Der entscheidende Moment

Leo Schestows Philosophie ist ein Erlebnis zwischen Trauma und Offenbarung – zwei seiner ins Deutsche übersetzten Werke zeigen dies in unterschiedlicher Intensität

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gabriel Marcel sagte über den russisch-jüdischen Philosoph Leo Schestow (1866-1938), „il frappe où il n’y a pas de porte“, er klopfe, wo es keine Tür gebe. Schestow, so ist überliefert, war mit dieser Beschreibung äußerst zufrieden.

Eine weitere Charakterisierung stammt vom polnischen Dichter und Nobelpreisträger Czeslaw Milosz, der betonte, Schestow, gelernter Jurist aus einer Kaufmannsfamilie, der nach der Oktoberrevolution im Pariser Exil lebte, habe sich nie der freundlichen Indoktrination westlicher Universitäten ausgesetzt, daher sei es ihm stets egal gewesen, ob das, was er über die großen Philosophen sage, gegen die Regeln des akademischen Spiels verstoße. Dennoch – oder gerade deswegen – sei er der wahrscheinlich „lesbarste Philosoph des Jahrhunderts“.

Und Milosz war es auch, der für seinen Essay über Schestow den wunderbaren Titel „The Purity of Despair“, die Reinheit der Verzweiflung, wählte. Denn nicht das Staunen, wie oft kolportiert, sondern die Verzweiflung steht für Schestow am Anfang der Philosophie. Wer nur staune, dem gehe es im Grunde noch viel zu gut, als dass er sich dauerhaft mit nutzloser Metaphysik oder anderen garstigen Fragen quälen würde, etwa, warum Gott selbst seine treuesten Knechte martert, wie der Fall Hiob zeige.

Doch nur diese großen, diese letzten Fragen, das „Maximum an Metaphysik“ interessiert Schestow. Nur jene Denker, die keine Ruhe finden und bei klarem Bewusstsein ihren Schädel gegen die stumme Wand der unlösbaren Probleme schlagen. Und stets stellt er ihnen dieselbe Frage: Was hat sie auf die Suche nach Erkenntnis geführt, welche persönliche Wahrheit drückt sich darin aus?

Lew Tolstoi und Friedrich Nietzsche sind zwei dieser nicht zu besänftigenden Heroen Schestows, die er in seinem frühen Werk von 1900 „Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren“ in dieser für ihn so typischen Weise behandelt: Paraphrasierend tritt er scheinbar hinter der Position der Autoren zurück, leiht sich deren Stimme, wobei zunächst der Eindruck entsteht, als komplettiere, verdeutliche, profiliere er lediglich deren Intention. Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Hebammenkunst allerdings als sehr subtil, vielschichtig und alles andere als unschuldig. Denn Schestow fertigt seine Montage nach eigener Intuition und sein Zugriff ist von einer Direktheit, die in akademischer Hinsicht unseriös, in literarischer aber entwaffnend wirkt.

Was auf diese Weise entsteht, liest sich wie dramatische existenzphilosophische Narrative oder wie ein Streitgespräch, das in seinem Ausgang zwar offen, aber von drängender Wichtigkeit zu sein scheint. Es ist Schestows schriftstellerisches Talent, seinen Texten die Lebendigkeit einer spontanen Rede zu verleihen und sie gleichzeitig zu einem existentiellen Drama zuzuspitzen, in dem „dreitausend Jahre Philosophiegeschichte sich quasi zu einem entscheidenden Moment verdichten“ (Milosz).

In enger Verwandtschaft zu Nietzsches Genealogie befragt Schestow intellektuelle Positionen stets nach ihrem Ursprung im Leben.Philosophische Erkenntnis erscheint ihm so vor allem als Kompensation und Notbehelf. Er würde daher wohl Ludwig Wittgensteins Rat zustimmen, sie nach Gebrauch wegzuwerfen wie eine Trittleiter, über die man hinausgestiegen ist. Da der Besitz an Gewissheiten jedoch notorisch überschätzt und eifersüchtig verteidigt wird, diagnostiziert Schestow einen Diskurs, in dem „die Dominanz der Richtigkeit gegenüber der Wahrheit“ herrscht, wie es Felix Philipp Ingold im Vorwort zu „Siege und Niederlagen“ treffend formuliert. Gemeint ist in Schestows Sinne die Dominanz der Allgemeingültigkeit gegenüber der individuellen Wahrheit. So bieten sich gemäß Schestow, salopp formuliert, dem Denker nur zwei Wege: Die Reinheit der Verzweiflung oder die Rechthaberei.

Doch was soll falsch sein am Rechthaben? Ist doch Rechthaberei ein so billiger wie irrelevanter Vorwurf gegen jemanden, der: tatsächlich recht hat. Schestow sollte nicht als Saboteur eines vernünftigen Diskurs verstanden werden. Vielmehr weiß auch er, dass es Empirie und Logik sind, die Erkenntnisse nach der Art „strenger Wissenschaftlichkeit“ (Edmund Husserl) hervorbringen. Doch die drängenden letzten Lebensfragen bleiben davon unberührt. Der Philosoph, der Antworten auf sie sucht, sich ihnen zumindest nähern will, muss den gesicherten Pfad der Objektivität und Eindeutigkeit verlassen. Und genau bei diesem Grenzübertritt ist Schestow zur Stelle, schaut ihm über die Schulter und zeigt, dass die Sache nun – da Objektivität weiterhin behauptet, aber nicht mehr möglich ist – zwangsläufig nicht nur ungewiss, widersprüchlich und verworren wird, sondern vor allem auch persönlich.

Hier findet Schestow sein ureigenstes Sujet. Das vernunftgeleitete erkenntnistheoretisches Projekt schlägt um in den Ausdruck persönlicher Existenz. Schestow will wissen, ob sich der Denker nun zu allgemeingültigen Sätzen flüchtet, zu predigen beginnt, sich hinter objektiven Geltungsansprüchen versteckt? Oder ob es ihm gelingt, „unter vollständiger Öffnung des Leibes und der Seele zu schreiben“ (Franz Kafka) und der Welt tatsächlich ein neues, nämlich sein eigenes Wort zu sagen? Wem dies gelingt, zollt Schestow kurz Respekt, um dann aber festzustellen, dass das Ergebnis bei Lichte besehen völliger Widersinn und eigentlich unannehmbar sei.

Wozu dann das Ganze? Boris Groys weist scharfsinnig daraufhin, dass Schestow, ähnlich wie Wittgenstein, Philosophie als „armen Diskurs“ betreibt, der „nicht expandiert“ und kein Wissen produziert. Beide, in ihrem Stil so grundverschiedene Philosophen, richten ihre Aufmerksamkeit auf jene schmale Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen alltäglicher und wissenschaftlich-vernunftlogischer Sprache. Während Wittgenstein jedoch den Grenzverlauf von der sagbaren Seite her auslotet und den transzendenten „Unsinn“ meidet („die Grenzen meiner Sprache sind die Grenze meiner Welt“), springt Schestow ohne Zögern mitten hinein ins Unmögliche. Doch genau wie Wittgensteins Untersuchungen bleibt auch Schestows „Maximum an Metaphysik“ stets ein „armer Diskurs“, der die Kraft zur Verkündigung längst verloren hat und – weil er die Veränderung im Leben, nicht in der Lehre sucht – auch gar nicht haben will. Die Spannung, die davon ausgeht, dass der Zugriff nicht möglich ist, die Vermittlung scheitert und somit der Zweifel wächst, ist bei Schestow das Potential des sprachlichen Zeichens, das er auszureizen versucht.

Jenseits dessen scheint es bei Schestow eine Intuition zu geben, dass die Verzweiflung – sofern sie eine Verflüssigung erstarrter Denkmuster bedeutet – auch Nährboden für ein neues Leben sein kann: Wer es vermag, sich vorbehaltlos in den Abgrund zu schwingen, so könnte man Schestow verstehen, hat die Chance, lebendiger, spiritueller wieder daraus hervorzukommen oder gar: „mit Gott reden zu lernen“. Oder um es mit einem von Schestows bevorzugt zitierten Psalmen zu sagen: „De profundis clamavi ad te Domine“, „aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir“ (Psalm 130).

Dieses Ineinandergreifen von Monotonie und Dramatik, von Trauma und Offenbarung macht die Schestow-Lektüre zu einem Erlebnis. Gerade „Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren“ bietet sich für alle an, denen die erste Begegnung mit Schestow noch bevorsteht. Zudem versammelt die Ausgabe gleich mehrere lesenswerte Sekundärtexte, unter denen Groys Essay „Die Krankheit Philosophie“ besonders heraussticht. Der Band „Siege und Niederlagen“ stellt Aufsätze aus verschiedenen Schaffensperioden Schestows zusammen, herausgegeben und erstmals ins Deutsche übersetzt von Felix Philipp Ingold. Dabei soll die Entwicklung „einer agnostischen, amoralischen, asozialen, alogischen Philosophie des Absurden“ innerhalb Schestows Schaffen nachvollziehbar gemacht werden, was als anspruchsvolles Vorhaben gelten kann. Neben dem einleitenden Vorwort hat Ingold auf der Verlagsseite von Matthes und Seitz unter dem Titel „Zum Ende denken. Annäherungen an den russischen Philosophen Leo Schestow“ einen sehr lesenswerten Text veröffentlicht, der Schestows Werk mit großer Kenntnis, dicht und umfassend zugleich beschreibt.

Titelbild

Leo Schestow: Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren.
Übersetzt aus dem Russischen von Nadja Strasser.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 1994.
304 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3882212667
ISBN-13: 9783882212662

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Titelbild

Felix Philipp Ingold (Hg.): Siege und Niederlagen. Für eine Philosophie der Literatur von Shakespeare zu Teschechow.
Übersetzt aus dem Russischen und Einleitung von Felix Philipp Ingold.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
358 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783882219708

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