In Zamonien nichts Neues

Anja Dollinger und Walter Moers schicken den Leser auf eine Entdeckungsreise ohne Entdeckungen

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leider ist nicht in Erfahrung zu bringen, was Laptantidel Latuda zu diesem Buch gesagt haben würde. Es ist allerdings zu befürchten, dass der berühmteste zamonische Literaturkritiker sich wenig erfreut äußern würde, auch wenn das in Rede stehende Buch nicht von seinem Lieblingsfeind Hildegunst von Mythenmetz, seinerseits der Titan der zamonischen Literatur, stammt.

Zamonien ist längst kein unbekanntes Gebiet mehr. In mittlerweile sechs sehr erfolgreichen Romanen hat Walter Moers diesen fantastischen Kontinent, der sich großer Popularität weit über die Grenzen eines Fantasy-Lesepublikums hinaus erfreut, beschrieben und liebevoll ausgestaltet. Der jüngste, im Herbst 2011 erschienene Zamonien-Roman „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ hat allerdings viele Liebhaber der Reihe enttäuscht. Nicht nur, weil das Buch sich erst am Ende als erster Teil eines zweiteiligen Romans zu erkennen gab und die Geduld seiner Leser arg strapazierte, sondern vor allem, weil Moers einen lauwarmen Aufguss des gefeierten Highlights „Die Stadt der Träumenden Bücher“ feilbot, was so weit geht, dass dessen gesamte Handlung in Form eines Puppenspiels in quälender Ausführlichkeit wiederholt wird. Die scheinbar grenzenlose Kreativität des von vielen Lesern kultisch verehrten Autors und Zeichners war offenbar verlorengegangen, oder für die Eingeweihten: Moers schien, wie er auch seine Kunstfigur Mythenmetz, nicht mehr vom Orm durchströmt zu werden.

Es hinterlässt bereits einen Beigeschmack, dass nach einem weitgehend inhaltslosen Roman, der vor allem durch die Fortsetzungs-Ankündigung Eindruck machte, nun nicht der erwartete zweite Teil vorliegt. Der Eindruck, dass Moers die Ideen ausgegangen sind, das profitable Produkt „Zamonien“ aber weiter kräftig ausgereizt werden soll, verdichtet sich. Statt des (von einigen verprellten Fans womöglich gar nicht mehr allzu sehnlich erwarteten) angekündigten zweiten Teils des letzten Romans gibt es eine Art Nachschlagewerk zu allerlei zamonischen Phänomenen, das der Leserschaft keinerlei Aufschluss darüber bietet, wie es Hildegunst von Mythenmetz in den Katakomben Buchhaims ergangen ist. Was aber viel gravierender ist: Es bietet auch sonst wenig Aufschlüsse.

Enthalten sind unter anderem Artikel zu zentralen wie auch randständigen Figuren (etwa Claudio Harfenstock oder Dr. Oztafan Kolibril), Städten und Örtlichkeiten wie Wassertal, Atlantis oder der „Ledernen Grotte“ sowie zu diversen Daseinsformen. Wer also nicht mehr genau weiß, was eine Nurne oder ein Zwergpirat ist, kann fortan zu diesem Buch greifen, um eher anekdotisch als systematisch zu erfahren, welche Rollen den genannten Geschöpfen in den Texten zukommt. Darüber hinaus werden auch gleichsam kulturhistorische Errungenschaften und Institutionen wie „Beleuchtung“ oder „Ehe“ verhandelt, mithin Phänomene, die es auch außerhalb Zamonien gibt, deren spezifische Ausprägung aber von einigem Interesse ist.

Dennoch: Walter Moers und Anja Dollinger legen ein Buch vor, das ratlos macht. Zwar ist es alles andere als unangemessen, eine Inventur einer zunehmend unüberschaubaren fantastischen, aber den Anspruch auf Kohärenz und Geschlossenheit erhebenden Welt zu unternehmen, zumal die einzelnen Romane ihre Vorgänger auf die eine oder andere Weise voraussetzen und auf Geschehnisse, Figuren oder zuvor beschriebene regionale Besonderheiten verweisen. Allerdings werden Zamonien-Kenner sofort stutzen, da es im Rahmen der Fiktion ein solches Nachschlagewerk längst gibt: das „Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, das eine prominente Rolle vor allem in den frühen Zamonien-Romanen einnimmt und aus dem immer wieder ganze Artikel präsentiert werden.

Das fiktive Lexikon wird mit diesem Buch aber nicht etwa zum realen Gegenstand. Anders als Prof. Nachtigaller mit seinen sieben Gehirnen, der von Mythenmetz für sein „positivistisches Weltbild“ gescholten wird, ist es Dollinger und Moers nämlich nicht um Vollständigkeit oder auch nur um tatsächliche Erklärungen zu tun. Es ist signifikant, dass der Untertitel das Buch weder als Lexikon noch als Enzyklopädie oder ähnliches ausweist, sondern als „Entdeckungsreise“. Doch bedauerlicherweise gibt es keine Entdeckungen. Geboten wird keinerlei weiterführende Hintergrundinformation, die über die Wissensbestände der Romane hinausginge, sondern eine höchst selektive Bestandsaufnahme, die den Kennern zwar eine unterhaltsame Zusammenschau, aber nichts Neues vermittelt.

Moers gesteht im Vorwort diesen Umstand indirekt ein. Die „Aufklärungsarbeit“ über den zamonischen Kontinent sei längst nicht beendet, man habe „nur an seiner Oberfläche gekratzt“, schließlich sei „ein vollständiges Lexikon ein Widerspruch in sich selbst“ und ein gutes Nachschlagewerk immer „work in progress“. Diese geradezu apologetischen Gesten gehen einher mit der Aussicht – jaja! – auf eine Fortsetzung. Im Erfolgsfall könne man die „Aufklärungsarbeit in einem weiteren Band fortsetzen“. Mal abgesehen von der Frage, wie sinnvoll und benutzerfreundlich die Fortsetzung eines Nachschlagewerks sein mag, das bereits Phänomene von A bis Z verzeichnet: eine weitere Fortsetzungsankündigung kann die Zamoniengemeinde etwa so gut gebrauchen wie der Große Wald eine zweite Waldspinnenhexe.

Das eigentliche Ärgernis ist mit all dem aber noch nicht berührt. Nicht die Unvollständigkeit oder der Eindruck der versiegenden Kreativität macht die Lektüre unerquicklich, sondern der Aufbau der einzelnen Artikel. Gemäß Anja Dollingers Hinweis in der „Gebrauchsanleitung“ soll das Buch „einen ersten Einblick in die Vielfalt dieses phantastischen und letztlich wohl auch unerschöpflichen Kontinents bieten“. Mit der Lektüre wird die Hoffnung auf „starke Impulse“ für die Beschäftigung den Zamonien-Romanen verbunden. Es stellt sich der Eindruck ein, dass das Buch nicht nur Lückenfüller bis zum nächsten, sondern auch und vor allem Werbemaßnahme für die bisherigen Romane sein soll. Und just dieser Strategie folgen auch die einzelnen Einträge. Der Leser wird mitnichten so umfassend, wie es innerhalb eines Lexikonartikels möglich ist, informiert. Stattdessen wird peinlich genau darauf geachtet, keine Pointe und keine Auflösung vorwegzunehmen. Der Kenner erfährt also nicht nur nichts Neues, sondern muss sich auch mit Andeutungen abspeisen lassen, die offenbar das Ziel verfolgen, neue Leser, für die dieses Lexikon der zamonische Erstkontakt darstellt, für die Lektüre der Romane zu gewinnen, ihnen dabei aber bloß nicht die Spannung zu nehmen. Ein Handbuch aber, das seine Leser bewusst unzureichend informiert, ist eine absurde Unternehmung.

Sicher, die Zusammenstellung ist bisweilen vergnüglich und erbringt manche Erhellung und Querverbindung. Eine ästhetische oder wissenspoetologische Strategie sowohl der einzelnen Artikel als auch dieses enzyklopädistischen Projekts im Ganzen ist jedoch nicht zu erkennen. Auch wenn die Vorworte anderes suggerieren: als Einstieg in die zamonische Welt ist dieses Buch nicht geeignet, sondern allenfalls als – als solches wiederum enttäuschendes – Nachschlagewerk für Kenner, Liebhaber und Erforscher der zamonischen Kultur. Allen anderen seien die Romane von „Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär“ bis „Der Schrecksenmeister“ empfohlen, die eine ungleich lebendigere Vorstellung von Zamonien erwecken und die Faszinationskraft dieses Kontinents weit besser veranschaulichen können. Bleibt zu hoffen, dass Moers sich künftig eher der angewandten Enzyklopädistik widmet, sprich: Zamoniens bislang unbekannte Facetten dadurch zutage fördert, dass er wieder als Romancier oder als Übersetzer von Hildegunst von Mythenmetz in Erscheinung tritt. Noch ist nicht ausgeschlossen, dass ein Bad im Orm die Resultate erbringt, die zuletzt vermisst wurden. Ansonsten ist zu befürchten, dass keine Notwendigkeit für weitere lexikalische Bemühungen mehr besteht.

Titelbild

Walter Moers / Anja Dollinger: Zamonien. Entdeckungsreise durch einen phantastischen Kontinent - Von A wie Anagrom Ataf bis Z wie Zamomin.
Knaus Verlag, München 2012.
310 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783813505306

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