Das umkämpfte Gedächtnis

„Gegenwart der Vergangenheit“ von Georg Pichler arbeitet spanische Kontroversen nach dem Franquismus auf

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als mutiger katholischer General, der zwar „autoritär“ regierte, dessen Repressionsapparat aber gar keine Erwähnung findet – so wird der Diktator Francisco Franco im 2012 veröffentlichten Spanischen Biografischen Lexikon der Königlichen Akademie beschrieben, von einem früheren Funktionär des Regimes. Dagegen erscheinen die antifranquistischen Widerstandskämpfer an anderer Stelle der mit insgesamt 6,4 Millionen Euro subventionierten Edition als „Wegelagerer und Terroristen“. Die strittigen Lexikoneinträge lösten in Teilen der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus und zeigten einmal mehr, wie gespalten das Land im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit ist.

Georg Pichler trägt in seinem jüngst erschienenen Buch „Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien“ diese und andere Debatten der letzten Jahrzehnte zusammen und schreibt eine fesselnde Geschichte über den Zusammenhang von Geschichte, Gedächtnis und Identität. Das gegenwärtige Spanien hat hier einen beinahe schon mythischen Bezugspunkt: die transición. Doch der viel gerühmte spanische Übergang in die Demokratie wird zunehmend hinterfragt. Die Unabgegoltenheit der Vergangenheit, die dabei zum Vorschein tritt, hat nicht zuletzt mit der Amnestie zu tun, die die gegen die Diktatur verübten „Verbrechen“ im Zuge der transición de facto gleichsetzte mit der unbestraft gebliebenen Folter und Repression des Franco-Regimes.

Lange Zeit galt der gesellschaftliche und von allen wichtigen politischen Kräften getragene Pakt, der nach Francos Tod 1975 die friedliche Transformation des Systems garantierte, als vorbildhaft. Er war das Maximum, was man in der Zeit erreichen konnte, argumentieren seine Verteidiger. Erst im Zuge einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vergangenheit, insbesondere aber mit der öffentlich verhandelten Erinnerung daran, verliert auch die transición ihre Aura. Das Gedächtnis, hier wird die These des spanischen Philosophen Reyes Mate vollends einsichtig, ist gefährlich.

Offensichtlich ist zudem, dass es sich bei dem in Medien, Literatur und anderen Formen der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Aufbrechen der Erinnerung und der erwachten Debatte über den Übergang von Diktatur zu Demokratie um parallele Entwicklungen handelt, die sich gegenseitig bedingen und die vor allem eines offenlegen: die politische Dimension des Gedächtnisses. In deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Diskussionen um das Gedächtnis gerät diese Dimension oft zu kurz.

Dass das Gedächtnis alles andere als eine Privatangelegenheit ist, zeigt Pichler eindrücklich. Es kann selbst als autobiografisches oder als Familiengedächtnis keine Privatangelegenheit sein, wenn es im Kontext von Krieg und Diktatur steht. Der Autor beschreibt anhand eines umkämpften kollektiven Gedächtnisses Schritt für Schritt, umsichtig und engagiert, wie der spanische Bürgerkrieg und die 39 Jahre währende Franco-Diktatur das Land bis in die Gegenwart hinein prägen – in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. Er widmet sich der „Gegenwart der Vergangenheit“ anhand unterschiedlicher Teilbereiche dessen, was in Deutschland als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wird, in Spanien prägnanter und vielleicht auch zutreffender als memoria histórica.

Die im Jahr 2000 initiierten Öffnungen von Massengräbern des Bürgerkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit sind wohl die bekannteste Seite der spanischen Auseinandersetzungen um das kollektive Gedächtnis. Sie stehen am Ursprung der Gedächtnisbewegung, sie sind das Hauptmotiv zahlreicher Vereine und sie bilden auch den Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Erinnerungsorte und identitätsstiftende Symbole wie der Nationalkatholizismus oder das von republikanischen Gefangenen für Franco errichtete Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen) auf der einen Seite, die lange unterdrückte Erinnerung an das Exil oder der Widerstand innerhalb Spaniens auf der anderen Seite sind weitere Aspekte, um die sich das Gedächtnis heute formiert, und die im Buch übersichtlich dargestellt werden. Tatsächlich gelingt es Pichler, eine äußerst komplexe Entwicklung – anstatt einer Aufarbeitung von Vergangenheit drängt sich eher der einer laufenden Auseinandersetzung mit Vergangenheit auf, durchsetzt mit eruptiven Einbrüchen des Vergangenen in die Gegenwart – auch für den nicht-spanischsprechenden Leser nachzuzeichnen. Das ist umso verdienstvoller, als die seit gut zwei Jahrzehnten anhaltenden Debatten über Krieg und Franquismus bisher kaum die spanischen Grenzen überschreiten. Figuren wie Reyes Mate, der sein umfangreiches philosophisches Werk zu großen Teilen dem historischen Gedächtnis gewidmet hat, werden in Deutschland kaum rezipiert. Die in Tageszeitungen wie allen voran „El País“ abgedruckten Diskussionen über die memoria histórica sind hierzulande ebenso wenig bekannt. Und doch: Jenseits der auf der Hand liegenden spanieninternen Bedeutung dieser Auseinandersetzung dürfte sie auch das von der Begrifflichkeit des Assmann’schen kulturellen Gedächtnisses dominierte Szenario in Deutschland erweitern.

Pichler hat eine doppelte Perspektive: Er steht drinnen und draußen zugleich. An der Universität Alcalá in Madrid als Professor für deutsche Sprache und Literatur tätig, verfolgt er die Debatten um die memoria histórica aus der Nähe, sammelt für sein Buch unzähliges, oft der Presse entnommenes Material; er macht dies nicht zuletzt vor dem impliziten Hintergrund – so steht zu vermuten – auch der deutschsprachigen „Bewältigung“ von Vergangenheit. Der Autor zeichnet den Prozess der „Revidierung von Vergangenheit“, die in Spanien wie in Deutschland erst ein gutes Vierteljahrhundert nach Diktaturende einsetzte, nicht mit dem Gestus des Historikers nach, sondern als Kulturwissenschaftler – und als politisch denkender Zeitgenosse. Denn politisch ist das Buch im besten Sinne: um Ausgewogenheit bemüht, maskiert es dennoch nicht die Position des Beobachters und regt den Leser zu einer politischen Lektüre historischer Ereignisse an.

In methodischer Hinsicht sind zwei Dinge erwähnenswert: der ausgiebige Gebrauch von Pressematerial – in historiografischen Studien oft eher residual – und das Mittel des Interviews zur Darstellung ganz unterschiedlicher Haltungen zur Vergangenheit. Beide Aspekte sorgen für einen epistemologischen Gewinn, den der Leser nicht unbedingt erwartet hätte. So fängt einerseits das ephemere Medium der Tagespresse Stimmungen auf, die Pichler aus dem Archiv restituiert und aktualisiert. Andererseits beweist der Einsatz selbst geführter Interviews mit Angehörigen beider Lager, insbesondere mit republikanischen und neofranquistischen Historikern sowie mit Freiwilligen der Gedächtnisbewegung, wie Geschichte von den Bedürfnissen der Gegenwart ausgehend moduliert wird.

„Das Ende der Bedeutungslosigkeit“ ist der programmatische Titel eines Interviews mit Emilio Silva, der mit der Exhumierung seines 1936 ermordeten und am Straßenrand verscharrten Großvaters die organisierte Gedächtnisbewegung anstieß. Der Historiker Francisco Espinosa beschreibt dagegen, wie die franquistische Repression bis weit in die 1980er-Jahre vornehmlich außeruniversitär erforscht werden musste und wie schwierig sich noch in der Demokratie die Archiveinsicht gestaltete. Vom Juristen José Antonio Martín Pallín, laut Pichler unter den Juristen einer der wenigen Fürsprecher der memoria histórica, erfahren wir, was die Selbstamnestie der Franquisten in der transición 1976/1977 für gesellschaftliche Konsequenzen hatte, während Jaime Alonso von der Francisco Franco-Stiftung das „beeindruckende Vermächtnis“ des Diktators zu verteidigen sucht – auch das ist ein Teil Spaniens.

Das letzte Kapitel über das „Aufbrechen der Erinnerung – von 2000 bis heute“ zeigt an einer Beschreibung des heterogenen movimiento memorialista (Gedächtnisbewegung), wie die Forderung nach der sozialen Anerkennung der Opfer Vergangenheit für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse öffnet. Pichler nennt die konkreten Maßnahmen, die von der Bewegung unter dem Motto verdad, justicia, reparación (Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung) angestrebt werden; von der würdevollen Bestattung über die Aufhebung aller Urteile des Franco-Regimes bis hin zur – in Spanien besonders brisanten – Gleichstellung mit den Opfern der baskischen Terrororganisation ETA, die traditionell über einflussreiche Fürsprecher verfügen.

Von besonderem Interesse sind die Ausführungen zum 2007 verabschiedeten Gesetz der historischen Erinnerung, Ley de la memoria histórica, und seine Einschätzung durch Experten. Schwerwiegend ist der Vorwurf, das Gesetz ermögliche gerade keine öffentliche Gedächtnispolitik, sondern privatisiere das Gedächtnis vielmehr (so der anerkannte Historiker Santos Juliá), indem es „die Exhumierungen allein von persönlichen Initiativen“ abhängig mache. Ideologisch durchsichtig ist dagegen der Vorwurf der Parteilichkeit, dass die Gedächtnisbewegung sich nur um „ihre“ Toten kümmere, die der republikanischen Verlierer natürlich. Pichlers prägnantes Urteil dazu: „Hätte der Staat selbst […] durch eine systematisch gestaltete Vergangenheitspolitik alle noch vorhandenen Massengräber geöffnet, wäre der Prozess weitaus rascher vonstatten gegangen, hätte viel weniger Polemik verursacht, und das Thema wäre zur weitgehenden Zufriedenheit aller Beteiligten bereits seit Jahren abgeschlossen.“

Doch wäre dem tatsächlich so? Eine beunruhigende Beobachtung, die in „Gegenwart der Vergangenheit“ auch vielfältig zitiert wird, ist ja gerade das Fortleben des Franquismus. Dessen sichtbarstes Zeichen sind wahrscheinlich die noch immer nicht vollständig aus dem öffentlichen Raum entfernten Franco-Statuen, franquistischen Straßennamen und sonstigen Symbole. Dass die Subventionen für Projekte des historischen Gedächtnisses im Haushaltsjahr 2013 von der konservativen Regierung vollständig gestrichen wurden, spricht – Krise hin oder her – ebenfalls für sich: „Angestrebt wird die Entpolitisierung der Bewegung, ihre Privatisierung und Reduktion auf das individuelle, persönliche Schicksal der Verschwundenen. Die Hinterfragung des Franquismus und der transición soll so unterbunden, der soziale Friede wiederhergestellt werden“.

Entgegen dieses Versuchs schenkt das Buch zahlreichen Ereignissen der letzten Jahre Aufmerksamkeit – der Debatte um den Verbleib der sogenannten „Papiere von Salamanca“ (umfangreiche Archivdokumente der Franco-Zeit), den Prozessen und der schließlichen Verurteilung des um Aufarbeitung bemühten Richters Baltasar Garzón, den zur Adoption frei gegebenen „geraubten Kindern“ des Franquismus –, die hier wie Perlen auf eine Kette aufgefädelt werden, um die These von der „Gegenwart der Vergangenheit“ zu untermauern.

Das Buch belegt seine Argumente nicht mit Zeugenaussagen, sondern mit Positionen, wie sie heute in Spanien Historiker, Juristen und andere Experten vertreten. In dieser Vernetzung liegt die Stärke von Pichlers Studie, an der man einzig ein Personen- und Sachregister vermisst. Nun ist dem Buch noch eine Übersetzung ins Spanische zu wünschen, um die internen Debatten über den Status des Vergangenen um einen gewichtigen Beitrag zu erweitern. Abbrechen werden die Kontroversen in nächster Zukunft wohl kaum: „Die Krux mit der Vergangenheit ist, dass sie zwar vergangen ist und doch nicht vergehen will.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien.
Rotpunktverlag, Zürich 2013.
336 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783858694768

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