Im Ringen mit den Paradoxien des Lebens

Emma Chambers und Karin Orchard haben einen Katalog über das Exilwerk von Kurt Schwitters herausgebracht

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis zuletzt hatte er in Hannover an seinem „Merzbau“, seiner Raumskulptur, gearbeitet, die sich über mehrere Räume seines Hauses in Hannover erstreckte. Denn mit der Nazi-Diktatur war seine Welt zusammengebrochen – die Nationalsozialisten diffamierten seine Werke nicht nur als „entartet“, sondern als „vollendeten Wahnsinn“ – und ebenso das internationale Avantgarde-Netzwerk, das er aufgebaut hatte. Anfang 1937 ging er nach Norwegen ins Exil, aber niemand nahm hier Notiz von seiner Arbeit; sein seelisches Tief suchte er durch einen neuen Merzbau zu überwinden.

Als die Nazitruppen im April 1940 in Norwegen einmarschierten, schlug er sich nach England durch, musste aber hier als „Enemy alien“ (feindlicher Ausländer) die nächsten anderthalb Jahre im Internierungslager verbringen. Im November 1941 konnte er nach London ziehen, erlitt dort einen Schlaganfall, lebte unter schwierigsten finanziellen Verhältnissen, fand kaum Resonanz mit seinem Werk und zog im Juni 1945 aufs Land nach Ambleside in den Lake District. Porträtaufträge und Landschaftsbilder brachten ihm ein wenig Geld ein. Zwar konnte er nach Kriegsende wieder Kontakt zu alten Kollegen aufnehmen, die nun über ganz Europa und die USA verstreut lebten, aber Rückschläge und Enttäuschungen nahmen für ihn selbst kein Ende. Schon schwerkrank, suchte er Pläne für einen dritten Merzbau in dem Dorf Elterwater zu verwirklichen. Aber am 8. Januar 1948 starb er im Alter von 60 Jahren an Herzversagen. Bis zuletzt blieb er unbeirrbar schöpferisch tätig – Kunst war ihm ein Mittel zum Weiterleben, zum Überleben.

Dem wenig bekannten Exilwerk des Erfinders des Merz-Konzepts, dieser Schlüsselgestalt der Avantgarde, haben die Tate Britain in London und das Sprengel Museum Hannover – ihre Schwitters-Sammlungen gehören zu den weltweit umfangreichsten – mit mehr als 150 Werken, Collagen, Assemblagen, Gemälden und Skulpturen – eine beeindruckende Ausstellung gewidmet, die jetzt bis 25. August 2013 in Hannover zu sehen ist. In Archivalien und Fotografien wird zudem der persönliche und historische Hintergrund dieses letzten Lebensabschnittes veranschaulicht.

Die beiden Kuratorinnen der Ausstellung, Emma Chambers und Karin Orchard, haben auch den Katalog mit vielen informativen Beiträgen und einem umfangreichen Bildteil herausgebracht. Emma Chambers, Kuratorin für moderne britische Kunst an der Tate Britain, untersucht Schwitters’ Verbindungen zur britischen Kunstwelt und geht der Frage nach, welche Bedeutung die Verlagerung und Umdeutung britischer Themen und Quellenmaterialien für sein Werk und für seine Situation als im Exil lebender Künstler hatte. Jennifer Powell berichtet über Schwitters’ künstlerische Aktivitäten im Internierungslager auf der Isle of Man, während Megan Luke die kleinen, tragbaren Skulpturen mit ihrer grellen Oberflächenbemalung untersucht, die der Künstler in seiner Londoner Zeit geschaffen hat. Ganz seiner Exilsituation angepasst, seien sie weder orts- noch zweckgebunden, wie das Gerümpel, das er für seine Collagen auf der Straße auflas. Dieser Abfall konnte ungehindert hier- und dorthin verschoben werden, Patina anlegen, die Verbindung zu seiner früheren Funktion ablegen und in einem anderen Kontext eine neue Identität gewinnen.

Den Collagen der Exilzeit widmet sich Karin Orchard, Leiterin der Grafischen Sammlung am Sprengel Museum. Ausgehend von Schwitters’ eigener Einschätzung seiner Werke in den 40er-Jahren gelangt sie zu der Einschätzung, dass die späten Collagen „mehr verschiedene Bedeutungsschichten als das Frühwerk“ erhalten. Die Bestandteile der Werke würden sich stärker durchdringen, einen illusorischen Tiefenraum erzeugen, aber auch ihre Autonomie bewahren. Sie spricht von einer starken Spontaneität und Zufälligkeit, die trotz der nachlässigen technischen Verarbeitung eine viel stärkere Tiefe erreiche. Michael White beschäftigt sich mit Schwitters’ Lautdichtung und erläutert, wie dessen frühere Träume von einer universalen Kommunikation durch Krieg und Exil zunichte gemacht wurden. Isabel Schulz, Leiterin des Kurt Schwitters Archivs und Geschäftsführerin der Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, geht Schwitters drittem Versuch eines Merzbaus, der Merz Barn in Elterwater, nach, die durch seinen Tod unvollendet blieb. Die Reliefwand, auf die Schwitters seine Energien konzentriert hatte, wurde 1965 in die Hatton Gallery der Universität in Newcastle upon Tyne überführt. Ein Interview mit zwei englischen Künstlern über Kunstprojekte im Lake District in der Nachfolge von Schwitters beschließt den Text-Teil, dem noch eine Chronologie, ein Literatur- und das Werkverzeichnis angehängt sind.

Schwitters, der Dichter der „Anna Blume“, der Maler, der seine Bilder nagelte, klebte, färbte, unterhielt vor 1933 intensive Kontakte mit der internationalen Avantgarde, er reiste viel, stellte aus, rezitierte seine Dichtungen, kehrte aber immer wieder in seine Heimatstadt Hannover zurück. Hier entwickelte er seine umfassende Merz-Kunst (Merz ist die bedeutungslose Buchstabenfolge aus dem bedeutungsvollen Wort Kommerz). Er setzte dieses Wortfragment 1919 in eine Collage ein, die zum ersten Merzbild geworden ist. In den folgenden Jahren bildete sich Merz als Schwitters’ eigenes Gestaltungsprinzip heraus: Umbildung von Fetzen weggeworfener Wirklichkeit (alte Fahrscheine, angespülte Hölzer, Garderobennummern, Drähte und Radteile. Korken, Knöpfe und Bindfäden, bedrucktes Papier, belanglose Worte aus Zeitungen). Aus diesen ursprünglich nicht zusammengehörigen Teilen setzte er das Bild der Welt wieder neu zusammen. Alle Dinge, die in das Bild eingehen, verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung und werden zu notwendigen Teilen der Komposition verfremdet, entmaterialisiert. Schwitters bevorzugte Farbzusammenstellungen aus Chromoxydgrün, Pariser Blau, einem Rotbraun, das an Fußbodenanstrich erinnert, einem hellen Ocker und Schwarz, die im Dienst der Verklärung alter Dinge wahrhaft seraphische Qualitäten entfalteten. Bald nannte er alles Merz, was er produzierte, und schließlich sich selbst. Die Merz-Kunst blieb nicht in der Fläche, sondern wuchs von den Merz-Malereien über die Merz-Assemblagen und die Merz-Objekte in den Raum hinein und erzeugte die Merz-Architektur, das wuchernde Merz-Environment.

In der Exilzeit kehrte Schwitters nach Kompositionen von geometrischer Strenge zu einem freien Spiel mit den Dingen seiner Umwelt zurück. Er fand zum Objekt, das er nunmehr oft der Natur entlehnte (Steine, Muscheln, Knochen, Holz). Die Dinge sind nicht mehr Ausdruck für Material oder Form, sondern behalten ihren Gegenstandscharakter. Aus Wegwerf-Materialien entstanden eine „Sich öffnende Blüte“, „Elegante Bewegung“, „Speed“, „Der Clown“, „Chicken and Egg“ oder „Zwei rhythmischen Formen“.

Beim „Dancer“ von 1943 handelt es sich nicht mehr um den Abfall einer Massenkultur, sondern um ein verästeltes Stück Holz, zu einer Figur geformt, deren Extremitäten wie ein Polypenbündel anmuten; die roten wie blutbeschmierten Spitzen, das losgelöste, sich verdrehende Bein und die instabile Körperhaltung unterstreichen die körperliche Verwundbarkeit. Die späten Collagen leben von dem Schwung und Rhythmus, der durch die Diagonale oder Vertikale suggeriert wird, jedoch immer wieder abgebremst durch Elemente, die sich quer stellen. Es sind diese widerständigen Elemente sowie die gewisse Rohheit der nachlässigen Verklebung, die diese Colllagen der Spätzeit von denen der 20er-Jahre unterscheiden.

Die Collage aus der Kriegszeit „Ohne Titel (Difficult)“ (1942-45) ist von oben bis unten mit Hunderten fächerförmig angelegten Papieren beklebt. Ganz unten ist die Werbeaufnahme eines Autoreifens zu sehen, und weiter oben schwebt ein winziges Doppeldeckerflugzeug. Ein Foto-Ausschnitt zeigt den Torso einer sitzenden Frau. Dazwischen Bonbonpapiere und unten rechts Londoner Busfahrkarten. In der Mitte des Bildes steht „Difficult“, Fragment des Titels einer aus einer Frauenzeitschrift herausgeschnittenen Kurzgeschichte. Hier fungiert das Wort wie ein Kommentar zu den Spannungen dieser Collage. Ist das nur spielerische Laune oder doch ernsthaftes Engagement? Auf jeden Fall soll der Betrachter eine neue Empfänglichkeit für die alltäglichen Dinge unserer menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt entwickeln.

Die Assemblage „Ohne Titel. Komposition mit Tube und Hufeisen“ (1943-45) spricht von tragischem Verfall und Verderbnis, lädierte Papierfetzen kleben noch an diesem Brett. „Windgepeitscht“ ist der Titel einer Collage von 1946, in der armselige Schnipsel in machtloser Geste eine Katastrophenstimmung andeuten. Dagegen beschwört die Collage „EN MORN“ (1947) in grellen Anzeigen aus Illustrierten und Verpackungsmaterialien unterschiedlichster Art den Traum von Überfluss herauf. Wenn man aber in dem auf den Kopf gestellten Foto Franklin D. Roosevelt zu entdecken vermeint, dann kann der englische Slogan „Für diese Dinge kämpfen wir“ auch als ironische Verdrehung einer Parole aus der Kriegszeit gedeutet werden.

Schwitters’ abstrakte Gebilde enthalten einen Rest an Poesie und Gegenwartsnähe, und diese Eigenschaften finden in der naturalistischen Malerei „des anderen Schwitters“ ihre Entsprechung, denn parallel zu seinem revolutionären Gesamtwerk hat er laienhafte Gemälde geschaffen, die von seiner naiven Liebe zur Natur zeugen. Die Entdeckung der Natur in den 30er-Jahren in Norwegen und später in England führte so zu einer „romantischen“ Phase mit den neu gesehenen organischen Formen.

Nachdem er 1948 fast vergessen in England gestorben war, wurde der einstige Kunst-Clown und Bürgerschreck zum Klassiker erhoben. Seine Vorschläge zur ständigen kreativen Verwandlung, Vermengung, Deformierung haben die nachfolgenden Künstler und Kunstbewegungen, die intermedialen Neuerer, Fluxus, Neo-Dada, Pop und Postmoderne wesentlich beeinflusst. Heute gilt Schwitters als der wohl radikalste Realist in der Kunst des 20. Jahrhunderts.

Titelbild

Emma Chambers / Karin Orchard (Hg.): Schwitters in England.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2013.
168 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783775735957

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