Milo in der Modernedebatte

Olen Steinhauer demonstriert, dass Komplexität die Basis jedes guten Spionage-Thrillers ist. „Die Spinne“ schreibt die Geschichte um Milo Weaver fort

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der theoretischen Beschreibung dessen, was unter Moderne zu verstehen ist, spielt die Komplexität von Strukturen, Ereignissen, Handlungen, Wirkungen und Akteuren eine zentrale Rolle. In einer Gesellschaft, die immer umfassender wird, dabei sich immer stärker ausdifferenziert und von widerstreitenden Intentionen bestimmt wird, ist es für den Einzelnen immer schwieriger zu verstehen, was vor sich geht, und die daraus richtigen Konsequenzen zu ziehen. Komplexität und Kontingenz gehen dabei eine enge Verbindung ein. Die extreme Verschachtelung der Ereignisse wird von den Einzelnen als Zufall wahrgenommen, mindestens jedoch als unbeinflussbare Größe, so dass eine der Hauptaufgaben in der Moderne ist, wie der Soziologe Michael Makropoulos einmal geschrieben hat, Kontingenz überhaupt erst einmal aushalten zu lernen.

Nun bleibt es wahrscheinlich unentscheidbar, ob Ereignisse einfach nur geschehen oder ob sie Effekt von komplexen Bedingungen sind. Das bleibt auch dann so, wenn man die Perspektive umkehrt, weg von den Individuen, die aushalten müssen, was mit ihnen geschieht, hin zu denen, die aktiv gestalten wollen, was zu geschehen hat.

Man mag das für eine spezifische Form moderner Hybris halten, aber dennoch ist die Idee, das Individuen Wirkung haben, dass sie die Welt gestalten können, von ungeheurer Vitalität und von offensichtlicher Attraktivität. Quer durch das politische Spektrum haben die Macher stets große Aufmerksamkeit auf sich gezogen (nein, keine Beispiele an dieser Stelle). Während sich in der Literatur insbesondere der Spionage-Thriller mit der Frage beschäftigt hat, wie wirksames Handeln im unübersichtlichen Feld sich gegenseitig durchkreuzender Interessen und Aktivitäten durchzusetzen wäre.

Warum das so ist, ist wohl auf den ersten Blick plausibel: Entstanden im Kalten Krieg, ersetzt der Spionage-Thriller heute den einfachen Antagonismus bipolarer Mächte durch ein breites Spektrum von Akteuren und Interessen, deren Verhältnis zueinander permanent neu austariert werden muss. Dabei agieren die Beteiligten mit jeweils verdeckten Karten. Weder Ziele noch Mittel werden geteilt. Sie agieren also in einem Maße selbstbezüglich, wie es für den modernen Menschen wohl als Typologie vorausgesetzt werden kann.

Die Unklarheit der Interessen, Ziele und Mittel macht das Gelände überaus unsicher. Die Gegenläufigkeit der Akteure kommt hinzu, was dazu führt, dass sich Aktionen nivellieren und ausgleichen, ja, verpuffen, Wirkungen also überhaupt nicht mehr auszumachen sind. Die Akteure sind in diesem Feld dennoch weitgehend auf sich gestellt, auch wenn ihre Zugehörigkeit zu den verschiedenen Institutionen, bevorzugt zur „Firma“, sie eigentlich kollektiv aufwerten müsste. Aber das ist nicht der Fall. In der Welt zunehmender Komplexität und damit verfallender Handlungsroutinen und -rollen ist der vereinzelte Akteur von ungeheurer Attraktivität. Der Garant einer Handlungssicherheit, die allerdings nur noch auf sich selbst, wenn nicht gar auf den eigenen Körper verweisen kann. Der aber weist stets durch seine eigene Verfallskurve auf die Abgründigkeit dieser Lösung hin.

Sylvester Stallones (und auch Arnold Schwarzeneggers) Alterswerk demonstriert gegen die eigenen Absichten nichts anderes – und verweist auf den Anfang zurück, in dem vor allem Stallone seinen „italienischen Hengst“ Rocky und seinen Ex-Vietnam-Kämpfer Rambo als gescheiterte Existenzen positionierte, die von der Moderne abgekoppelt worden waren. Ein Boxer und ein Soldat als Ikonen der modernen (männlichen) Existenz?

Auch wenn der neuere Spionage-Thriller den Anschluss vor allem an das Action-Kino gefunden hat, ist er im Wesentlichen ein melancholisches Genre, das den Abgesang von der Wirksamkeit der Tat beinahe abfeiert, wenigstens aber Runde um Runde immer wieder neu inszeniert. Die Action-Lastigkeit der neueren Bond-Filme („rennen-retten-löschen“) verdeckt dabei nur, dass das Genre die Hilflosigkeit im Angesicht der Moderne ins Zentrum gerückt hat – was eben am Beispiel Ole Steinhauer sehr gut zu beobachten ist.

Die kleine Serie um den Geheimagenten Milo Weaver, die mit „Die Spinne“ schon in den dritten Band geht, ist deshalb vor allem von langen Gesprächen zwischen den Akteuren geprägt. Selbst desaströse Ereignisse werden eigentlich vor allem durch die Beobachtung Dritter wahrnehmbar. Tat und Aktion sind nebensächlich, ihre Planung, Interpretation und Aufarbeitung hingegen nimmt viel mehr Raum ein.

Ein chinesischer Geheimdienstchef hat seine Widersachergruppe auf der Seite der CIA (die sogenannten „Touristen“) erfolgreich eliminiert, jetzt gerät er selbst in den Fokus seiner eigenen Leute, die ihn anscheinend zu demontieren suchen. Zugleich verfolgt er mit Sorge die Aktivitäten des ehemaligen Chefs der Touristen, der in London von der Bildfläche verschwindet. Milo Weaver wird in die Sache gezogen, die augenscheinlich auch die eigene Familie (ja, diese Geheimagenten haben Frauen und manchmal Kinder) zu bedrohen scheint.

Es folgen lange Exkursionen ins Politbüro, man kann die Erfolge und Misserfolge der einzelnen Akteure auf amerikanischer und chinesischer Seite verfolgen, und eben auch wie Siege zu Pyrrhus-Siegen werden. Am Ende des Buches steht ebenso ein Ergebnis, wie hier ein Ausblick zu finden ist – der womöglich zu einem weiteren Band in der Weaver-Reihe führen wird. Das ist langatmig und dennoch nicht uninteressant, und wirkt ungemein plausibel. Weshalb zu fragen bleibt, warum der neorealistische Roman seit den 1960er-Jahren nicht gleichfalls so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Vielleicht weil doch der Thrill dabei fehlt?

Titelbild

Olen Steinhauer: Die Spinne. Thriller.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader.
Heyne Verlag, München 2013.
496 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783453268210

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