Von Licht und Literatur

Jón Kalman Stefánssons Roman „Das Herz des Menschen“ übersetzt uns Island

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Lichter sind Botschaften, die das Leben schickt“, so hat Jón Kalman Stefánsson in seinem Roman „Der Schmerz der Engel“ geschrieben. Manchmal ist es schwierig, noch an die Möglichkeit des Lichts zu glauben, wenn alles so hartnäckig dunkel ist. Das mag auf Island noch unumstößlicher gelten als im vielleicht zwar nicht gerade mediterranen Deutschland, das aber immer noch als klimatisch gemäßigt gelten darf, im Gegensatz zum rauen Klima auf der kleinen Insel. Vor allem aber mag diese Einschätzung womöglich auch metaphorische Gültigkeit für sich beanspruchen: als vermeintlich treffende Beschreibung des isländischen Wesens, das, so stellt man sich vor, von Schwermut, Nachdenklichkeit und einer gewissen Zurückhaltung geprägt ist.

Das mag zutreffen oder auch völlig aus der Luft gegriffen sein – man entkommt diesen Vorstellungen von Island nicht, wenn man den neuen Roman von Jón Kalman Stefánsson liest, einem der – leider – wenigen bekannten Autoren Islands, dessen Bücher in zahlreiche Sprachen übersetzt werden und der so als ein literarisches Aushängeschild der Insel gelten muss. „Hjarta Mannsins“ ist in isländischer Sprache bereits 2011 und in diesem Jahr nun unter dem sehr getreu übersetzten Titel „Das Herz des Menschen“ im Piper-Verlag in einer Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig auch auf Deutsch erschienen. Es ist der abschließende Roman einer Trilogie, die Jón Kalman (die isländische Höflichkeit verbietet das Bezeichnen von Personen nur mit dem Nachnamen – bevorzugt wird der Vorname benutzt, eine Praxis, der ich auch hier folgen werde) 2007 mit „Himnaríki og helviti“ (deutsch: „Himmel und Hölle“) begann, der bereits den Ton für die gesamte Serie vorgab. Es ist eine eher getragene Erzählweise, gepaart mit einem poetischen Stil, vielen Sprachbildern und an Naturlyrik geschulten deskriptiven Passagen der isländischen Landschaft.

Der Plot ist schnell erzählt: Ein namenloser Junge – der uns als Protagonist durch die gesamte Trilogie führt – bricht mit seinem Freund Bárður wie gewohnt zum Fischfang auf, ein Unwetter führt zur unweigerlichen Katastrophe, Bárður kommt tragisch ums Leben, und der Junge schlägt sich durch Island, plötzlich allein und mit der Sterblichkeit und dem Ich im Angesicht der unwirtlichen Natur konfrontiert. Auf seiner Wanderung über die Insel lernt er sich und die Menschen kennen, er reflektiert über das Leben und die Eingefasstheit dieses Lebens zwischen Himmel und Hölle. Nicht zufällig bildet Miltons „Paradise Lost“ eine literarische Vorlage für diese poetische Selbst- und Fremderfahrung, ein intertextueller Verweis, der sich wie ein roter Faden durch die Trilogie zieht. In „Harmur Englanna“ (deutsch: „Der Schmerz der Engel“) begegnet der Junge dem Postboten Jens, den er fortan bei der Erledigung seiner Arbeit im isländischen Winter begleitet, immer auf der Suche nach etwas Wärme, Licht und einem Kaffee, bis die beiden plötzlich, unvermittelt und mehr zufällig, eine Leiche durch den Schnee transportieren müssen. Ein Buch, das „mit seiner ebenso eleganten wie intensiven Erzählweise eine hervorragende Erweiterung des isländischen Horizontes“ sei, hatte Nadine Ihle es damals in literaturkritik.de genannt und damit sicherlich sehr Recht gehabt, war es doch eine notwendige und lesenswerte Fortführung des Auftaktbandes.

Mit dem „Herz des Menschen“ nun begleiten wir den Jungen weiter, nach den überstandenen Abenteuern mit Jens sich in einem Fischerdorf erholend und – nach dem Tod, der Fragilität des Lichts im Angesicht der Dunkelheit – nunmehr dem dritten großen Thema des Lebens begegnend: der Liebe. Schon der erste Satz des Romans führt die Trilogie ihrem Fluchtpunkt zu: „Der Tod ist weder Licht noch Dunkelheit, er ist nur alles andere als Leben.“ Und: „die Worte halten uns warm, sie geben uns Hoffnung; denn wo es Worte gibt, da gibt es auch Leben.“

Im finalen Teil also finden die großen Themen von Leben und Sterben, Licht und Dunkelheit, Liebe und Trauer, ihre Zusammenführung: im Herz des Menschen nämlich, das, so lehrt uns und den namenlosen Jungen der Roman, zwei Kammern habe, „von denen die eine Glück heißt und die andere Verzweiflung“ – und die, so sei verraten ohne zu viel der Spannung zu nehmen, ohne einander nicht existieren können. Es ist etwas fraglich, ob „Das Herz des Menschen“ gelesen werden kann ohne die Kenntnis seiner Vorgänger, es ist zumindest sehr ratsam, die Trilogie in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu lesen, um die Komplexität und Existenzialität dieser epischen Geschichte des Jungen in ihrer Tiefe erfassen zu können. Gleichwohl lässt sich der dritte Teil auch für sich lesen, mit einigen Verständnisschwierigkeiten zu Beginn womöglich, die sich jedoch im Verlauf der Lektüre auflösen.

Die Bedächtigkeit des Erzählens, die sehr genauen Landschaftsbeschreibungen und die vorsichtige Erkundung der Figuren, die behutsame Auslotung ihrer psychischen Zustände ist auch hier wieder auffällig. Jón Kalman hat keinen Roman geschrieben, dem am Berichten von Ereignissen gelegen ist, sondern tatsächlich den Versuch einer Erkundung des Herzens der Menschen vorgelegt, der notwendigerweise immer die ganz großen Themen berührt: Liebe, Tod, Trauer, Verzweiflung, Glück. Wie auch in den vorigen Romanen streift der Text dabei zeitweilig die Grenze zum Pathos, überschreitet sie gelegentlich, muss das vielleicht tun im Angesicht seiner Intention. Es mag daran liegen, dass die inzwischen fast 1.000-Seiten umfassende Geschichte des namenlosen Jungen, die Jón Kalman in rund fünf Jahren geschrieben hat, sich langsam totläuft – doch scheint sich inzwischen auch ein gewisser Hang zum Kitsch Bahn zu brechen, zumindest lässt sich dieser Eindruck bei „Das Herz des Menschen“ nicht ganz von der Hand weisen. Wiederum begegnen wir den immer ein wenig mehr Mut als Verzweiflung in sich tragenden, sinnlichen Frauengestalten, die sehr stolz, voller Würde und Anmut, ihre saufenden und schlagenden Männer ertragen, mit ihnen schlafen, um ein wenig Wärme zu spüren; wiederum begegnen wir den rauen Fischern und Seeleuten mit vom Wetter gegerbter Haut und ausgebleichtem strohigem Haar, die die Wärme am ehesten auf dem Boden eines Schnapsglases finden. Man weiß nicht genau, ob das Island ist oder ob es uns aufgrund unserer vorgängigen Bilder davon so vorkommt, als ob es das sei.

Diese Unentscheidbarkeit hängt mit einer Besonderheit der Trilogie zusammen: Alle drei Romane, und „Das Herz des Menschen“ im Besonderen, sind immer auch eine metafiktionale Auslotung der Grenzen und Möglichkeiten von Literatur, um das, was man Leben nennt, zu verstehen. Es ist kein Zufall, dass Bárður in „Himmel und Hölle“ wegen Miltons Versen seinen Anorak vergisst, was ihn schließlich das Leben kostet. Auch im „Herz des Menschen“ sind die Verweise auf die isländische genauso wie die kontinentaleuropäische Literatur zahlreich: Halldór Laxness’ Erbe ist in fast jedem Satz präsent, selbstverständlich Shakespeare, aber auch Heine und Bürger werden anzitiert oder schimmern in poetischen Beschreibungen durch. Schließlich sind es die Romane von Charles Dickens, die für den Jungen das größte Faszinosum darstellen, ein ganzer Erzählstrang ist seinen Übersetzungsversuchen von „A Tale of Two Cities“ gewidmet. Diese Meta-Ebene ist es, die den Roman davor bewahrt, in den Kitsch abzudriften. Der isländische Literaturwissenschaftler Sölvi Björn Sigurðarsson hat über das Frühwerk Jón Kalmans einmal geschrieben, dass die dörflichen und ruralen Landschaften in seinen Romanen immer wie von einer Schicht literarischer Ideen überzogen seien, die den Texten Laxness’ oder seinem hier fast unbekannten Zeitgenossen Pórbergur Pórdarsons entnommen scheinen.

So erscheine jede Beschreibung weniger realistisch-mimetisch als vielmehr „romanhaft“ im besten Wortsinne: nämlich die literarische Tradition immer mitdenkend. In diesem Sinne ist „Das Herz des Menschen“ auch ein Roman über die Literatur und ihre Kraft, Dinge über das Leben und die Welt zu vermitteln, die vorher unbekannt waren. Deshalb übersetzt der Junge Dickens: um „Wörter zum Brückenbauen“ zu finden, „damit andere, darunter er selbst, sich fremde Welten näher heranholen können, Leben, Gefühle, Dinge, die in der Ferne liegen und von denen wir nicht wussten“. Die Übersetzung als Möglichkeit, sich der Welt anzunähern, wenn man sich auf der kleinen Insel, zudem weitab von der Hauptstadt Reykjavik, isoliert fühlt: Es ist Schleiermacher, der uns in diesen Passagen begegnet, wenn der Lehrer Gísli über Übersetzungen monologisiert: „Die Wichtigkeit von Übersetzungen kann man kaum überschätzen. Sie bereichern einen und erweitern den Horizont. Ein Volk, das wenig übersetzt und alles nur aus dem eigenen Denken bezieht, ist geistig eng. Übersetzungen erweitern den Horizont und damit auch die Welt. Sie helfen dir, fremde Völker zu verstehen. Wen der Mensch kennt und versteht, hasst oder fürchtet er weniger.“

Die Notwendigkeit der Übersetzung in einem Bestseller-Roman zu betonen, ist erstaunlich – und zeigt auch die besondere Lage Islands in der europäischen Literaturlandschaft. Zwar ist, nachdem das Land 2011 Gastland der Buchmesse gewesen war, viel übersetzt worden, und die sehr reiche Literatur der Insel rückte kurzzeitig mehr in den Fokus – dass allein im Gastlandjahr 230 (!) isländische Neuerscheinungen in Deutschland erschienen, mag für sich sprechen –; doch ist das Scheinwerferlicht inzwischen weitergerückt. Dabei gibt es viel zu entdecken, und Jón Kalmans Romantrilogie ist dafür ein sehr empfehlenswerter Anfang, zumal in der wunderbaren Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig.

„Das Herz des Menschen“ ist kein großartiger, aber ein kluger und ein poetischer Roman, der dort Licht hinwirft, wo es geografisch bedingt die weitaus größte Zeit des Jahres dunkel bleibt (auch das ist ein kleiner Mythos: Tatsächlich sind es nur drei Monate, in denen man mit vier Stunden Sonnenlicht quasi durchgehend im Dunkeln lebt) – und uns damit auch die Tatsache vor Augen führt, dass eine solche geografisch bedingte Dunkelheit keinesfalls auch eine kulturelle bedeutet. Island hat eine reiche Literatur, die weit über ausufernde Landschaftsbeschreibungen und schwermütige Menschen hinausgeht. Übersetzungen sind, das zeigt der Roman Jón Kalmans auf wunderbare Weise, der Weg, um sie zu entdecken.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jon Kalman Stefansson: Das Herz des Menschen. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Piper Verlag, München 2013.
415 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055482

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