu haben, sagen, wie dieser zu sprechen hat. Doch wer bestimmt, welche sprachlichen Merkmale charakteristisch für eine bestimmte Gruppe sind? Und stimmen diese Imitationen eigentlich mit der Sprachwirklichkeit überein?

Der Ausgangspunkt solcher sprachlicher Konzepte ist immer der direkte Sprachkontakt. Über das Kommunikative Gedächtnis werden sprachliche Eigentümlichkeiten verbreitet und erreichen so auch Menschen, die niemals mit einer Sprache im Kontakt standen. Damit ein sprachliches Merkmal für eine Sprechergruppe kennzeichnend wird, muss es zugleich von der Ausgangssprache (also dem Schriftdeutsch) maximal abweichen und zugleich maximal verständlich sein. So werden wir zum Beispiel in einem Konzept vom Schwizerdütschen die Umlaute ei, eu, au als i, ü, u wiedergegeben finden, wohl aber kaum die Verbform gsi für war oder gar Sätze wie ziitschtig oobat sämmr döt domma gi tschutna gsi (Dienstag Abend sind wir dort oben Fußballspielen gewesen). Die Abwandlung des Schriftdeutschen muss so einfach wie nötig und zugleich so charakteristisch wie möglich sein.

Doch die Imitation deutscher Dialekte ist noch ein vergleichsweise junges Phänomen, denn es bedarf dazu eines kulturell kommunizierten Konzepts von Dialekträumen: besondere Charakteristika des im Harz gesprochenen hochdeutschen Dialekts werden für die umliegenden niederdeutschen Regionen (wie Göttingen, Halle an der Saale, Wolfenbüttel und Salzgitter) bekannt sein, überregional sind Kennzeichen der besonderen Mundart jedoch nicht konzeptualisiert. Erst ein überregionales Interesse kann das kulturelle Bewusstsein speisen. Doch solche Imitationen bedürfen grundsätzlich auch etwas, was wir als selbstverständlich annehmen: Ein sprachkulturelles Bewusstsein. Dieses erlernen wir zum einen vorwiegend unbewusst durch unsere eigenen Erfahrungen im direkten Sprachkontakt – doch die größte Rolle spielt dabei unsere sprachkulturelle Erziehung. Wir lernen früh, was gutes, richtiges Deutsch ist, wir übernehmen die Codes, wie wir mit unseren Eltern, Lehrern, Vorgesetzten und Freunden zu reden haben und wir lernen, wie sich Schweizerdeutsch, Schwäbisch und Sächsisch anzuhören haben.

Dabei erlernen wir auch einige Mythen, die zumeist sprachpolitisch motiviert sind. Zum Beispiel trifft unsere Sprachkultur eine Unterscheidung zwischen Bairisch und Österreichisch, obwohl diese zunächst einmal eine rein politische Grenzziehung ist. Oder wir referieren, wenn wir vom Hessischen sprechen, zumeist auf die rheinfränkische Stadtmundart Frankfurts und uns ist, sofern wir uns nie länger in Hessen aufgehalten haben, nicht bewusst, dass der im Bundesland Hessen aufzufindende Dialektraum weitaus komplexer ist, als uns Badesalz, Mundstuhl und Assi Toni vermuten lassen. Oder wir bekommen vorgehalten, dass ein Deutsch ohne Genitiv nicht überlebensfähig sei.

Was eine Sprache ist und was nicht, bestimmen nicht die Sprecher selbst, sondern es wird – im Fall des Deutschen in einem langwierigen Prozess – deduktiv festgesetzt. Die wichtigste Phase dieser Deduktion begann Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Nationalgedankens. Die Idee vom Nationalstaat ist gekoppelt an die einer Nationalsprache. In den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts liegt unser modernes sprachkulturelles Bewusstsein begründet. Mit der präskriptiven Standardtsprache begannen nun aber auch die Stigmatisierungen sprachlicher Varietäten. Und wer diese als erstes zu spüren bekam, das waren, wen wird das noch verwundern, die Juden.

Im deutschsprachigen Raum wurde wohl kaum eine andere Sprache so stark von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert wie die Jiddische. Diese dem Deutschen nächst verwandte Sprache geht auf die erste Besiedelung des mitteleuropäischen Raums durch Juden zurück. Doch erst im späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts kommt es im deutschsprachigen Raum zu einer kulturpolitischen Auseinandersetzung mit dieser koterritorialen Sprache. Diese findet verstärkt in der Literatur statt. So lässt sich eine erstaunlich große Anzahl an Texten (zumeist Theaterstücken) finden, die eine besondere sprachliche Markierung jüdischer Figuren aufweisen. Die Literaturwissenschaft bezeichnet diese Sprache jüdischer Figuren als Literaturjiddisch.[1] Es besteht der allgemeine Konsens, dass dieses Literaturjiddisch „von den faktualen historischen Sprechgewohnheiten“[2] abweiche. Es wird als eine Kunstsprache gehandelt, die lediglich eine literarische Realität besitzt und zu einen „Jargon […] ohne Grammatik“[3] degradiert. Doch dies sind wiederum nur Stigmatisierungen durch die kulturelle Oberschicht. In den Texten lassen sich nahezu alle sprachlichen Markierungen auf eine jiddische Form zurückführen. Selbstverständlich finden wir kein einwandfreies Jiddisch; Aber wer beklagt sich über das Saarbrückenerisch der Familie Heinz Becker? Imitationen spiegeln immer nur Ausschnitte einer Sprache wieder und setzten nie die gesamte Sprache um.

Was es in den literaturjiddischen Texten des 19. Jahrhunderts braucht, um einen Juden darzustellen, ist ein ausgewogenes Gemisch an Jiddismen auf allen sprachlichen Ebenen: Zunächst einmal werden eine Reihe von aus dem Hebräischen stammenden Wörtern wie Moos (Geld), schachern (handeln), meschugge (verrückt) oder beschickert (betrunken) eingesetzt. Ganz populär sind auch Ausrufe wie waih geschrien! oder Gott der Gerechte. Ebenfalls hoch im Kurs stehen Verkleinerungsformen wie etwa Geschäftche (Geschäft), Zwieblich (Zwiebeln) oder Händcher (Händchen). Dann geht es in Details, und Wörter mit germanischem Stamm werden vokalisch abgewandelt beziehungsweise an das jiddische angeglichen, wie in aach (auch), hob (habe), grauß (groß), schein (schön), Fra (Frau), Lait (Leute). Besonders wichtig und für die Beschreibung des Jiddischen als ‚falsches Deutsch‘ maßgeblich, ist die Wortstellung: Jiddisch verfügt über eine andere Wortstellung als das Schiftdeutsche, so dass ein Satz wie Do wird sie machen Augen zwar falsches Schriftdeutsch wäre, jedoch der korrekten jiddischen Wortstellung entspricht.

Wie kam es nun, dass sich die kulturelle Stigmatisierung im 19. Jahrhundert so stark auf das Jiddische richtete? In Passionsspielen, die sich zwischen 1500 und 1650 vor allem im süddeutschen Raum einer großen Beliebtheit erfreuten, finden sich bereits sprachliche Markierungen der jüdischen Figuren über die Referenz zum Hebräischen.[4] In der Zurschaustellung des Ecclesia-versus-Synagoga-Topos wird die hebräische Sprache hier als ‚Kauderwelsch‘ karikiert. Viele dieser Passagen haben äußert wenig mit dem Hebräischen gemeinsam. Zumeist verweisen nur einzelne Kennwörter (etwa Adonai, Abraham) auf die Sprache des alten Testaments. Die Imitation des Hebräischen ist hier immer durch religiösen Antisemitismus motiviert: Der ‚falsche Glaube‘ der Juden beruht auf einer ‚falschen Sprache‘ bzw. auf ein in dieser Sprache abgefasstes Buch (den Tanach). Das Jiddische als eine säkulare Sprache und als Teil der westgermanischen Sprachfamilie ist in diesem Kontext nicht bühnenfähig. Erst mit den Bestrebungen einer präskriptiven Nationalsprache (Standarddeutsch), rückt das Jiddische in den kulturellen Diskurs. Die Nationalisierung des Antisemitismus verändert also auch die Formen der Diffamierung.

Möglicherweise stand die Stigmatisierung des Jiddischen aber auch exemplarisch für die generelle Stigmatisierung der deutschen Dialekte. Der Vorteil, den das Jiddische gegenüber anderen Varietäten mit sich brachte, war seine überregionale Verbreitung und damit Bekanntheit. Wir haben es mein Literaturjiddischen nicht nur mit einem Phänomen der antisemitischen Literatur zu tun. Wir finden es in Texten der jüdischen Aufklärung (der Haskalah), in Karikaturen jüdischer wie christlicher Autoren, in politischen Pamphleten genauso wie in Romanen jüdischer Autoren. Die Imitation des Jiddischen ist es ein gesamtliterarisches Phänomen des 19. Jahrhunderts. Nicht zu unterschätzen ist die Auswirkung dieser Stigmatisierung auf die Sprachrealität des Jiddischen: Die kulturelle Assimilation des deutschen Judentums war zwangsläufig an die Aufgabe des jiddischen Geknüpft.

Erstaunlich ist jedoch, dass obwohl Jiddisch im deutschsprachigen Raum seit dem 20. Jahrhundert kaum mehr gesprochen wird, es im kulturellen Diskurs erhalten blieb. Das sieht man zum einen in den literaturwissenschaftlichen Analysen zum Literaturjiddischen, wo jiddische Formen immer noch als ‚falsches Deutsch‘ analysiert werden. Zum anderen findet man die Formensprache in der Figurenentwicklung im Film des 20. Jahrhunderts konserviert.[5] Ein Beispiel ist Radu Mihăileanus ursprünglich französischsprachiger Film „Train de vie“ (deutsch „Zug des Lebens“) (1998). Während im Originalton die jüdischen Figuren gänzlich unauffälliges Standardfranzösisch sprechen (und ebenso verhalten sie sich auch in der italienischen Synchronisierung), wird in der deutschen Fassung imitiertes Jiddisch verwendet. Und auch die Literatur greift dieses Mittel zur Figurencharakterisierung wieder auf – so etwa die Romane „Der Milchmann“ (1999) von Rafael Seligmann und Thomas Meyers „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ (2012). Beide Autoren sind Juden, die selbst nur ein passives Wissen des Jiddischen aufweisen können. Dementsprechend akademisch gehen sie an ihre Figurengestaltung heran: Während Seligmann sich stark am südostjiddischen Dialekt[6] orientiert, stützt sich Meyer auf die Beschreibungen des Zentralostjiddischen. Beiden Autoren ist gemein, dass sie die jeweilige jiddische Varietät nicht frei emulieren, das heißt Regeln umfassend anwenden, sondern lediglich einzelne, sich stets wiederholende, also hochfrequente Wörter sprachlich singulär manipulieren. Thomas Meyer arbeitet neben lexikalischen Effekten noch mit einer orthografischen Markierung: um jiddische Lexeme als solche erkennbar zu machen, verwendet er bei diesen die konsequente Kleinschreibung beziehungsweise eine an das Deutsche angepasste Transliteration der jiddischen Schrift, z.B. froy (Frau) (Meyer 2012: 31). Bei genauerer Betrachtung bildet er damit das jiddische System aber nicht korrekt ab. So sind etwa im Standarddeutschen die Diphthonge [ɛɪ̯] und [aɪ̯] zu [aɪ̯] zusammengefallen. Orthografisch sind beide Laute als und zum Beispiel im Paar RheinMain noch erkennbar. Im Jiddischen sind beide Laute erhalten geblieben und werden auch orthografisch differenziert. Meyer gibt nun aber den Diphthong [ɛɪ̯] in ostjiddisch tsvey ‘zwei‘ als zwaj (Meyer 2012: 77) wieder und ebenso [aɪ̯] für ostjiddisch tsayt ‘Zeit‘ als zajt (Meyer 2012: 31). Mit der Schreibung weist er auf die unterschiedliche Aussprache zwischen Jiddisch und Deutsch hin, versäumt dabei aber die grundsätzlichen Unterschied abzubilden, dass Jiddisch über zwei Diphthonge verfügt, wo der deutsche Standard nur mehr einen Diphthong kennt. Die Texte des 19. Jahrhunderts setzen das jiddische System jedoch sehr viel genauer um, indem sie die Grapheme und verwenden. Daran lässt sich nach ablesen, dass das Laienkonzept, auf welches Meyers Literaturjiddisch fußt, nurmehr durch einen externen Diskurs und nicht auf einen direkten Input des Jiddischen zurückzuführen ist. Der große Unterschied zwischen den Imitationen des Jiddischen im 19. und der des 20. Jahrhunderts besteht zunächst darin, dass die Texte des 19. Jahrhunderts noch an der gesprochenen Sprache orientiert sind. Gemeinsam ist ihnen, dass die jiddische Sprache als humoristisches und stereotypenbildendes Mittel dient.

Das Jiddische ist die erste Sprache, die sich die deutsche Standardsprache zum Zweck der Imitation zu Nutze macht. So gesehen kann man sagen, dass die gesamte Tradition der sprachlichen Karikatur auf den Diskurs ums Jiddische im 19. Jahrhundert fußt. Der Umstand, dass Jiddisch im deutschsprachigen Raum ausgestorben ist, zeigt nur, dass die Vermittlung von Humor im deutschsprachigen Raum nicht so gut funktionierte wie die Stigmatisierung.

Literatur

Fischer, Jens Malte & Bayerdörfer, H.-P. (2008): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Tübingen: Niemeyer.

Frey, Winfried (1992): Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters. Aschkenas, Zs für Geschichte und Kultur der Juden, Bd. 2, 49–71.

Frey, Winfried (1994): Mittelalterliches Schaupiel, Festschrift für Hans-Jürgen Linke zum 65. Geburtstag, hg. Ulrich Mehler u. Anton H. Touber. (Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik, Bd. 38–39). Amsterdam: Atlanta, GA, 183–197.

Kafka, Franz (1912): [„Einleitungsvortrag über Jargon (1912)]“, In: Nachgelassene Schriften und Fragmente I Herausgegeben von Malcom Pasley (Born/Neumann/ Schillemeit) Fischer Taschenbuch Verlag S. 188–193.

Katz, Dovid (1983): Zur Dialektologie des Jiddischen (autorisierte Übersetzung von Manfred Görlach). In: Werner Besch/Ulrich Knoop/Wolfgang Putschke/Herbert Ernst Wiegand (Hg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Zweiter Halbband. (Gerold Ungeheuer/Herbert Ernst Wiegand (Hg.): Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 1.2). Berlin: de Gruyter, 1018–1041.

Richter, Matthias (1995): Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750 – 1933)
Wallstein Verlag Göttingen

[1] Begründet wurde der Begriff durch Richter (1995).

[2] Fischer (2008: 118).

[3] Kafka (1912)

[4] Eine detailierte Analyse der jüdischen Figuren in diesen Passionsspielen findet sich in Frey (1992; 1994).

[5] Einschlägige Beispiele sind z.B. „An American Tail“ (dt. „Feivel der Mauswanderer“) (1986), „Snatch“ (dt. „Schweine und Diamanten“) (2000), „Alles auf Zucker“ (2004), „The Infidel“ (dt. „Alles Koscher“) (2010), „The Dictator“ (2012), „The Simpsons“ (1987–), „Family Guy“ (1999–), u.v.m.

[6] Zu den jiddischen Dialekten s. Katz (1983).