Dämonisierung und Heroisierung

Josh van Soer hat „Politische Betrachtungen“ über Marinus van der Lubbe und den Reichstagsbrand herausgegeben

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die enorme Zuspitzung der wirtschaftlichen Krise, die im Herbst 1929 einsetzte und die bis zum heutigen Tage immer tiefer greift und die Auflösung verstärkt, zwang den Kapitalismus international zu den äußersten Anstrengungen […]. Die Klasse, die immer und immer wieder das eigentliche Opfer dieser Krise wird, ist die Arbeiterklasse“.

In Leipzig wurde am 10. Januar 1934, wenige Tage vor seinem 25. Geburtstag, der Holländer Marinus van der Lubbe durch das Fallbeil exekutiert. Er wurde am 23. Dezember 1933 vom Leipziger Reichsgericht „wegen Hochverrates in Tateinheit mit aufrührerischer Brandstiftung zum Tode und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte“ verurteilt. Reichspräsident Hindenburg verweigerte ihm die Begnadigung. Van der Lubbe hatte es gewagt, am 27. Februar 1933 „das Symbol aller ökonomischen und politischen Knechtung und Entrechtung“, den deutschen Reichstag, in Brand zu setzen. „Eine ruchlose Tat“ wie die Berliner Morgenpost am Morgen nach dem Brand schrieb. Die von Marinus van der Lubbes Bruder Jan 1955 beantragte Aufhebung des Urteils führte zunächst nur dazu, dass 1967 das Todesurteil aufgehoben und auf acht Jahre Zuchthaus wegen „menschengefährdende[r] Brandstiftung“ und „der versuchten einfacher Brandstiftung“ ermäßigt wurde, wobei van der Lubbes bürgerliche Ehrenrechte restituiert wurden. Es hat bis 2007 gedauert, bis das Urteil nach einer fast endlosen juristischen Odyssee endgültig aufgehoben wurde.

Die Reichstagsbrandkontroverse ist seit jenem Tag nicht abgebrochen. Van der Lubbe selbst hatte seine Mitangeklagten mit keinem Wort beschuldigt und hatte bis zuletzt auf seiner Alleinverantwortung für den Brand bestanden. Die hitzigen Auseinandersetzungen über die Urheberschaft der Brandstiftung zwischen den Befürwortern der Alleintäterthese (zum Beispiel Tobias, Mommsen, Kellerhof) und den Vertretern der These, van der Lubbe sei kein Einzeltäter gewesen, sondern die Nazis hätten ihre Hand im Spiel gehabt (Gisevius, Walther Hofer, neuerdings besonders Bahar und Kugel), haben ebenfalls das Ausmaß eines Brandes angenommen wie der Historiker Hans Mommsen bezeugt, der von einer „extremen Emotionalisierung“ in der Reichstagskontroverse spricht. Brisant ist die Einzeltäterthese laut ihren Kritikern deshalb, weil sie die Nazis exkulpiere und die ganze Schuld auf den zu 75% sehbehinderten van der Lubbe übertrage. Die Weigerung der Justiz nach 1945, van der Lubbe vollständig freizusprechen, liege auch auf dieser Linie und diene der Verschleierung und Verdeckung der Nazi-Urheberschaft.

Der Prozess selbst wurde zum Spektakel. Die mitangeklagten Kommunisten Torgler, Dimitrov, Popov und Tanev wurden mangels Beweisen zwar freigesprochen, vorher war es aber Georgi Dimitrov, einem führenden Funktionär der Komintern, gelungen, Hermann Göring in die Enge zu treiben. Mit erhobenem Kopf und voller Stolz über die Errungenschaften der Sowjetunion und der kommunistischen Weltanschauung, die „den sechsten Teil der Erde regiert“, nahm sich Dimitrov das Recht heraus, Görings Regierung „zu bekämpfen“ und den „Herrn Zeugen“ Göring mit seinen Fragen und Kommentaren zur Weißglut zu bringen. So wurde Dimitrov zum „Held von Leipzig“ und so trugen die verhafteten vier Kommunisten den Sieg davon, während für die Nazis der Prozess mit einer Blamage endete. Van der Lubbe dagegen ging „gefaßt in den Tod“, wie Hans Mommsen 1964 schreibt.

Während man sich in der Forschung über die Urheberschaft des Brandanschlags nicht einig ist, sind die weitreichenden Folgen – die daraus entstandenen Terroraktionen der Nazis – ein unbestrittener Fakt. Zu den direkten Konsequenzen gehört neben der Verhaftung hunderter Kommunisten die „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933. Magnus Brechtken schreibt darüber: „Tatsächlich jedoch begründete sie den permanenten Ausnahmezustand, öffnete die Schleusen nationalsozialistischer Willkür, ja des Terrors, und sollte bis zum Untergang 1945 als „Grundgesetz des Dritten Reiches“ in Kraft bleiben.

Mehr Aufmerksamkeit verdient in der ganzen Debatte die direkt im Anschluss an den Reichstagsbrand entstandene Polemik zwischen zwei Büchern, dem „Braunbuch“ und dem „Rotbuch“. Unter der Leitung von Willi Münzenberg veröffentlichten deutsche Emigranten und führende KPD-Mitglieder nur zwei Monate nach dem Reichstagsbrand das „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“, in dem sie die Nazis als Urheber des Brandes zu überführen versuchten. Das Buch wurde in siebzehn Sprachen übersetzt. Doch es blieb im Braunbuch nicht nur bei der Anklage der Nazis. Auch Marinus van der Lubbe wurde der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt und als „homosexueller Lustknabe, ein Sympathisant des Faschismus und ein Antisemit“ abgestempelt. Um dieser „diffamierenden Kampagne“ entgegenzuwirken, stellten Freunde und Weggefährten van der Lubbes 1933 in Amsterdam das sogenannte „Rotbuch“ zusammen und verkauften es „auf Märkten für zehn Cent pro Stück“. Das Rotbuch wurde erst 1983 ins Deutsche übersetzt und ist vor wenigen Monaten in der Hamburger Edition Nautilus in einer aktualisierten Neuauflage erschienen. Unter dem Bild van der Lubbes zu Beginn des Buches findet sich die Aufschrift: „Door socialisten en communisten verraden. Door de facisten vermoord.“ („Von Sozialisten und Kommunisten verraten. Von den Faschisten ermordet.“)

Van der Lubbe war nach seinem Austritt aus der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Hollands, mit deren Politik er nicht einverstanden war, Anhänger der Rätekommunisten („Groepen van Internationaale Communisten“) geworden. Er war auch vor dem Reichstagsbrand ein politischer Aktivist gewesen, der „direkte Aktionen statt parlamentarischer Aktivitäten“ bevorzugte. Die Autoren des Rotbuches feiern ihn als einen „proletarischen Rebellen“, einen „Revolutionär bis ins Mark, mutig, ehrlich; der nicht nur redet und die Aktionen und das Schläge-Einkassieren anderen überläßt, sondern der selbst der erste ist, der handelt.“ Das Rotbuch vertritt dezidiert und stolz die Einzeltäterthese und legt neben der Hervorhebung des revolutionären Wesens des Täters Marinus van der Lubbe eine Reihe weiterer Argumente vor, welche die Verantwortung für den Reichstagsbrand einzig und allein van der Lubbe zuweisen. Um das „Gebinde aus Unwahrheiten, Lügen und Tatsachenverdrehungen“ in der Diffamierungskampagne gegen van der Lubbe zu enthüllen, erzählen die Autoren des Rotbuches die Biografie ihres Gesinnungsfreundes und entkräften die einzelnen Beschuldigungen gegen ihn unter anderem auch durch Zeugenaussagen. Van der Lubbes „starke unverdorbene Aufrichtigkeit“, seine „reine, fast kindliche Natur“ sollen außerdem aus seinem Tagebuch und aus seiner Korrespondenz hervortreten, die in dem Rotbuch ebenfalls veröffentlicht sind.

Van der Lubbes Tagebuch umfasst die Zeit 6.09.1931-24.10.1931 und enthält die Beschreibung seiner Reise nach Istanbul, von wo er nach Russland weiterreisen wollte, um „während des Gedenkens an die russische Revolution“ Anfang November dort anwesend zu sein. Kurz nach Belgrad kehrte er jedoch um und machte sich wieder auf den Weg nach Holland. Van der Lubbes ,Wandertagebuch‘ ist auf den ersten Blick nicht besonders ergiebig und geradezu unbedeutend. Er selbst ist sich bewusst, dass es „wenig Neues“ zu berichten gibt. Man erfährt aus dem Tagebuch tatsächlich kaum etwas über van der Lubbes politische Gesinnung und Aktivitäten in dieser Zeit. Dennoch ist dieses Tagebuch als Reisebeschreibung aus der Sicht eines mittellosen Arbeiters und Landstreichers im Jahre 1931 interessant, da man aus vielen Nebensächlichkeiten und belanglosen Details einiges über die in Europa herrschende Misere erfährt. Der junge Holländer selbst reist mit äußerst knappem Budget, ist ausschließlich auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen, wäscht sich in „Bächlein“ und macht sich Hoffnungen, in Istanbul für eine Weile Arbeit zu finden. Er ist abgeschnitten von seiner Umwelt, vermisst seine Tageszeitung und gesteht, dass er „noch nie so viele Äpfel und Birnen gegessen habe wie auf dieser Reise“.

Oft kommentiert er die Gastfreundschaft der Bauern, bei denen er übernachtet hat (in Stadtasylen durfte er als Ausländer meist nicht übernachten). So schreibt er über seine österreichischen Gastgeber: „Aber bei den Bauern ist es ganz gut und man bekommt meistens sogar vor und nach dem Übernachten etwas zu essen und Kaffee.“ Man erfährt vieles über die wirtschaftliche Situation aus erster Hand und ,von unten‘, aus Sicht der ,Geknechteten‘: „Der Knecht [in Jugoslawien] erzählte mit hier auch, daß die Arbeitslosigkeit hier nicht so schlimm ist wie in Österreich und Deutschland. Dieses Land macht auch einen besseren Eindruck als Österreich, wo alles arm und elend aussieht.“ In Jugoslawien, kurz vor Belgrad, bemerkt van der Lubbe: „Doch so wie in Deutschland oder Österreich ist es hier nicht, daß man bei allen Bauern, bei denen man schläft, etwas zu essen kriegt und ein bestrichenes Brot oder mit was drauf. Auf das Brot hier kriegt man fast nirgendwo was drauf, nur bei einer höchsten Ausnahme. Aber die Menschen haben’s hier im allgemeinen auch selbst nicht und essen auch selbst viel trockenes Brot.“

Van der Lubbes Reisebeschreibung zeichnet eine Karte Europas – eine Karte des Elends und der Menschlichkeit zugleich. Er erlebt „so viele schöne und besondere Augenblicke, wo man wieder das Gute der Menschen kennenlernt“, zum Beispiel: „So fuhren wir an einem alten Mütterchen vorbei, das mit ihrer Tasche mit Einkäufen und einem Brot unterm Arm aus der Stadt auch nach Hause ging. Und als sie mich so sah mit dem Rucksack neben mir, denkt sie „der ist wohl auf der Reise“, bricht sie ein Stück Brot ab und gibt es mir. Das trifft einen dann tief und tut einer Vagabundenseele sehr gut. Zufällig hatte ich ein paar gute Schuhe, die mir aber zu klein waren, bei mir, und ich fragte, ob sie sie gebrauchen könne. Leider konnte sie nichts damit anfangen, das tat mir leid.“ Van der Lubbe reflektiert: „Das ist nun einmal das typisch Menschliche. Wir brauchen nicht darauf aus zu sein, um Gutes zu tun. Denn nur wenn es sich aus den Umständen so ergibt, machen wir es, nicht aus Philanthropie, sondern weil es gut ist, weil wir durch den Anblick und die eingetretenen Umstände in der Lage sind etwas Gutes zu tun.“

Anders als van der Lubbes stille, zurückhaltende und menschenfreundliche Art, die uns in seinem Tagebuch begegnet, ist das im ersten Teil des Rotbuches enthaltene Plädoyer seiner Verteidiger mit heftigsten Emotionen aufgeladen. Die Texte der Rotbuchautoren sind eine mehrfache Anklage: in erster Linie gegen die „Braunbuch-Journalisten“ und ihre „Hilfskräfte, die ihre ,Ausbildung‘ in der nach Schweinerei stinkenden diplomatischen, juristischen und sog. wissenschaftlichen kapitalistischen Welt bekommen haben“ und van der Lubbe verleumdet haben. Weitere Zielscheiben der Anklage sind neben den „Bestialitäten der Nazis“ (hier stimmen die Rotbuch-Autoren mit den Autoren der Braunbücher völlig überein) der „scheindemokratische Parlamentarismus“, dessen Zitadelle van der Lubbe nach Ansicht der Rotbuch-Verfasser zu Recht dem Feuer übergab. Die Hauptanklage der Rotbuch-Verfasser und der Großteil ihrer brennenden Wut richtet sich jedoch gegen den ,Klassenverrat‘ und die verbrecherischen Aktivitäten der II. und III. Internationale – den ,Genosse[n] Schakal‘, der „seine Beute greift“.

Das Rotbuch erlaubt es nicht, die Frage nach der Täterschaft beim Reichstagsbrand zu entscheiden und die Kontroverse zu beenden. Es wirft ein positives Licht auf van der Lubbes Persönlichkeit sowie auf die Solidarität seiner Freunde. Die Bedeutung des Buches liegt aber auch darin, dass es ein düsteres, jedoch überzeugendes und historisch wichtiges Bild der Grenzziehungen und Grabenkämpfe in der damaligen ,linken Szene‘ malt – etwa der „bluffende[n] Prahlerei“ und der „scheinrevolutionären Fanfaren der SPD und KPD“. Es regt dazu an, die tatsächliche Rolle der Komintern und Russlands für die Arbeiterbewegung am Vorabend der Machtergreifung Hitlers genauer zu untersuchen, wurde doch der Triumph des Nationalsozialismus auch infolge der Zersplitterung und der Schwäche der Arbeiterbewegung möglich. Für die Autoren des Rotbuches ist die Komintern ein mächtiges „russisches Handelsunternehmen“, beherrscht von „Kungelpolitik“, einer „Revolution auf Raten“ und in den Dienst „russische[r] Interessen“ gestellt. Dimitrov selbst hatte Göring während des Prozesses daran erinnert, dass Russland ‚Arbeitsplätze‘ in Deutschland schafft. Hierzu die Autoren des Rotbuches: Russland „fütterte die deutsche Bourgeoisie auch noch mit Aufträgen für die Industrie, selbst als die Hitler-Reaktion schon lange wütete!“

Es ist an der Zeit, van der Lubbes Tat jenseits der Dämonisierung (Braunbuch) und der Heroisierung (Rotbuch), jenseits der simplen Täter-Opfer-Schemata zu überdenken und heute, in einer Zeit eskalierender sozialer Ungleichheit und Jugendarbeitslosigkeit in Europa, die Ursachen seiner Tat erneut in den Blick zu nehmen. Er, der „ruchlose“ Brandstifter, der seine Schuhe einem alten Mütterchen irgendwo in Jugoslawien geschenkt hatte, war auf sich allein gestellt und dem „Betrug von rechts und links“ ausgesetzt gewesen. Oder wie die Verfasser des Rotbuches schreiben: „Van der Lubbe wußte nur allzu gut, daß er, wenn es um eine wirklich revolutionäre Tat ging, bei den Herren der III. Internationale gar nicht erst anzuklopfen brauchte.“

Die im Anfangszitat aus dem Rotbuch beschriebene „enorme Zuspitzung der wirtschaftlichen Krise“, die Macht der Parteiinteressen und der autoritären Strukturen, die Parteidisziplin und Parteipropaganda, der ‚Kampf der Weltanschauungen‘ hatten die Arbeiterklasse auseinandergerissen, den Einzelnen im Stich gelassen und aus dem arbeitslosen Jugendlichen Marinus van der Lubbe einen Landstreicher und Brandstifter gemacht. Nicht „die politische Zuverlässigkeit“ van der Lubbes wird in dem Rotbuch enthüllt, wie dessen Autoren meinen, nicht „das Handeln eines völlig selbständig handelnden Proletariats“ tritt in den Vordergrund. Haften bleibt das Bild des einsamen Wanderers in einer unsicheren, trostlosen Zeit. Ein heimatloser, vagabundierender Stern von „unbeugsamer[r] Entschlossenheit“, wie die psychiatrischen Gutachter Bonhoeffer und Zutt schon damals feststellten. Ein Einzelkämpfer, der „Gutes“ tun wollte, aufbegehrte, Feuer legte und das Fallbeil fand. Opfer und Rebell zugleich. Und eine brennende Fackel im Angesicht des heraufziehenden Nationalsozialismus.

Titelbild

Josh van Soer (Hg.): Das Rotbuch. Marinus von der Lubbe und der Reichstagsbrand.
Edition Nautilus, Hamburg 2013.
190 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017767

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