Enchiridion des freigestellten Menschen

Handbuch Kulturphilosophie – ein unverzichtbares Auskunftsmittel und vielstimmiger Forschungsbeitrag zugleich

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Professor Ralf Konersmann, derzeit Lehrstuhlinhaber am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, zeichnet das „Handbuch Kulturphilosophie“ als Herausgeber. Damit ist zunächst einmal eine hervorragende wissenschaftliche Qualität gewährleistet. Das mag vor allem für all diejenigen gelten, die Konersmanns publizistische Hochleistung der letzten Jahre im Gebiet der lange vernachlässigten Disziplin der Kulturphilosophie schätzen. (Wärmstens empfohlen seien en passant die wissenschaftlich fundierte und zugleich verständliche „Einführung in die Kulturphilosophie“ in der Junius-Reihe oder aber auch die Sammelbände kulturphilosophischer Grundlagentexte im Felix Meiner-Verlag).

Man kann rückhaltlos sagen, dass die Leistung über das Gewährleistete hinausgeht, und dies ist den insgesamt achtundfünfzig Beitragenden zu verdanken, die in annähernd siebzig Artikeln einen umfassenden Überblick über alle Aspekte der Kulturphilosophie bieten. Die verwandten Disziplinen und Strömungen werden auch in den Blick genommen, so werden zum Beispiel die Abgrenzung zur Anthropologie sowie das Verhältnis zur Kulturwissenschaft und Interkulturalität thematisiert. Bemerkenswert ist dabei das exzellente Autorenteam, das der Herausgeber für die Handbuch-Mitarbeit gewonnen hat und das bis auf wenige Ausnahmen namhafte Lehrstuhlinhaber und Lehrstuhlinhaberinnen vorwiegend aus dem Fachbereich Philosophie, aber auch aus Fachbereichen wie Germanistik, (Kunst-)Geschichte, Kultursoziologie, Politikwissenschaft und Theologie umfasst.

Als vergleichsweise junges Fach ist die Kulturphilosophie ad interim noch weit davon entfernt, über einen Kanon der Denker, Begriffe oder Referenztexte zu verfügen. Erwartungsgemäß ziehen Handbücher Bilanz, dokumentieren Erträge und Resultate. Das vorliegende Handbuch weiß sich solchen Erwartungen verpflichtet, nimmt doch wegen des behandelten Gegenstandes eine Sonderstellung ein, denn es spannt ein offenes Netz über ein Fach auf, das sich gerade „in der entscheidenden Phase seiner Konsolidierung“ (VII) als wissenschaftliche Disziplin befindet. Für diejenigen Leser, die mehr fordern als ein nützliches Handbuch, das alles in der komfortablen Darstellung der Viten, Werken und Definitionen versinkt, ist der ungewöhnliche Typus, dem man hier begegnet, hochinteressant: Es ist ein solides Nachschlagewerk und ein vielstimmiger Forschungsbeitrag zugleich. So tritt der spannende Umstand mit auf, dass das „Handbuch Kulturphilosophie“ unmittelbar Teil jener Konsolidierungsgeschichte ist, von der es spricht.

In der durchaus lesenswerten Einleitung bietet der Herausgeber einen Kurzabriss der Geschichte der Kulturphilosophie und markiert einige entwicklungsgeschichtlichen Hauptstationen, die von dem frühesten Auftreten des Begriffes „culturphilosophisch“ (Gottfried Semper) über die begriffliche Neuerfindung des späten 19. Jahrhunderts (Ferdinand Tönnies, Ludwig Stein) hin zu seinem „Explizitwerden“ im Zeichen des Neukantianismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (Georg Simmel, Ernst Cassirer, Paul Tillich) führen.

Eine Philosophiegeschichte im herkömmlichen Sinne ließe sich im Falle der Kulturphilosophie nicht festschreiben. Folglich werden die systematischen Voraussetzungen auf dem (westlichen) Boden der Neuzeit in den Fokus genommen, während die antiken Auffassungen einer impliziten Kulturphilosophie im Hintergrund bleiben. Aufgezeigt werden einerseits der vorläufige Bruch in der „Linie der kulturphilosophischen Theorieentwicklung“ nach ihrem systematisierenden Auftreten als „Philosophie der symbolischen Formen“ Ernst Cassirers, andererseits die Wiederaufnahme der Kulturphilosophie seit den 80er-Jahren in den Kreis der akademischen Interessen, was sich nicht zuletzt in der Würdigung durch sorgfältige Werkausgaben und neue Forschungsarbeiten zeigt(e).

„Der Streit darüber, ob es so etwas wie eine verbindliche Liste von Autoren und Texten geben soll, über deren Kenntnis definiert werden kann, ob jemand zu einem Gebiet zugelassen wird oder nicht, ist so alt, wie die Versuche, einen solchen Kanon zu kodifizieren“, schrieb einmal Dirk Kaesler. Mit Nachdruck sei hier betont, dass der Herausgeber des vorliegenden Handbuches sich keine Lizenz zur Kanonisation kulturphilosophischer Klassiker anmaßt, denn das Ziel der hier präsentierten Auswahl ist ein viel bescheideneres: Die Chance des Handbuchs Kulturphilosophie liege eher darin, „ausdrücklicher noch als vergleichbare Überblickswerke die magistralen Linien des Gegenstandsfeldes überhaupt erst zu ziehen, in einem einzigen Band zusammenzuführen und allgemein zur Diskussion zu stellen.“ Somit ist das Handbuch weniger um Vollständigkeit als um Repräsentativität bemüht, denn „Ein Handbuch, das sein Themengelände kartographiert und Schwerpunkte festlegt, ist eine Verzichtübung.“ Nichts in diesem Handbuch ist dem Zufall überlassen, denn genauso wohl überlegt wie die „Verzichtübungen“ sind auch die Einfügungen: Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Hans Blumenberg und Michel Foucault wurden, wenn auch sie sich selbst nie als Kulturphilosophen bezeichnet haben, zu Recht in das Gesamtgefüge des Handbuches einbezogen.

Der Eröffnungsteil „Thematische Schwerpunkte“ umfasst fünf Schlüsselbeiträge zu den Stichwörtern „Kulturphilosophie“, „Kultur und Kulturbegriff“, „Kulturwissenschaft“, „Interkulturalität“ und „Kulturkritik“, in denen es den Autoren vor allem um terminologische Präzisierungen und disziplinäre Berührungsfelder sowie um die Profilierungsbedingungen des kulturphilosophischen Denkens geht. Die Darstellungen und Argumentationen tragen jener Auffassung von Kultur Rechnung, die in der Einleitung auf die Formel „Kultur als die Welt des freigestellten Menschen“ gebracht wurde.

Im Anschluss an den thematischen Eröffnungsteil orientieren sich die Darstellungen stärker an Personen, so dass mit dem Teil „Klassische Positionen“ die aus der Sicht des Herausgebers wichtigsten Namen die Reihe der Inspirationen (III.1.Vorgeschichte bis 1900: Vico, Rousseau, Kant, Herder, Schiller, Hegel, Nietzsche), die Reihe der Gründungsinitiativen (III.2., Gründungsphase 1900-1945: Simmel, Dewey, Cassirer, Heidegger, Wittgenstein, Gramsci und Benjamin) und der Aktualisierungen seit 1945 (III.2, Philosophische Anthropologie, Kritische Theorie, Claude Lévi-Strauss, Hans Blumenberg, Foucault, Richard Rorty) erschließen. Die quantitative Bevorzugung Ernst Cassirers (drei Beiträge würdigen sein Denken) lässt eine Akzentsetzung erkennen, die aber zugleich als „vorläufig“ und von der weiteren Entwicklung des Faches abhängig angesehen wird.

Der vierte Teil spricht eine „Systematik der Übergänge“ an, die fließende Querverbindungen zu den Bereichen Architektur, Design, Geschichte, Gesellschaft, Kunst, Moral, Natur, Politik, Religion, Rhetorik, Sprache, Technik, Wirtschaft und Wissenschaft thematisiert. Hier sei beispielsweise auf den kompetenten Beitrag von Birgit Recki verwiesen, der das Implikationsverhältnis von Kultur- und Moralphilosophie bei Rousseau und Kant näher betrachtet und anschließend den Gedanken des Menschen als normativen Wesen bei mehreren Autoren des 20. Jahrhunderts exemplarisch verfolgt.

Der fünfte Teil bietet eine alphabetisch sortierte Auswahl an kulturphilosophisch relevanten Begriffen, die von „Bedeutung“ und „Entfremdung“ über „Gewalt“ und „kulturelle Tatsache“ bis hin zu „Welt“, „Zeichen“ und „Zeit“ reichen. Die Beiträge gerade dieses Teils (und des vierten ebenso) zeigen sich als sehr anregend und anschlussfähig, denn sie eröffnen breite Möglichkeiten für die weitere wissenschaftliche Diskussion.

Im letzten Teil des Handbuches, „Metaphern für Kultur“, geht Ralf Konersmann auf die metaphorische Ausdrucksstärke des Kulturphilosophierens ein, die er unter einer doppelten Zugriffsweise fasslich werden lässt: einerseits als eine Rhetorik des Habens, die sich in einer „Possessivmetaphorik: cultura culturata“ auflöse, und andererseits als eine Rhetorik des Machens und Hervorbringens, der Arbeit und der Aktion, die in einer „Prozessualmetaphorik: cultura culturans“ sichtbar werde. Die erste metaphorische Redensart zeigt Konersmann exemplarisch an Epiktet und Seneca, führt aber auch die Verwerfung und Umwertung des Besitzdenkens bei einem Bacon, Rousseau, Lessing oder am schärfsten bei Benjamin vor Augen. Für den Wechsel der metaphorischen Referenz bezieht sich der Verfasser verstärkt auf Simmel und Cassirer und verweilt bei der prozessualen Kulturmetapher des ‚Gartens‘. Vorgelegt wird hier ein sehr lesenswertes Schlusswort.

Erkenntnis fordernde und differenzierte Darstellungen, gute Lesbarkeit, übersichtliche Gliederung – in dieser Schicht liegen die Verdienste des Buches. Der umfassende Kulturbegriff, der die Beiträge durchgehend prägt, wird dem Leser den ganzen Reichtum des Gegenstandes erschließen helfen. An allen Einzelbeiträgen des Bandes schließen sich kurze aber wesentliche Literaturverzeichnisse, die die Grundlagentexte und entsprechende Forschungsliteratur aufnehmen. Hinzu kommt die Auswahlbibliografie im Anhang, die sich auf Forschungsliteratur beschränkt. Die Register am Ende des Bandes – Personen, Begriffe und Sachen, Metaphern – enthalten rund 2.800 Einträge, die dem Leser sicherlich als „Navigationssysteme“ im kulturphilosophischen Theoriegelände dienen werden.

Das „Handbuch Kulturphilosophie“ ist jedem zu empfehlen, der in eigenen wissenschaftlichen, journalistischen oder politischen Arbeiten kulturphilosophische Aspekte aufgreift: ein idealer Begleiter für alle Studierenden, ein hilfreiches Lehrwerk für Dozierende und eine Fundgrube für die Liebhaber.

Titelbild

Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2012.
465 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023698

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