Die Lust an der Improvisation

Der Tango Argentino steht für Leidenschaft und Sinnlichkeit. Dass er neben Gefühls- auch Gefängnis-Mauern überwinden kann, zeigt das belgisch-französische, tragikomische Drama „Tango Libre“

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Ein Paar tanzt. Nicht irgendein Paar: zwei Männer. Nicht irgendeinen Tanz: einen Queer Tango. Nicht irgendwo: im Knast und ohne Musik. Der Tanz ist kraftvoll, elegant, wild, virtuos, gleichzeitig ungezügelt und kontrolliert. Eben noch haben die Mitgefangenen jene Szene skeptisch beäugt, da werden sie schon mitgerissen vom Feuer des Taktes, beginnen mit den Fingern zu schnippen, auf Stühle zu trommeln, zu klatschen. Vielleicht gibt es perfektere Vorstellungen, aber nie wirkte ein Tango derart befreiend. Eine Ahnung von Anarchie weht durch die vergitterten Fenster.

Beinahe ungläubig schaut Gefängniswärter Jean-Christophe (François Damiens), nur JC genannt, zu. So hat er, der unauffällig Unbeholfene, noch nie getanzt. Dabei ist Tango sein Hobby. Sein einziges, wohlgemerkt. Ansonsten lebt er einsam und gleichmäßig vor sich hin wie sein 15 Jahre alter Goldfisch. Bis er im Tangokurs Alice (Anne Paulicevich) trifft, die er am folgenden Tag wieder im Gefängnis sieht, wo sie sowohl ihren Ehemann Fernand (Sergi López) als auch ihren Geliebten Dominic (Jan Hammenecker) besucht. JC, der nicht einmal in der autofreien Einöde bei Rot über Kreuzungen fährt, ist völlig verwirrt von dieser Zwanglosigkeit. Und ungeheuer fasziniert. Womöglich hat das Leben doch mehr zu bieten als Fischefüttern und Eistee-Zubereitung.

Giros – Gewagte Drehungen

Im Gegensatz zu anderen Standardtänzen kennt der Tango keine starre Choreographie. Seine Elemente sind vielmehr ganz im Geiste der Improvisation frei kombinierbar. Dieses Prinzip hat das Drehbuch von Anne Paulicevich (unter Mitarbeit von Philippe Blasband) übernommen, indem es schillernde Charaktere entwickelt und dramaturgische Überraschungen bereithält. Sieht alles zu Anfang nach einer Ménage-à-trois zwischen Alice, Fernand und Dominic aus, in der JC zum passiven Beobachter degradiert ist, tritt plötzlich Alices halbwüchsiger Sohn Antonio (Zacharie Chasseriaud) auf. Während der Gefängnisbesuche samt Mutter wird er vom Vater zum väterlichem Freund weitergereicht, auf dass seine Erziehung einen männlichen Impuls erhalte.

Einem Kammerspiel ähnlich, visuell in enge Kadrierungen mit vielen Close-ups eingeschlossen, überzeugt „Tango Libre“ zunächst als eigenwilliges Familiendrama aus dem Blickwinkel eines Unbeteiligten. Nachdem jedoch Fernand als Zugeständnis an seine tangoliebende Gattin im Knast bei einem Argentinier (Mariano ,Chicho’ Frúmboli, einer der Gründer des Tango Nueva) Tanzunterricht zu nehmen beginnt, heitert sich der erzählerische Grundton merklich auf. Musikalisch gesprochen wandelt sich der ernste Tango in seine leichtere, fröhlichere Variante ‚Milango’. Trotzdem kommt es zweimal zur Beinahe-Tragödie, weil sich Gefühle und zwischenmenschliche Verbindungen nicht ständig neu zusammenstellen lassen wie Tangoschritte.

Äußerst gewandt passt sich die unaufgeregte Regie des Belgiers Frédéric Fonteyne (unter anderem „Une liaison pornographique“, 1999) dem Rhythmus des mutablen Drehbuchs an, lässt die komplizierte Beziehungslage nicht an ihrer Komplexität ersticken, sondern öffnet sich souverän den ‚Launen der Natur’. Diese sind hier in der Unberechenbarkeit wie Unvereinbarkeit von Emotionen begründet. Trotz seiner Schüchternheit verliebt sich JC eben doch in Alice und komplettiert damit ein Quintett, das alle Konventionen beziehungsweise Gender-Grenzen ignoriert. Eine Frau und vier Männer: Ehemann, Sohn, Geliebter sowie Verehrer, deren Schicksal untrennbar verwoben ist. Bevor sie dies ahnen, verrät es bereits der kluge Schnitt von Ewin Ryckaert, wenn die fünf Protagonisten in fließenden Parallelmontagen zusammengerückt werden.

Jeder einzelne von ihnen ist ein vielschichtiger Charakter, was die Kamera durch Fragmentierung der Körper betont. Wenn etwa tanzende Beine zu sehen sind, geht von denen eine ganz andere Energie aus als von den verunsicherten Blicken – als ob der Tango das Verborgene im Menschen freisetzt. Tatsächlich erscheint der feiste Fernand zunächst recht grob, erweist sich aber bald als wahrer Freund gegenüber Dominic, dessen Sensibilität gen Verzweiflung neigt. Alice wiederum ist ebenso wenig erwachsen wie ihr Sohn noch ein Kind, zelebriert aber eine Autarkie, die nur für Mutige reserviert bleibt. Zu denen gehört JC definitiv nicht. Gleichwohl hat er die Seele des Tangos verstanden.

Einmal erklärt der Argentinier seinen Knasti-Schülern, dass Tango Verführung, Erde, Melancholie, Leben und Blut sei – und Freiheit. Das zu tanzen bleibt JC mit seiner ungelenken, verkrampften Art verwehrt. Aber er wird es (aus-)leben.

Colgadas – Verlagerung der (Lebens-)Achse

Das in jeder Hinsicht überzeugende Kleinod „Tango Libre“ ist selbst ein Tango, schwermütig und hitzig, präzise und vital. Auf kluge Weise erforscht es die Facetten von Nähe und Distanz, Gefühl und Ratio, Wunsch und Wirklichkeit. Die Leidenschaft flackert nicht hoch, sondern brennt tief. Ähnliches ließe sich auch über die herausragende Schauspielkunst der Hauptdarsteller sagen. Die Integrität ihrer Figuren verraten sie nie an leere Posen, wiewohl sie deren emotionale Zerrissenheit durch intensive Körpersprache potenzieren.

Gleich dem Tango, der das Unerwartete zelebriert, erlaubt sich dieser kaum vorhersehbare Film, zuletzt vom Drama in die Tragikomödie zu gleiten. Hierfür bietet er eine der kuriosesten, vielleicht gar besten Geiselnahmen der Filmgeschichte. Das ist abenteuerlich, absurd, außergewöhnlich. Wie Tangotanzen im Gefängnis. Und genauso beglückend improvisiert.

Titel Tango Libre
Regie: Frédéric Fonteyne

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