Unspektakuläre Abenteuer als intellektueller Hochgenuss

In Olga Martynovas Roman „Mörikes Schlüsselbein“ warten Gedankenspuren darauf, entdeckt zu werden

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit die 1962 in Sibirien geborene, in Leningrad aufgewachsene und 1991 nach Deutschland gezogene russische Lyrikerin Olga Martynova deutsche Prosa schreibt, hat eine kometenhafte Karriere begonnen: Ihr Roman-Debüt „Sogar Papageien überleben uns“ stand 2010 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis und auf der Shortlist des Aspekte-Preises. 2011 erhielt sie den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Ihr zweiter Roman „Mörikes Schlüsselbein“, mit dessen Kapitel „Ich werde sagen: ,Hi!‘“ Martynova 2012 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, führt diese makellose Erfolgsbilanz fort.

„Ein guter Roman muss heute eine mühsame Lektüre sein, unberechenbar, vom Geschmack des Publikums nichts wissend“: Was der russische Dichter Fjodor Stern als Qualitätskriterium den von allen Seiten manipulierten Menschen bieten will, trifft auch auf den Roman, dessen Protagonist er ist, zu. Olga Martynova fügt viele kleine unspektakuläre Abenteuer, „Nicht-Ereignisse“, zu einem Ganzen zusammen und sagt durch ihre intellektuellen Figuren, wie sie sich Schreiben vorstellt. Sie lädt den Leser ein, verschiedenen „Gedankenspuren“ mit „verschlüsselten schöngeistigen Botschaften“ zu folgen, bietet ein Netz miteinander verknüpfter Protagonisten verschiedener Generationen und kultureller Bereiche. Die deutsch-russische Familie des Literaturprofessors Bach steht im Mittelpunkt der Erzählungen. Nach 20 Jahren verliebt er sich erneut in die für einen europäischen Kulturfond arbeitende Marina, hatte zwischenzeitlich aber mit einer anderen Frau die Kinder Moritz und Franziska in die Welt gesetzt. Franziska studiert Kunst, und Moritz wird den Weg des Vaters gehen und dessen Leben in der Zukunft literarisch verarbeiten. John Perlmann, ein amerikanischer Slawistikprofessor mit Geheimdienstvergangenheit, ist eng mit Fjodor Stern, einem russischen Dichter, verbunden, übersetzt dessen Werke und vertritt ihn gar bei Unpässlichkeit auf einer Lesereise in den USA. Natascha, Partnerin und Muse Fjodors, hat es früh vom Lande in eine alternative Leningrader Wohngemeinschaft und später in intellektuelle Kreise gezogen, in denen auch Pawel, der chinesische Gedichte rezitieren kann, aber vergisst, ob er den Wasserhahn zugedreht hat, und seine Tonja, eine Balletttänzerin und -lehrerin, verkehren.

St. Petersburg, Leningrad, die USA, Frankfurt, Tübingen oder die sibirische Taiga, die Orte der Handlung sind ebenso vielseitig wie die Themen und Geschichten. So soll der kranke alte Professor gegen den Berufsstress etwas tun, was er noch nie getan hat und auch nie vorhatte zu tun – und kommt bei der Suche danach auf wunderbare Ideen. Eine Zeitreise hat John als Geheimagent erlebt: Eine orange-grün gestreifte Decke beförderte ihn ins tiefste Russland, wo der geheimnisvolle Schamane ihn nach einem Klagelied und Stutenmilchschnaps begleitet, denn er muss in die Stadt, um „das Internet für die nächsten drei Monate zu bezahlen“.

Zu den teilweise skurrilen Geschichten gehört auch die vom Schlüsselbein des Spätromantikers Mörike, die Geschichte von einer Agentur, die Trainings anbietet, um Menschen zu akzeptieren, die einem den Alltag zur Qual machen, oder wenn Professor Bach seine Gedanken vor dem Aufwachen in imaginäre Zeitungsspalten einordnet.

Martynova versteht es, die Geschichten kunstvoll miteinander zu verzahnen, einzelne Themen oder Kleinigkeiten tauchen in anderem Zusammenhang oder als Wiederholung wieder auf. Formal nutzt sie ein Feuerwerk an Hervorhebungen: Sie wechselt zwischen schwarzer und grauer Schrift oder auch einer Schreibmaschinentype, lässt den Erzähler in Klammern kommentieren, schreibt kursiv, streicht Wörter durch, nutzt Aufzählungen in verschiedenen Textebenen („,Grüß dich, Andreas‘, sagte Marina und brachte in den Raum: 1. endlich den Vornamen; 2. Kälte von draußen; 3. zwei Pappbecher Cappuccino. Plus viele Sommersprossen …“), fügt visualisierte Wortbilder und ganze Skizzen in ihren Text ein. Nicht nur Literaturwissenschaftler werden von der allumfassenden Palette an Erzählperspektiven und -zeiten begeistert und verwirrt sein.

Die Autorin lässt ihre gebildeten Figuren mit der Sprache experimentieren, „Geschichten ohne Adjektive“ erzählen, neue Wörter erfinden (Eurocentabsätze, Taschentelefon) oder faszinierende Erkenntnisse („Wolkenkratzer und Kathedralen sind da, damit Menschen den Blick zum Himmel erheben“; „Eine Woche ohne Joint – und schon kannst du Power Point.“) und Weltanschauungen verbreiten: „Jeder Mensch ist eine Art Memory Stick, er sammelt Information, die nach seinem Ableben in den Hauptspeicher kommt.“. Großartig auch die Sprachbilder. Die Gepäckausgabe am Flughafen ist ein „vergrößertes Modell einer Sushibar“, der Knirps Moritz, fasziniert von seiner schicken Tante, „folgte dem Parfüm, wie ein Straßenkater dem Selchwurstgeruch aus einer Einkaufstasche, bis diese im Kofferraum verschwindet und anstelle des Kofferraums eine Auspuffwolke bleibt“, im Internet gibt es „solche, die im Netz nach der Liebe ihres Lebens“ suchen „oder nach Ersatzteilen für ihr altes Automobil“, und der Sowjetunion wird medienmodern ein „Neustart“ oder „Reset“ empfohlen.

Martynova bezieht diese neue Mediensprache ganz situationsbezogen ein. Sie lässt ihre Figuren neben den altägyptischen und chinesischen Weisheiten Selbstmordmöglichkeiten googeln, eine SMS schreiben oder sich einen iPad als Geschenk wünschen. Aber ausgerechnet der digital native, Moritz, will Schriftsteller werden und hatte vom Leiter einer Schülerschreibwerkstatt gelernt: „Wer schreiben will, muss lesen.“

Das hat sich Olga Martynova zu Herzen genommen. Die Werke, Persönlichkeiten und Gedanken von Mörike, Hölderlin, Gogol, Wilde, Canetti, Nabokov, E. T. A. Hoffmann, Kleist, Wittgenstein, Kerouac, Puschkin, Tolstoj, Dostojewskij und vieler anderer durchziehen den Text rhizomartig. Sie machen ihn zu einem liebenswert charmanten, anspruchsvollen Kulturgenuss – eben mühsam zu lesen, als Gütezeichen erzählerischer Qualität.

Titelbild

Olga Martynova: Mörikes Schlüsselbein. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2013.
319 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208419

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