Schreiben zwischen Wissenschaft und Literatur

Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso: Über eine Neuausgabe der „Reise um die Welt“ und den Sammelband „Korrespondenzen und Transformationen“

Von Simone SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Etablierung des Ecocriticism, eines Ansatzes, der literarische Texte auf ihre ökologischen Implikationen untersucht, ging in den USA die Formierung eines Kanons des ‚Nature Writing‘ voraus. Auch in Europa verzeichnen kulturökologische Perspektiven derzeit eine Art Konjunktur. Die Bildung eines vergleichbaren Kanons steht indessen noch aus. Ob Adelbert von Chamisso neben Autoren wie Alexander von Humboldt, Ernst Jünger, Peter Handke und Günter Grass – um nur einige der offensichtlichsten Beispiele für Schriftsteller, die sich intensiv mit dem Verhältnis von Mensch und Natur befasst haben, zu nennen – in diesem Kanon auftauchen wird, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Es spricht einiges dafür, unter anderem zwei neue Publikationen: Zum einen ist im Herbst 2012 eine aufwändig gestaltete Neuausgabe von Chamissos „Reise um die Welt“ erschienen, die den Autor im naturkundlichen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts situiert; zum anderen stellt ein Sammelband mit dem Titel „Korrespondenzen und Transformationen“ Chamissos interdisziplinäres Schreiben zwischen Wissenschaft und Literatur vor und untersucht zudem bislang wenig berücksichtigte Teile seines Werks.

Die beiden Herausgeberinnen, Marie-Theres Federhofer und Jutta Weber, betonen, dass Chamisso in der germanistischen Kanonbildung vor allem als Lyriker und Autor von „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“ (1814) beachtet worden sei – wenn überhaupt. Demgegenüber stellen sie den „Naturforscher und Zeichner, Ethnologen und Weltreisenden“ vor, mit dem die „Germanistik bislang vergleichsweise wenig anzufangen [wusste], nachdem es ihr erst einmal gelungen war, Chamisso als großen deutschen Autor zu vereinnahmen.“

Neben eher traditionellen Themen der Romantikforschung wie der Vertonung von Liedzyklen, Chamissos Teilhabe an Netzwerken mit anderen Autoren und Wissenschaftlern sowie Übersetzungen, widmet der Sammelband auch eine „Reisen und Forschung“ überschriebene Sektion Chamissos interdisziplinärer Tätigkeit als Naturforscher und Ethnograf. Wie Goethe und Humboldt war Chamisso nie nur Schriftsteller, sondern immer auch Naturwissenschaftler. Obwohl er selbst seine Forschung und das literarische Schreiben im Zuge einer Abgrenzung zur um 1800 bereits verpönten Naturphilosophie streng trennte – „Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinausschweifen zu lassen“ –, ist es durchaus sinnvoll, von einer gegenseitigen Befruchtung von Poesie und Wissenschaft auszugehen. Ein Blick in die gerade erschienene Neuausgabe seines Reisetagebuchs „Reise um die Welt“ liefert hierfür zahlreiche Beispiele.

Vom 30. Juli 1815 bis zum 3. August 1818 umsegelte Chamisso als Botaniker an Bord des russischen Kriegsschiff „Rurik“ unter dem Kommando Otto von Kotzebues die Welt und verfasste anschließend einen Bericht über diese Reise, der ethnografische mit kultur- und sprachwissenschaftlichen Überlegungen kombiniert, auf Forschungsliteratur und Poesie referiert und Naturbeschreibungen, ornithologische Bestimmungen und Tierdarstellungen mit ‚harten Fakten‘ wie Ortskoordinaten, Reisedaten und Angaben zur Reiseroute und den Wetterverhältnissen verbindet. Der Band ist mit 150 sonst schwer zugänglichen Lithografien des Malers Ludwig Choris reich illustriert, was insofern folgerichtig ist, als Chamisso in seinen Ausführungen wiederholt auf diese Zeichnungen verweist und darüber hinaus eigene Skizzen anfertigte.

Über diese Zeichnungen, die in „Korrespondenzen und Transformationen“ teilweise farbig abgebildet sind, schreibt Michael Bienert, sie hätten die Funktion einer „Botanisiertrommel“, in der Chamisso die Pflanzen nach Hause transportierte, um sie dort in Ruhe bestimmen zu können. Die Lithografien zeigen unter anderem Landschaften, Pflanzen und Tiere, aber auch Gerätschaften, Instrumente und Menschen. Da sie den jeweiligen Stationen der Reise chronologisch zugeordnet sind, wirken sie illustrierend. Sie stützen zudem den Eindruck eines transdisziplinären Reiseberichts. Diese Hybridisierung ist durchaus charakteristisch für das Genre des Reiseberichts im 19. Jahrhundert. In seinem Nachwort zur Neuausgabe nimmt der Biologe Matthias Glaubrecht deshalb eine Einordnung des Werks innerhalb dieses Paradigmas vor: Chamisso sei einer der letzten Universalisten gewesen, der „Dichtkunst und Wissenschaft als gleichberechtigte Entfaltungsweisen“ gelten ließ und dabei versuchte, die „empirischen Befunde in allgemeine Richtsätze zu fassen“.

Inventarisierungen und taxonomische Benennungen von Flora und Fauna setzen diesen Zugang zur Natur in eine Schreibweise um, die den gesamten Text prägt und zugleich mit wiederkehrenden rhetorischen Verfahren in Verbindung gebracht werden kann. Unbekanntes wird auf Bekanntes bezogen, Metaphern und Adjektivreihungen verbildlichen die Natur in diesen entlegenen Gebieten. Damit lässt sich am Beispiel der „Reise um die Welt“ zeigen, wie wissenschaftliche und literarische Diskurse um 1800 im nichtfiktionalen Schreiben ineinander greifen. In der Topologie seiner Metaphern rekurriert Chamisso häufig auf Beobachtungswissen. London etwa erscheint ihm als „riesenhafter Menschen-Ameisenhaufen, ein unermeßlicher Menschen-Bienenbau, bei dessen Ansätzen ungleiche Kräfte unregelmäßige Zellen hervorgebracht haben“. An anderer Stelle vergleicht er die Entwicklung eines Menschen mit der in umgekehrter Richtung verlaufenden Metamorphose eines Insekts: Der Mensch „hat in seiner Jugendperiode Flügel, die er später ablegt, um als Raupe von dem Blatte zu zehren, auf welches er beschränkt wird“. Naturwissenschaftliches Wissen über biologische Prozesse wird hier poetisch übertragen und so für den Text fruchtbar gemacht.

Sind Chamissos wissenschaftliche Ansichten inzwischen zum größten Teil überholt, ist sein Reisetagebuch heute als vielgestaltiger literarischer Text wiederzuentdecken. Für den philologischen Gebrauch mag die 1975 im Münchner Winkler Verlag erschienene Ausgabe der gesammelten Schriften Chamissos die konziseren Textkommentare bereithalten, verdienstvoll an dieser von Christian Döring herausgegebenen Edition ist jedoch die längst überfällige Positionierung Chamissos im Kontext der großen Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Dank der Anderen Bibliothek steht Chamisso nun neben Alexander von Humboldt und Georg Forster, deren Reiseberichte als wichtige Vorbilder angesehen werden müssen. Wurden die Reiseberichte des 19. Jahrhunderts literaturwissenschaftlich bislang vorwiegend aus postkolonialer Perspektive gelesen, steht eine Auswertung ihrer ökologischen und naturkundlichen Dimension noch aus. Die neue Ausgabe der „Reise um die Welt“ verspricht, auch dank des ausführlichen Nachworts von Matthias Glaubrecht, einen ersten Anstoß für eine solche Forschung zu geben, indem sie das historische Paradigma sichtbar macht, in dem Chamisso, Humboldt und ihre Zeitgenossen sich bewegten.

Ein ähnliches Anliegen verfolgen auch die Herausgeberinnen des Sammelbandes „Korrespondenzen und Transformationen“, der aus einer 2011 in Paris abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist – dreißig Jahre, nachdem 1981 zu Chamissos 200. Geburtstag auf französische Initiative in unmittelbarer Nähe von Schloss Boncourt das letzte Chamisso-Kolloquium abgehalten wurde, wie Volker Hoffmann im Vorwort bemerkt. Mit Blick auf diese lange Forschungspause wird verständlich, wie nötig zunächst eine umfassende Grundlagenforschung war, zumal die Auswertung und Aufarbeitung von Chamissos Nachlass noch erfolgt und eine vollständige Werkausgabe erstaunlicherweise nach wie vor Desiderat der Forschung bleibt. Hieraus erklärt sich vielleicht auch, weshalb der vorliegende Sammelband neben einem knappen Forschungsabriss auch erste Einblicke in ebendiesen Nachlass bereithält und dabei mitunter selbst akribisch auflistet und auswertet.

Michael Bienert etwa wirft einen Blick in Chamissos Notizbücher, Matthias Glaubrecht beschreibt Chamissos botanische und zoologische Sammlung, die derzeit unter seiner Leitung im Naturkundemuseum Berlin sortiert und dokumentiert wird, und es werden Chamissos bislang wenig berücksichtigte Briefkontakte aufgearbeitet. Die hier versammelten Aufsätze leisten gerade deshalb verdienstvolle Arbeit, weil sie einen genauen Eindruck vom historischen Kontext vermitteln, in dem Chamissos Schreiben stand. Dass aktuelle Forschungstendenzen wie Literaturökologie, ethnologisches Schreiben und ‚Science Writing‘ von den Verfassern nur am Rande gestreift, beziehungsweise gänzlich außer Acht gelassen werden, soll hier entsprechend weniger als Mangel denn als Anstoß für zukünftige Forschung hervorgehoben werden. Literaturökologische Perspektiven bilden ebenso wie wissenschaftshistorische Ansätze mögliche Paradigmen, innerhalb derer sich Chamissos Werk zukünftig gewinnbringend behandeln ließe. Insbesondere eine Auswertung der synergetischen Effekte zwischen Chamissos wissenschaftlichem Empirismus und der Literarizität seiner Sprache, wie sie sich in der „Reise um die Welt“ so eindrücklich zeigen, erschiene philologisch ergiebig. Dass weitere Forschung folgen wird, ist nicht nur zu wünschen, es ist angesichts der Popularität literaturökologischer Forschungsfragen sogar sehr wahrscheinlich. So fand Ende Mai 2013 in Berlin eine weitere internationale Chamisso Tagung zu „Phantastik und Skepsis“ statt. Auch mit Blick auf das sich in den beiden Publikationen dokumentierende, wachsende Interesse an Chamissos Schreiben zwischen Wissenschaft und Kunst dürften sich hieraus eine Reihe von Anknüpfungspunkten ergeben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marie-Theres Federhofer / Jutta Weber (Hg.): Korrespondenzen und Transformationen. Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso.
Herausgegeben von Jutta Weber.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012.
310 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783847100102

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Titelbild

Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2012.
450 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783847700104

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