Kurze Kurzgeschichten

Über Lydia Davis’ Erzählungenband „Formen der Verstörung“ und andere Prosa

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwie gibt es da eine Verbindung: Lydia Davis ist in den USA bekannt als preisgekrönte Übersetzerin wortgewaltiger Autoren wie Proust und Flaubert, andererseits verfasst sie Kurzgeschichten, die manchmal nur wenige Zeilen umfassen. Die Verbindung dieser an den verschiedenen Enden der Literatur angesiedelte Extreme könnte sein: Sie hat eben wenig Zeit, weil die französischen Herren so viel schrieben. Vielleicht ist ihr der Roman, dem nicht zuletzt Balzac den Tod voraussagte, da er die Industriegesellschaft kaum mehr abbilden könne, auch keine zeitgemäße Form mehr. Dagegen spräche freilich Davis eigener Roman „Das Ende der Geschichte“ von 1995 (dt. 2009), dem mäßiger Applaus hinterherwehte. Allerdings: Seit sie 1987 einen eher eingeweihten Kreis mit „Break it Down“ begeisterte, hören die Lobeshymnen für ihre äußerst knapp gearbeitete Kurzprosa nicht auf. Nun ist Lydia Davis für diese Arbeiten mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet worden.

Im lose überblickten Durchschnitt halten sich Lydia Davis Prosastücke bei zweieinhalb Druckseiten, der Literaturkritiker James Wood vom New Yorker nennt sie auch „short short stories“. So notiert Davis unter der Überschrift „Idee für einen kurzen Dokumentarfilm“: „Vertreter verschiedener Nahrungsmittelfirmen versuchen ihre eigenen Verpackungen zu öffnen.“ Und fertig. Scheinbar füllt Davis ein paar Zeilen mit isolierten Gedankensplitter und rasch notierten Eindrücken, die Kurzgeschichten verharren oft und brechen ab, nachdem sie kaum begannen. Manchmal lassen sie sich deshalb mit den Notizen in Georg Friedrich Wilhelm Lichtenbergs Sudelbüchern vergleichen. Nur zeigt Davis ihm seine Grenzen auf, denn genau in der Umkehr von Lichtenbergs Diktum ist es nämlich wirklich eine Kunst, etwas kurz zu sagen, wenn man was zu sagen hat.

Denn Lichtenbergs Aphorismen pendeln stets irgendwo zwischen Humor, Literatur und Philosophie – und grade das vermeidet Davis. Nichts an ihrer Prosa will ins Sentenzhafte, es gibt keine Moralistik. Im Gegenteil: Die Schwelle zum Großen und Ganzen bleibt sorgsam unberührt, nichts folgt Lichtenbergs Drang zum Paradoxen, Mehrdeutigen und zur ironischen Wortspielerei. Lydia Davis blickt nach Innen und findet dabei ironischerweise vieles von der „Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen“, die Theodor W. Adorno dem Roman des 20. Jahrhunderts als politischen Auftrag vorschlug. Nur ist sie damit nicht beim kapitalismuskritischen Phamphlet angekommen, sondern in einer Form von surrealem Assoziationsraum der auf den Leser übergreift. So lässt uns bereits die Überschrift „Meat, My Husband“ aus „Almost no Memory“ (1997) einerseits eine Erzählung über die Essgewohnheiten des Gemahls erwarten, andererseits tropft schon die Resignation aus der Überschrift, der lautmalerisch auch „Lernen Sie meinen Ehemann kennen“ entspricht.

Wir lernen diesen aber erst einmal anhand der gesunden, mageren und aufwändigen Küche der Erzählerin selbst kennen, der er deftige Vorlieben entgegensetzt. Eigentlich geht es ums Kochen, dahinter eröffnet sich allerdings ein ganzes Universum von Missverständnis, Streit und schließlicher Leere. Mit dünnen Worten über Essen sublimiert Davis das ganze Leben in der Beziehung selbst, die Mühen, dem Partner zu gefallen, die Enttäuschung, die sich hintenherum einschleicht, die Rollenverteilung, der Sex – ohne auch nur einen Millimeter aus der Küche herauszutreten: „Ich habe ihn erlebt, wie er über gewisse Speisen ganz aus dem Häuschen geriet – aber fast nie bei dem, was ich ihm vorsetzte.“

Lydia Davis Sprache ufert nicht aus, Details, Kommentar und Metatexte spart sie sich. Vielmehr ist sie genau, indem sie redundant und fahl die Szenen der Ehe, der Kindererziehung, oder das Alltagslebens herausarbeitet. Sie geizt mit Adjektiven, Beschreibungen sind ihr ein Graus.

Die Geschichten haben nur einen minimalen narrativen Rahmen, oft genug muss diesen einzig die Überschrift leisten, die dann zum Beispiel „Mrs. D. und ihre Hausmädchen“ heißt. Personen treten darin nur durch ihre Handlungen auf. Und genau genommen werden diese Handlungen auch nicht erzählt, sondern eher im Protokollstil präsentiert oder als Innenansicht der Handelnden erlebt: In der Kurzgeschichte um Mrs. D. folgt nach der Kapitelüberschrift „Es folgt ein ungutes Ereignis“ einzig: „Endlich bin ich Anna, diesen Griesgram los.“ Und schon geht es weiter.

Diese Innenansichten und wechselnden Perspektiven weisen dabei nicht auf die Aussparungen hin, das „ungute Ereignis“ tritt völlig in den Hintergrund und ist sofort uninteressant. Was wirkt, ist die karge Sprache, mit der wir in die vom Absurden geprägte Welt gezogen werden. In ihr gibt es die „Südstaaten-Herzlichkeit und Flexibilität des Negerdienstmädchens“, und Mrs. D. kämpft schwer darum, endlich eine passende Haushälterin zu finden. Dieser Kampf, wie auch die literarischen Ambitionen von Mrs. D., ihre „vielen anderen kreativen Projekte“ stehen um ein vieles nackter vor uns, als sie dies mit genauen Beschreibungen täten. Und schon wird das Kindermädchen zur Projektionsfläche für das Unfertige, das wohl aus den ‚anderen kreativen Projekten‘ herüberschwappt. Dabei spielt Davis in vielen Erzählungen mit autobiografischen Anspielungen – und hält sie sich mit einem Lächeln doch weit genug vom Leib.

In „Meat, My Husband“ erfasst sie deshalb die Rolle der Frau im Licht der männlichen Kommentare, indem sie sich selbst als Köchin porträtiert: „Das ist eines meiner Probleme als Köchin – dass ich mich nicht darum kümmere, jedes Ding so zu tun, wie es getan werden müsste.“

Und am Ende vom Lied, nun, ein einziges Mal war der Ehemann begeistert, nämlich vom Nachtisch. Allerdings: Er selbst hatte die Nachtisch-Birne in den Kühlschrank gelegt und damit dem Rezept entsprochen: „Und ich lerne allmählich, dass er immer dann, wenn er bei der Zubereitung involviert ist – wenn wir schon dabei sind – geneigter ist, es zu mögen.“

Vielleicht ist es die Knappheit, das Unmittelbare der Sprache, oder der Umstand, dass sie auch mal den Einszunull-Stil des Nachrichtenteils einer Provinzzeitung kopiert: Wer Lydia Davis liest, geht mit ihr eine Weile durch den Alltag, projiziert ihre karge Beobachtung auf die nerven Selbstdarsteller in Form von Hipstern oder Prenzlauerbergmütter. Schlimmer noch, mit Davis geht der Blick geht auch nach Innen und siehe da: Vielleicht übernehmen wir auch gerne das Würzen in der Küche, finden das Essen der Freundin sonst etwas fad? Lydia Davis Geschichten verändern, sie stellen die subtilen Absurditäten aus, ihre Sprache legt sich wie ein Kontrastmittel über den Alltag. Lydia Davis ist ansteckend.

Allerdings ergibt sich daraus auch eine der größten Schwierigkeiten: Nicht, dass die Übersetzungen, die Klaus Hoffer für den Droschl Verlag besorgt, schlecht wären. Sie ist aber auch nicht besonders gut. Wer das englische Original parallel liest, kann viele Kleinigkeiten entdecken, die bei Hoffer verloren gegangen sind, oder überzeichnet werden. Hoffers Sprache ist ausufernder, sie scheint die ewigen Widerholungen nicht auszuhalten, mit der sich Mann und Frau streitlos ihre hartnäckige Differenz beweisen. Bei Hoffer wird aus dem or anything else for that matter, mit dem Davis im letzten Satz andeutet, dass ihr Ehemann wohl nicht nur mit dem Essen nur dann zufrieden ist, wenn er selbst eben seine Finger im Spiel hat, ein nachlässiges „oder so“. Zwar liegt Hoffer selten richtig falsch, nur fehlt ihm oft das Gespür für die Satzrhythmen, die Selbstbezüge, oder auch die Geduld für die Kargheit, mit der Davis schon in der Form Mittler von Inhalten ist. Manchmal ist guter Rat allerdings teuer: Aus „Meat, My Husband“ macht Hoffer: Fleischliche Liebe.

Der Titel ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwer es ist, Davis gerecht zu werden. Während sie viele kulturelle Aspekte konnotiert, müssen sie im Deutschen bezeichnet und oft genug erklärt werden. Genau der Unterschied zwischen Konnotation und Denomination unterschlägt viele der feinen kulturellen Zwischentöne, die Davis verwendet. Ganze Geschichten sind darauf aufgebaut – wie anders, denn als Illustration für den seltsamen US-amerikanischen Drang noch die absurdesten Alltagsdinge irgendwie zu messen und in einen Wettbewerb zu überführen, soll man den „Geschmacks-Contest“ verstehen, bei dem das Einrichtungsgeschick von „Ehemann und Ehefrau“ von einer Jury bewertet wird? Und auch wenn hier die Übersetzung keine Fehler macht, bleibt sie im Ton fad – es fehlt schlicht die tägliche Hysterie des Wettbewerbs, die jede Logik sprengenden Fernsehshows, dieser Grundpegel an absurdem Rauschen, in dessen Kontrast die kühle Ironie des „Geschmacks-Contests“ hervortritt.

Gerade diese Feinheiten zeichnen Lydia Davis aus, die darüber eine Erzählform kultiviert, die sich scheinbar schnell liest, dafür aber langsam den Blick auf die Welt verändert.

Titelbild

Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Erzählungen.
Literaturverlag Droschl, Graz 2008.
182 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207351

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Lydia Davis: Das Ende der Geschichte. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer.
Literaturverlag Droschl, Graz 2009.
255 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207610

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Titelbild

Lydia Davis: Formen der Verstörung. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer.
Literaturverlag Droschl, Graz 2011.
273 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207849

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