Unter dem Pflaster der Spuk

Der Autor, Anarchist und Vagabund Jacques Yonnet gibt sich in „Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen“ als munterer Chronist seiner Stadt Paris zu erkennen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das größte Buch, das je über Paris geschrieben wurde“, soll der Pataphysiker Raymond Queneau über die „Rue des Maléfices“ von Jacquet Yonnet gesagt haben. Auch wenn Queneau als Herausgeber dieses Buches kein unverfänglicher Zeuge ist, darf das Zitat dennoch ernst genommen werden. Im Laufe der Geschichte sind zahllose Bücher über Paris geschrieben worden: marktgängige Wiederholungen der gängigen Klischees, aber auch sehr persönliche Darstellungen. Kaum eines von ihnen taucht aber derart tief in die subkutanen Strukturen dieser Metropole ein.

Aus urbanen wie militärischen Überlegungen wurde Mitte des 19. Jahrhunderts unter Federführung des Barons Haussmann ein Netz aus breiten Boulevards über Paris gelegt, die bei Aufständen leicht zu verteidigen waren. Ob der Nonkonformist Jacques Yonnet je auf einer dieser Achsen gesichtet wurde, ist nicht belegt. Denn Yonnet war in den Zwischenräumen dieser Ordnungs- und Machtstruktur zuhause, in den verwinkelten, versifften, verschatteten Vierteln, vor denen selbst die Nazis während der Besatzung 1940-1944 zurückschreckten. Im Zentrum, stellvertretend, die Rue des Maléfices, die Straße der Verwünschungen im fünften Arrondissement. Sie trug in der Geschichte viele Namen, heute heißt sie Rue Xavier-Privas und lässt noch immer etwas von der Atmosphäre erahnen, die Jacques Yonnet beschreibt.

Seine „geheime Chronik einer Stadt“ setzt im Jahr 1941 ein. Der Journalist Yonnet war im Sommer 1940 von den Deutschen verwundet und gefangen genommen worden. Bei der ersten Gelegenheit glückte ihm jedoch die Flucht und er fand Unterschlupf in den engen Gassen von Paris: in den minderen Quartieren „La Maubert und la Montagne, La Mouffetard und Les Gobelins“, wo sich Lumpensammler, Säufer, Huren, Irre, Ganoven und Spitzel herumtrieben. In dieser „hinterhältigen Ecke der Hauptstadt gibt es viel Kneipen, in denen das Nachtleben zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens“ stattfindet, während offiziell Ausgehsperre herrscht. Das kümmert die Leute hier nicht sonderlich. In Flunkergeschichten und Anekdoten porträtiert Yonnet die Bewohner in diesem Viertel. Beispielsweise den Bestatter Monsieur Casquette mit seiner Dienstmütze, der ohne es zu wollen ein Todesbote ist; oder die Katzenfrau Mina, die eines Tages mit einem einäugigen Kater verschwindet und nur zwei in sich verknotete Katzenfelle zurück lässt. Vieles klingt mysteriös an diesen Geschichten.

Im Viertel herrscht der Geist des übel beleumdeten Balladensängers François Villon. Vor allem der größte Gauner in der Gasse mit dem Übernamen „Tanz-Weiter“ gibt allenthalben Villon-Verse zum Besten. Darüber hinaus lässt Tanz-Weiter hin und wieder seine Beziehungen zur Unterwelt spielen, um Yonnet und seinen Résistance-Kumpanen zu helfen. Ein aufrührerischer Trotz und „unwahrscheinlicher Zusammenhalt“ eröffnen hier auch dem politischen Widerstand Freiräume, wozu sich der anarchistische Journalist Yonnet zählt – nicht aus „festen Überzeugungen“, sondern aus natürlicher Feindschaft gegenüber jeder Herrschaft wie die der Nazis. Eine „stimulierende Dosis an Gefahr, Risiko, Gewalt“ zählt mit dazu – stets im Bewusstsein, dass ein solcher Kampf nie ungefährlich ist. Kriminelles und Politisches verquicken sich.

Im Herz ist diese Chronik jedoch eine „Initiation in die geheimnisvollen Strömungen, die die Stadt in ihren verborgensten Adern pulsieren lassen“. Selbst Yonnet, „der Skeptiker, der Desillusionierte, der Blasierte, der Neinsager, der ,Anarchist‘“, muss sich eingestehen, dass nicht nur Wunderliches, sondern Wunder geschehen. Tanz-Weiter lüftet ihm gegenüber den Schleier des Zaubernetzes, das die Stadt im Innern zusammenhält und dem der Chronist Yonnet als „eine Art Detektiv auf der Jagd nach dem Faktum“ auf die Schliche zu kommen versucht.

Ein rätselhafter Repräsentant dieser Geheimnisse ist der „Alte von nach Mitternacht“. Wenn immer es in einer Kneipe im Streit hoch zu und her geht, sitzt er nach Mitternacht auf einmal da und besänftigt mit seinem Spruch die Gemüter. Doch bevor sich der Skeptiker Yonnet versieht, ist er schon wieder spurlos verschwunden. Wider Willen wird Yonnet schließlich selbst zum Opfer der Leichtgläubigkeit und damit zum Täter. Als er einen neuen Mitkämpfer in die Résistance einführt, entpuppt sich dieser als übler Spitzel, so dass ihn der Erzähler selbst richten muss, um Schaden abzuwenden.

1944 endet die Epoche der Résistance in Paris, doch die Rue des Maléfices behält weiter ihren Zauber. „Im Bemühen, der Wahrheit so nah we nur möglich zu kommen, habe ich im Lauf der vorangehenden Kapitel nichts anderes getan, als die Verkettungen von Ereignissen verschiedenster Natur aufzuzeichnen, die alle mehr oder weniger beunruhigend sind“

„Rue des Maléfices“ ist Yonnets bestes und eigentlich einziges Buch geworden, das legendär ist wegen seiner Geschichten und vielleicht mehr noch wegen seiner Sprache. Dieses urbane Argot bleibt letztlich unübersetzbar, wie die Herausgeberin und Übersetzerin Karin Uttendörfer im Nachwort selbst eingesteht. Ihr Versuch, das Buch trotzdem in deutscher Sprache zugänglich zu machen, darf trotz einkalkulierter Verluste als gelungen bezeichnet werden. Sie lässt die Atmosphäre im Bauch dieser Stadt nochmals aufleben, ohne künstlich aufgesetzes Vaganten-Idiom.

Titelbild

Jacques Yonnet: Rue des Maléfices, Straße der Verwünschungen. Die geheime Chronik einer Stadt.
Übersetzt aus dem Französischen von Karin Uttendörfer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
445 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215557

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