Wo Wildheit ist, soll Ordnung werden

Eine Sammlung von Erzähltexten soll unbekannte Seiten von Jeremias Gotthelf zeigen

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, der Leumund Jeremias Gotthelfs ist sicher nicht der beste. Der Schweizer Pfarrer mit dem bürgerlichen Namen Albert Bitzius ist zwar einer der bekanntesten Autoren der Biedermeier-Zeit und des Frührealismus, wird aber – wie die meisten anderen Schriftsteller dieser Zeit – kaum noch gelesen. Zu behäbig, langatmig, provinziell und vor allem religiös-moralisierend sind seine Texte. Darüber hinaus ist das Etikett „Volksschriftsteller“ nicht dazu angetan, einen Autor modern erscheinen zu lassen. Die Sorgen der Emmentaler Bauern, die Gotthelf so eindrücklich wie kein Zweiter beschrieb, sind nicht mehr die der heutigen Leser, denen es Gotthelf auch sprachlich bisweilen nicht eben leicht macht, sofern diese nicht des Berndeutschen mächtig sind. Insbesondere seine Romane, so instruktiv sie als kulturhistorische Dokumente sind, geraten zur Herausforderung – um nach den Perlen zu tauchen, die sich in diesem Erzählstrom ohne Zweifel finden lassen, fehlt den Lesern zumeist die Luft. Sowohl beim Publikum als auch in der Literaturwissenschaft steht Gotthelf mithin nicht allzu hoch im Kurs. Einzig seine Novelle „Die schwarze Spinne“ ist unvermindert populär, was aber nicht nur der Erzählkunst des Verfassers, sondern auch dem Genre zuzurechnen ist – das Unheimliche hat immer Konjunktur.

So kommt es zu dem erstaunlichen Umstand, dass der Leumund dieses Autors außerordentlich davon profitieren könnte, wenn er als „wild“ und „wüst“ wahrgenommen werden würde. Genau das ist Anliegen des Bandes „Wilde, wüste Geschichten“, in dem der große Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt einen unbekannten Gotthelf präsentieren möchte. Folgerichtig will von Matt in seinem glänzend geschriebenen und von einer großen Leidenschaft für seinen Gegenstand zeugenden Nachwort zunächst die Bilder, die man sich von Gotthelf in den letzten 150 Jahren gemacht habe, beiseiteschieben. Eine heutige Beschäftigung mit Gotthelf setze voraus, dass man „sich ungeschützt seinem wilden Erzählen aussetzt“. Peter von Matt begreift die Schilderungen des Wilden als Ausdruck des wilden Lebens, das in Gotthelf gebrodelt und das er nur schreibend kanalisieren gekonnt habe. Er hat es dabei aber auch domestiziert.

So mitreißend und interessant die Umrisse eines neuen Gotthelf-Bildes, das von Matt entwirft, auch sind: ob dieses Erzählen tatsächlich so wild ist, ist keineswegs ausgemacht. Die ebenso kurze wie hinreißende „Selbstbiographie“ (wohl der einzige enthaltene Text, der gelegentlich in der Forschung zitiert wird) berichtet davon, dass ein Lehrer zu Gotthelfs Mutter gesagt habe, der Sohn „solle schöner schreiben lernen, er schreibt wie eine Sau“. Ob sich das nun auf das Schriftbild, den Stil oder die Inhalte bezogen haben mag, enthält Gotthelf uns vor. Wir können uns aber rasch ein eigenes Bild machen. Wild, wüst oder gar säuisch sind allenfalls die Inhalte der Erzählungen, nicht aber das Erzählen selbst. Zu souverän ist zum einen stets die Erzählerfigur, zu wohlgeordnet ist zum anderen der Wertekosmos, den dieser Erzähler vertritt. Zwar seien, wie von Matt darlegt, Gotthelfs pädagogischen Absichten durch den zeitlichen Abstand „nebensächlich“ geworden, doch in diesem Punkt mag man dem Herausgeber nicht zustimmen. Die Erzählstrategie ist jeweils klar auf die Vermittlung von im christlichen Glauben verwurzelten Grundsätzen angelegt und frei von moralischen Ambivalenzen. Selbstverständlich ist auch der Herausgeber viel zu klug, um das alles zu übersehen. Er stellt allerdings das Verhältnis von Mittel und Zweck in Frage: „Schreibt er [Gotthelf], um das Volk zu erziehen, oder braucht er die Rolle des Erziehers, um schreiben zu können?“

Eine der Figuren Gotthelfs würde darauf wohl sagen: „Mi cha nit wüsse“. Das Schreiben mag ein kathartischer Akt für den Geistlichen gewesen sein; dass die belehrenden Aspekte eine dominante Rolle einnehmen, kann nicht bestritten werden. Ebenso wenig soll indes in Abrede gestellt werden, dass uns Gotthelf in den hier versammelten Erzähltexten in der Tat einiges Wildes und Wüstes zumutet. Die Texte, allesamt der Werkausgabe entnommen, sind teils amüsant, meist drastisch – und dürften außerhalb eines sehr engen Zirkels von Gotthelf-Philologen weitgehend unbekannt sein. Die stärksten Momente hat der unbekannte Erzähler Gotthelf dann, wenn er sich kleiner Formen bedient und auf engstem Raum Verblüffendes leistet. Bei den längeren, novellistischen Texten droht die Eleganz jedoch in Monotonie umzuschlagen, auch deswegen, weil uns Gotthelf klassische Novellenmerkmale wie den Wendepunkt oder unerhörte Begebenheiten meist vorenthält und ungerührt bis zum bitteren Ende der uneinsichtigen Figuren erzählt, was poetologisch und gattungsgeschichtlich gleichwohl nicht uninteressant ist.

In allen Texten steht „das grauenhafteste aller Tiere“ im Mittelpunkt – „der Mensch“. Gotthelf erzählt von störrischen, geizigen, boshaften, täppischen, gewalttätigen, unbelehrbaren Menschen. Positive Figuren oder gar strahlende Helden gibt es hier kaum. Gotthelf zeigt uns Figuren beim Scheitern. Die Berner Bauern und einfachen Leute sind keineswegs immer mit Sympathie geschildert. Der Impetus ist ein sozialkritischer, was nicht bedeutet, dass der Erzähler auf der Seite der kleinen Leute stünde. „Unverständige Humanität und mißverstandene Liberalität“ sind seine Sache nicht. Solchem Erzählen wohnt stets ein politisches Moment inne, da es um das Wohl der Gemeinschaft geht, das vom gottgefälligen Leben der Einzelnen abhängt. Wo Wildheit ist, soll Ordnung werden. Dezidiert politisch ist Gotthelf in „Die Rotentaler Herren“, wo er die Herrschenden an den Pranger stellt und ihnen ewige Qualen für ihren Umgang mit dem Volk in Aussicht stellt, was zur Folge hatte, dass diese Erzählung ein Jahrhundert lang nicht gedruckt werden konnte.

Ob der Einschätzung Peter von Matts zu folgen sei, der in Gotthelfs Erzählungen „einen unabweisbar modernen Zug“ ausmacht, oder ob dieser Autor womöglich nur noch von literarhistorischer Bedeutung ist, soll hier nicht entschieden werden. Diese Frage aber mit neuen Akzenten überhaupt zu stellen, ist eine nicht zu unterschätzende Leistung dieses Buches.

Titelbild

Jeremias Gotthelf: Wilde, wüste Geschichten.
Mit einem Nachwort von Peter von Matt.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2012.
252 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004607

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch