Ritualisiertes Erinnern

Eberhard Rathgebs Roman über das gelebte Leben eines Schwesternpaars

Von Maite Katharina KallweitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maite Katharina Kallweit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ruth und Vika sind Schwestern, die ihr Leben gemeinsam geführt haben. Die ältere Ruth überlebt wider Erwarten ihre jüngere Schwester um ein Jahr, das sie, auf den Tod und die Wiedervereinigung mit Vika wartend, in einem Altersheim verbringt. Die Schwestern wachsen in Deutschland auf, bis die Eltern mit ihnen Ende der 1920er-Jahre nach Buenos Aires auswandern. Hier werden die Töchter auf die Englische Schule geschickt, was es ihnen schließlich ermöglicht, der Enge des strengen Elternhauses zu entfliehen und nach New York zu gehen. Deutsch, Englisch und Spanisch perfekt beherrschend, gelingt es den Schwestern, ein selbstständiges Leben zu führen, anstatt sich „vor den Karren der Männer spannen“ zu lassen. Ruth ist willensstark, sie verlässt die Eltern gegen den Willen ihres tyrannischen Vaters und baut sich als attraktive, gebildete Frau ihre Existenz in der neuen Heimat auf. Die etwas schmächtige Vika ist intelligent, fleißig und diszipliniert, sie studiert und promoviert, bevor sie der Schwester nach New York folgt. Mit ihrem scharfen Verstand und ihrer Menschenkenntnis hält sie im Alter den Kontakt zur Außenwelt und regelt das gemeinsame Leben der Schwestern. Als die Eltern pflegebedürftig sind, kehren die Töchter widerstandslos nach Buenos Airs zurück und kümmern sich sieben Jahre um den egoistischen Vater und die missgünstige Mutter.

Das Schwestern-Dasein als Lebensform hat Ruth und Vika vor den konventionellen Rollen der Ehefrau und Mutter beziehungsweise Geliebten bewahrt, die in ihren Augen sicher ins Unglück geführt hätten. Sie begreifen sich als unbedingt zusammengehörig, die einzig vorstellbare Existenz ist die gemeinsame. Unprätentiös und besonnen-pragmatisch, weltläufig und selbstbestimmt führen sie ein abwechslungsreiches Leben, von dem sie im Alter zehren können. Die Sprachen, in die sie krochen „wie in einen Mantel, wie in ein Kostüm“, erlauben ihnen Anpassung und Durchsetzung in einem neuen Umfeld, zugleich sind sie das Kapital, das ein von Männern unabhängiges Leben als Schwester ermöglicht.

Mit dem Verzicht auf eine eigene Familie bleiben die Schwestern jedoch bis zum Tod der Eltern auch Töchter, die aus Sicht des Vaters den Eltern verpflichtet sind. Ruth und Vika akzeptieren diese Pflicht, sie nehmen die Eltern als ihr Schicksal an. In der Familie gibt es keinerlei emotionalen Austausch, keine Öffnung. Die Töchter erfahren keine Zuneigung und sind dem unnachgiebigen, ehrgeizigen Vater sowie der kaltherzigen, fordernden Mutter, die unter schweren Depressionen leidet, zeitlebens ausgesetzt. Durch das Verlassen des Elternhauses sowie den Verzicht auf Ehe und Mutterschaft glauben Vika und Ruth, sich die unglückliche Existenz der Mutter, ihrer Tante und der vielen anderen betrogenen, abhängigen Frauen erspart zu haben. Die Kehrseite dieser unaufgeregt dargestellten Emanzipation ist die Rolle der ewigen Tochter. Als Töchter übernehmen die Schwestern Verantwortung für die Eltern, obwohl diese ihre Kindheit und Jugend stahlen.

Das Schwesternleben bedeutet nicht allein, aus dem vorherbestimmten Rollenbild auszubrechen, sondern insbesondere, im Alter von bleibenden Eindrücken, etwa einer Begegnung Ruths mit Jackie Kennedy auf der Fifth Avenue und den vielen Reisen, profitieren zu können. Den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt verbringen Vika und Ruth in einem luxuriösen Appartement in Buenos Aires, umgeben von Erbstücken. Die strenge Ritualisierung ihres Alltags bewahrt sie vor Orientierungslosigkeit, die Gewohnheit wird zum Überlebensprinzip. Nicht allein die Mahlzeiten, Einkäufe und sonstigen Erledigungen folgen einem festen Ablauf, auch die unablässigen Dialoge der Schwestern sind ritualisiert. Das fortlaufende Gespräch schützt vor der Eintönigkeit des Alltäglichen, es dient der Rekapitulierung des Erlebten und der Vergewisserung zu leben: „Sie waren Wühlmäuse, unablässig wälzten sie die Vergangenheit wie Erde um, unterhöhlten die Gegenwart […].“ Das Erinnern scheint jedoch ebenso erstarrt wie der immer gleiche Tagesverlauf, insofern die Erlebnisse der Vergangenheit fest in die Form der sprachlichen Vergegenwärtigung gefasst und in dieser beliebig abrufbar sind. Die Redundanz des Erinnerns ersetzt das emotionale Nacherleben, die Ritualisierung der Erinnerung verhindert das Verstummen. Zugleich sehen sich die Schwestern von den „Schatten der Vergangenheit“ verfolgt, die toten Eltern säßen mit am geerbten Tisch und kröchen „wie ein Heer kleiner schwarzer Tierchen über die weiße Tischdecke“. Diese Last des Erinnerns verweist erneut auf die Bindung der ewigen Töchter, mit der die Emanzipation der Schwestern erkauft wurde.

Die abwechslungsreiche Lebensgeschichte des ungewöhnlichen Paars wird in Dialogen und Figurenrede, inneren Monologen, erlebter Rede und von einem auktorialen Erzähler rückblickend dargestellt. Dabei eröffnen die häufigen Wechsel der Erzählperspektive jedoch kaum Diskrepanzen in der jeweiligen Figurenwahrnehmung, vielmehr erzeugen die sich wiederholenden Gespräche und die Ereignislosigkeit der Handlung einen Eindruck der Monotonie, der sich mit dem Dasein der Schwestern im Alter deckt. Die Figuren bleiben trotz ihrer (begrenzten) Unangepasstheit blass, über die wiederholte Beteuerung eines erfüllten Lebens wird dieses kaum nachvollziehbar. Die Selbstbestimmtheit der Figuren drückt sich in der ungewöhnlichen Lebensform des Schwesternpaares aus, nicht in der emotionalen Disposition der Protagonisten. Das Innenleben der Figuren vermittelt sich vor allem über die originellen Vergleiche des metaphorischen Stils. Dieser weitgehende Verzicht auf psychologische Ausführungen korrespondiert mit der Abgeklärtheit der Schwestern, deren Seelen „zwei ordentlich gepackten Koffern“ glichen, „die nicht geöffnet wurden“. Das Ordnungsbedürfnis steht dem Herumwühlen im Seelenleben entgegen. Entsprechend der charakterlichen Disposition wird das gelebte Leben von den Schwestern überwiegend rational rekapituliert, das ritualisierte Erinnern evoziert keine Zweifel, keine Wut, Reue oder Begeisterung. Somit wird der Leser kaum gefesselt und in seinem Interesse an den Figuren eher enttäuscht. Dabei scheint die komplexe Erzählweise des kurzen Romans dem Thema des ritualisierten Erinnerns geschuldet, insofern die Darstellungsform die Starre des Alltags im Alter transportiert.

Titelbild

Eberhard Rathgeb: Kein Paar wie wir. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
185 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241312

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