Von der Freiheit der Meinungsänderung

In „Eine italienische Kindheit“ erzählt Roberto Zapperi von seiner Kindheit im italienischen Faschismus – und wie er zum Historiker wurde

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Schreiben über ideologisch verminte Zeiten wie es die 40er-Jahre in Italien waren, ist es natürlich höchst verlockend, die Perspektive eines Kindes einzunehmen: Vorurteilsfrei, jenseits aller politischen Korrektheit, spricht es aus, was die indoktrinierten Erwachsenen nicht mehr zu denken in der Lage sind. Dass Roberto Zapperi in seinem autobiografischen Werk „Eine italienische Kindheit“ dieser Verlockung des scheinbar bedingungslos Subjektiven nicht erliegt, ist ein Verdienst.

Gewiss sind es die persönlichen Erfahrungen und Sichtweisen des jugendlichen Roberto, die den Leser berühren, Identifikation fördern: Die verwunderte Begeisterung des Jungen für den deutschen Soldaten, der auf einmal in der Wohnung steht, weil er für eine Telefonleitung Kabel in einem Stadtteil Catanias installieren muss und sich dabei wie ein Trapezkünstler von Haus zu Haus bewegt. Die Faszination, mit der der junge Roberto die perfekte Choreografie der deutschen Soldatenmärsche verfolgt. Die trotzige Unversöhnlichkeit, mit der er den amerikanischen Soldaten begegnet, die bei einem Luftangriff seinen Bruder getötet haben, was Roberto ihnen nie verzeihen kann, mögen sie auch zu den „Guten“, zu den Befreiern gehören.

Doch Roberto Zapperi ist zu sehr Historiker, um diese persönlichen Erfahrungen zu verabsolutieren, sie unbefragt gelten zu lassen. Er versucht vielmehr, die Eindrücke des Kindes rückwirkend zu verstehen, was natürlich leicht in einen verklärenden Duktus münden könnte, bei dem nicht war, was nicht sein darf. Zapperi entgeht dieser Gefahr allerdings durch seinen gänzlich unaufgeregten Ton, der nicht der einer souveränen Rückschau ist, die über die Geschichte verfügend das Kind Roberto „korrigiert“, sondern vielmehr ein Tonfall, der die Aufrichtigkeit der Erklärungssuche bezeugt, wie immer das Ergebnis ausfallen mag.

Und so wirkt es durchaus überzeugend, wenn Zapperi als Ursache für die Faszination, die die „disziplinierten“ deutschen Soldaten auf den jungen Roberto ausüben, die sizilianischen Verhältnisse anführt, die von einer erstickenden, weil völlig unsolidarischen Unordnung geprägt waren. Denn er präsentiert diese nicht als entlastende Rechtfertigung, sondern als Hintergrund, den es mitzudenken gilt, möchte man Robertos Sichtweise, sein Bedürfnis nach Ordnung, nachempfinden. Dass ein gewisser Laxismus (nicht nur in Sizilien) auch eine wohltuende „Insensibilität“ gegenüber faschistischer Propaganda mit sich brachte, verschweigt Zapperi dabei ebenso wenig wie die historischen Ursprünge sizilianischer Verhältnisse, die er in modernen Entwicklungen entzogenen feudalistischen Strukturen ausmacht.

Man mag diese Erklärungen und Begründungen plausibel finden oder nicht, sie stehen jedenfalls zur Diskussion und sind damit das genaue Gegenteil von Tendenzen, die Zapperi bei Autoren wie Tomasi di Lampedusa ausmacht, die die sizilianischen Verhältnisse unter dem Namen „sicilianità“ mit einer Aura umgeben, die sie der Kritik entzieht. Schlechte Verhältnisse zum Charme umzudeklarieren ist Zapperis Sache nicht. Das mag mitunter sehr nüchtern erscheinen, wird der Umgebung aber viel eher gerecht: Denn was nicht bewundert werden muss, braucht auch nicht verachtet zu werden.

Als der junge Roberto mit seiner Familie aus dem unsicher gewordenen Sizilien zunächst nach Lucca, dann nach Rom flüchtet, freut er sich durchaus, die ihn bedrückende Heimat hinter sich zu lassen. Insbesondere den außerhalb von Sizilien unverkrampfteren Umgang zwischen den Geschlechtern bemerkt der junge Roberto sogleich und empfindet diesen Kontrast zu seiner Heimat als durchaus befreiend. Er nimmt aber ebenso deutlich wahr, dass seine neuen Wohnorte nicht in jeder Hinsicht angenehmer für ihn sind. So leidet er in Rom sehr darunter, als Sizilianer diskriminiert zu werden – was Zapperi mit der prägnanten Feststellung erläutert, dass die römische Gesellschaft aus geschlossenen, fast undurchlässigen Zirkeln besteht, der jahrtausendealten kosmopolitischen Tradition Roms zum Trotz.

Doch diese erfahrene Ablehnung führt weder dazu, dass Roberto Rom in Bausch und Bogen verdammt, noch dazu dass er sich auf seine sizilianische Herkunft, auf die er nunmehr reduziert wird, „besinnt“ und auf einmal zum stolzen Sizilianer würde. Roberto bleibt vielmehr bis zuletzt „unparteiisch“, nicht aus Gleichgültigkeit oder weil er seine Enttäuschungen nicht wahrhaben möchte, sondern weil seine Neugierde stets die Oberhand gewinnt.

Dass aus ihm ein Historiker wurde, ist insofern nur folgerichtig, und treffend ist damit auch Zapperis Formulierung „Erinnerungen eines Historikers“, die er sozusagen als Gattungsbezeichnung in den Anfangssätzen von „Eine italienische Kindheit“ anführt. Dass der Leser bei der Lektüre dieser Erinnerungen viele historische Fakten erfährt, über den Kriegsverlauf in Italien, die Resistenza in Rom und die Armut der Bevölkerung in den Kriegsjahren, ist bei einer solchen Gattungsbezeichnung nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich ist aber, dass die vielen historischen Fakten, obwohl nicht immer sachte in den Erzählfluss integriert, der Einheit des Textes keinen wirklichen Abbruch tun.

Vermutlich liegt dies daran, dass es Zapperi gelingt, ein Einverständnis zwischen dem jungen Roberto und dem erwachsenen Historiker zu vermitteln. Ein Einverständnis, das keineswegs darin besteht, einer Meinung zu sein, sondern darin, bereit zu sein, seine Meinung zu ändern. Diese Haltung mag nicht spektakulär klingen. Aber sie schenkt eine gewisse Freiheit, von der Roberto Zapperi regen Gebrauch gemacht hat. Dass ihn sein Weg dabei nach Deutschland führte – Zapperi forschte nicht zuletzt über Goethe, lernte akribisch Deutsch, wobei er seine Frau, die deutsche Übersetzerin Ingeborg Walter kennenlernte, schrieb später lange für die FAZ – ist sicher den historischen Umständen des 20. Jahrhunderts geschuldet. Dass diese Freiheit aber in allen historischen und geographischen Kontexten wertvoll ist, auch davon erzählen die Erinnerungen Zapperis, des Jungen aus Catania.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Roberto Zapperi: Eine italienische Kindheit.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ingeborg Walter.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
176 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406620928

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch