In die Welt gevögelt ohne fliegen zu können

Über den sechsten Band der Werkausgabe von Werner Schwab: „Fäkaliendramen“

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Fäkaliendramen“ – aha, der Titel, ja, was verspricht er eigentlich oder besser gefragt: wie abschreckend ist er? Ein kleines Gedankenspiel vorab: Ein schöner und erwartungsvoller Theaterabend, viele Menschen flanieren in die heiligen Hallen des Kulturbetriebs, sind elegant gekleidet, riechen viel zu intensiv nach Rasierwasser, Parfüm und Kosmetika. Sie geben ihre Jacken und Mäntel an der Garderobe ab und visieren pflichtbewusst mit dem Läuten der Klingel ihre Plätze an. Das Stück beginnt. Nach geraumer Zeit verdunkelt sich das Bühnenlicht und der Theatersaal erhellt sich allmählich, Applaus, Pause.

Die Verstörung und das Entsetzen sind einigen Besuchern noch deutlich anzusehen, was mit dem genüsslichen Schlürfen eines Gläschens Sekt langsam verschwimmt und schwindet. Wenigstens hier herrscht Einigkeit zwischen Zuschauer und Werner Schwab, der sich mit über 4 Promille in der Silvesternacht 1993 zu Tode getrunken hat. Das Läuten ertönt abermals, aber anstatt den Sitzplatz mit der entsprechenden Nummer anzusteuern, verirren sich einige zum Stehplatz und tauschen gegen eine Nummer ihre Garderobe ein. Kulturverdrossen stapfen sie nun aus der Bruchbude, die einst das Gute, Wahre und Schöne vermittelte. Aus Sehen und Gesehen werden ward auf Nimmerwiedersehen – zumindest bis zur nächsten Aufführung, dann aber bitte wieder Goethe oder ähnlichem Klassikerkonsens, der ja gefallen muss. So oder so ähnlich könnte es manchen – hoffentlich nicht allzu vielen – Theaterbesuchern bei der Inszenierung eines von Werner Schwabs „Fäkaliendramen“ ergehen.

Nun ja, was des einen Freud, ist des andern Leid. Der Rezensent freut sich über den sechsten der elfbändig angelegten Werkausgabe von Schwab, der jüngst von Ingeborg Orthofer und Lizzi Kramberger revidiert, korrigiert und neu zusammengestellt herausgegeben wurde. Erfreuen darf man sich aber auch daran, dass neben den klassischen „Fäkaliendramen“ das Stück „Der Himmel Mein Lieb Meine sterbende Beute“ in die Auswahl mit aufgenommen worden ist. Erfreuen darf man sich nicht zuletzt an diesen sprachgewaltigen Stücken, die unter anderem auch Ekel transportieren und das Derbe in Perfektion zeigen, an ihrem Hass, ihrer Radikalität, ihrer Absurdität und Groteske, an den verbalen und formalen Entgleisungen oder den Obszönitäten und Perversionen. Nicht umsonst zählt Schwab – neben Peter Handke und Wolfgang Bauer – für Clemens J. Setz zu einem der großen experimentellen und avantgardistischen Schriftsteller der Grazer Gruppe, die für ihn allesamt „das Formzertrümmernde, das Betrunkene, das Wildtorkelnde“ verkörpern. Diese Beschreibung trifft für Schwabs Stücke vollkommen ins Schwarze.

„Die Präsidentinnen“ handelt von drei Frauen – Erna, Grete und Mariedl – mit ihren alltäglichen Problemchen und Wünschen. Die erste der drei Szenen präsentiert den Ist-Zustand: die sparsame Erna, die Mindestpensionistin, ist traurig, da ihr fast vierzigjähriger Sohn Herrmann ihr einfach kein ersehntes „Enkerl“ schenken will, dabei „könnte er so leicht Verkehr haben in der heutigen Zeit.“ Ihre Zuneigung zum Metzger Karl Wottila (!), der ihr bezüglich Herrmann und dessen „alkoholisierter Leber“ rät, ihm viel Leberkäs zu kredenzen, wird nicht erwidert. Auch kann sie zu Zeiten von Papst Johannes Paul II. nicht ihren „Glauben mit einem Sex und den Hauferln vereinigen“, wovon Grete, die Pensionistin, immerzu spricht.

Nach einem herrlichen Streit zwischen Grete und Erna – „wenn ich eine Hur bin, dann bist du eine zugenähte Klosterschwester“, so Grete –, ist es die fleißige und harmoniebedürftige Mariedl, die „wieder eine Nächstenliebe“ aufbaut. Die jüngste der drei Frauen setzt ihre allseits bekannte Arbeitskraft leidenschaftlich gerne dazu ein, um verstopfte Aborte wieder frei zu machen – und wie: niemand muss ihr einen Gummihandschuh reichen, jeder weiß, „die Mariedl macht’s auch ohne“, und warum auch nicht, „wenn der Herrgott die ganze Welt angeschafft hat, dann hat er auch die menschliche Jauche erschaffen.“

Spätestens jetzt weiß man, warum die Sammlung den Titel „Fäkaliendramen“ trägt. In der zweiten Szene flüchten die Protagonistinnen in ihre Fantasie und Träume hinein, bis die Mariedl sie alle aufweckt, aber, so Erna, es muss sein: „Man muß die Wahrheit aushalten können, Grete, mit festen Füßen muß man der Wahrheit in die Augen schau’n, auch wenn die Füß’ geschwollen sind.“ Wenn sie wüsste, was noch alles kommt! Das Unheil nimmt seinen Lauf…

Das Wirtshausstück „ÜBERGEWICHTIG, unwichtig: UNFORM“ ist eine Parodie auf die Kneipengespräche und das abgehobene Bürgertum – verkörpert durch das schöne Paar –, das sich absichtlich in einfältige Kaschemmen verirrt, um eine Show zu erleben. Eine delikate Rolle werden sie letztlich spielen. Das Personal könnte nicht besser dargestellt sein: Wir haben Schweindi und Hasi, die gerne Kinder haben möchten, dafür „muß der Schweindi aber einmal eine Erregung bekommen“, die doch eher bei den Schuljungen auftaucht als bei seinem Hasi. Dazu kommen Karli, ein grobschlächtiger, triebhafter, animalischer Prolet, und Fotzi, die zwischendurch auch mal das Maul aufmacht und „nicht nur das Loch“, oder Jürgen – Pädagoge und selbsternannter Sozialwissenschaftler –, der das „Würstel als Metapher kultureller Solidarität“ sieht, ihr zudem einen „Symbolwert“ zuspricht, wenn er, der geistig arbeitende Mensch, an „einen schlichten Würstelstand“ tritt und so mit den „wirklich nur sogenannten einfachen Menschen“ in Kontakt gerät. An Weisheiten fehlt es hier keineswegs. Neben den typischen verbalen Entgleisungen, dem Obszönen, Kannibalismus, Perversen und Stumpfsinn entwickelt das Stück doch neben den vollkommen grotesken Zügen und Unterhaltungen eine Dynamik zwischen Objekt- und Metasprache, mit dem „dieses gottverfluchte Arschfotzenleben“ betrachtet wird, in dem das Personal steckt. Für dieses muss „eine eigene Hölle“ erfunden werden, wie Herta, die sich als reine Jungfrau stilisieren wird, konstatiert. Die Persiflage an christlichen Ritualen und Symboliken wird mit ihr auf die Spitze getrieben.

In „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“ schaltet Schwab einen Gang zurück – und es beruhigt, dass neben all der sprachlichen Provokation und Radikalität seinem Schreiben auch andere Qualitäten innewohnen. Zwar wurde der Klumpfuß Herrmann Wurm, der gemeinsam mit seiner Mutter lebt und gerne mit seiner Malerei ein „waschechter Grazkünstler“ wäre, von seinem Vormund sexuell missbraucht oder die Töchter des Ehepaars Kovacic werden als dralle, geile Frauen dargestellt, bei denen der eigene Vater ganz gerne mal grabscht, aber es nimmt doch nicht überhand. Vielmehr wird der Fokus auf die Bewohner des Mehrfamilienhauses gelegt und Frau Grollfeuer, der Hausdrachen, glänzt mit einer wundervollen Hasstirade: „Am liebsten habe ich schon immer alles gehaßt. Der kosmopolitische Haß ist die eigentliche Menschenbereitschaft. […] Das furchtbarste, was es geben kann, ist das Volk … und jede Widerstandskraft ist ein fauliges Talent. Man strapaziert seine Leber um eine Erträglichkeit. Man trinkt sich hinein in ein Verständnis. Meine Leber war umsonst. Meine Leber war sinnlos.“ Aber was in der Fiktionslogik tatsächlich Sache ist, dafür hat Schwab, wie bereits in „ÜBERGEWICHTIG, unwichtig: UNFORM“, einen Kniff parat.

Vertrackter wird es hingegen bei „Mein Hundemund“. Der Drecksmaulsepp ist ein „alter krächzender Scheißkerl. Ein überempfindlicher Selbstvernichter. Eine optisch übelriechende Person als gottlose Beleidigung“, die den Hauptteil des vier Szenen umfassenden Stücks in freier Versform und ohne Interpunktion in einem schier endlosen Monolog wettert, bevor er vor den Hund geht. Seine Sprache ist das „Grunzen der eigenen Innensau“. Seine Frau hingegen – „sauber und streng geschürzt“ – spricht in einem eher gehobenen Duktus, ebenfalls in Versform. Bereits der in jeder neuen Zeile in Großbuchstaben stehende Wortbeginn hebt sie formal von ihrem Drecksmaulsepp ab. Der Sohn wiederum hat durch seinen in Prosa fixierten Part eine weitere formale Eigenheit als Ausdrucksform. Wie Schwab zu dem Stück vorab über die Sprache sagt: „Man kann eben nichts als die Sprache“ und darin liegt auch die Besonderheit von „Mein Hundemund“.

Das letzte – und nachträglich zu den „Fäkaliendramen“ zugeordnete – Stück „Der Himmel Mein Lieb Meine sterbende Beute“ ist neben all der Groteske und dem anfänglichen Vulgären das sensibelste des Bandes. Herrmann Wurm, mittlerweile Kunstmaler und bekannt für seine „Schleimfiguren unbemannt und abwaschbar“, streitet zu Beginn mit seiner Braut Anna Rottweiler, nachdem sie beide „heute Nacht aber eindeutig einen eindeutigen Geschlechtsverkehr aufgebaut, der einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen“ hat, denn die Anna „erwarte täglich das springende Ei“. Mit dem Eintreffen von Axel Dingo, Herrmanns Galerist, und Cosima Grollfeuer, einer reichen, schönen und arroganten Kunstsammlerin, in die sich Herrmann zudem verliebt, beginnt der Absturz des Malers. Sagt er aus künstlerischem Hochmut, dass er ein „ichiger, michiger und seinshaftiger Einzelmensch geworden“ ist, bekommt dieser Ausdruck später eine Bedeutungsschwere. So bleibt letztlich nur zu fragen: „Müssen wir wirklich alle an den anderen Menschen sterben wie an einem Krebs? Sterben die Menschen denn wirklich an den Menschen?“

Zugegeben, dem Leser wird mitunter einiges abverlangt, vor allem eine dicke Haut gegenüber dem Vulgären, aber mal ehrlich: müssen es denn immer Goethe oder Schiller sein? In den „Fäkaliendramen“ – so derb es darin auch manchmal zugeht – wird selbst mit und durch die gewaltige und metapherndurchtränkte Sprache und dem Reichtum an Neologismen eine radikale Sprachkritik und -reflexion entwickelt. Außerdem spielt Schwab mit dem Spiel im Spiel und stimmt in einen Abgesang auf den Menschen und dessen Stumpfsinn ein. Fast allen Figuren ist eines gemein: Sie „sind in die Welt gevögelt und können nicht fliegen“. Es muss doch auch mal geschimpft werden dürfen – und das macht Schwab in unnachahmlicher Weise. Allein die Vorabbemerkungen zu jedem Stück, was Sprache bewirken und wie sie funktionieren soll, warnt vor den „Sprachproblemstellungskommando[s]“, die einen erwarten und einem auflauern. Schwabs Anspruch ist, dass „alles, was möglich ist, als Sprache möglich sein muß“. In seinen Stücken ist „alles an sich Widerstand“, den der Leser letztlich auszubaden hat. Schwabs Ruf als „Sprachberserker“ kommt nicht von ungefähr. Selten bekommt man so viel Theater wie in diesem Band geboten.

Titelbild

Werner Schwab: Fäkaliendramen. Die Präsidentinnen;ÜBERGEWICHTIG, unwichtig: UNFORM; Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos; Mein Hundemund; Der Himmel Mein Lieb Meine sterbende Beute.
Herausgegeben von Ingeborg Orthofer und Lizzi Kramberger, mit einem Nachwort von Helmut Schödel.
Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
328 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208402

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