Das ist leider nicht gut gegangen!

Dirk Hempels Edition von Walter Kempowskis Sockeltagebuch „Wenn das man gut geht!“

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kirchgang. Die Kirche war voll, Gemeindegesang mäßig. Predigt gut. Anschließend habe ich das Abendmahl genommen und zum ersten Mal das Gefühl der Freiheit gehabt. Es ist eigenartig, daß man sich aber selbst bei dieser heiligen Handlung nicht frei von Eitelkeit machen kann. Ich merkte das, als ich zum Altar ging. Ein neues Leben beginnen dürfen, ist das überhaupt möglich?“ (Lindau, Karfreitag, 30. März 1956)

Seitdem die Tagebücher Walter Kempowskis (geboren im April 1929 in Rostock, gestorben im Oktober 2007 in Rotenburg an der Wümme) herausgegeben werden, wird so recht eigentlich erst die Physiognomie dieses bedeutenden Schriftstellers deutlich. Dieser Autor muss ein extrem wacher Zeitgenosse gewesen sein, der sich und die Zeitläufte genau beobachtete, der häufig illusionslos, oft spöttisch, gelegentlich verletztend Land und Leute charakterisierte.

Nun ist ein fünfter Band seines offensichtlich sehr umfangreichen Tagebuchwerkes aus dem Nachlass ediert worden, das sogenannte „Sockeltagebuch“. Es umfasst „Aufzeichnungen“ der Jahre 1956 bis 1970, und zwar Notizen ebenso wie ,echte‘ Tagebuchblätter, ferner Briefe und Briefentwürfe, auch von Freunden (darunter besonders eindrucksvolle von Klaus Beck, dem Schüler, Mitarbeiter und Weggefährten von Joseph Beuys), sowie Zeugnisse von Bekannten und Verlagsleuten. Unter den Fremdtexten sind unbedingt lesenswerte, ja zum Teil hinreißende Briefgutachten von Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser oder Peter Rühmkorf, die Kempowskis Entdecker und früher Förderer Fritz J. Raddatz für den Rowohlt Verlag einholte.

Dieser Band ist somit ein bedeutendes Zeugnis der Intellektuellengeschichte der frühen Bundesrepublik: 1956 lässt sich der ehemalige Bautzen-Häftling Kempowski nach Hamburg entlassen. Er nimmt ein Lehrerstudium in Göttingen auf und sucht Anfang der sechziger Jahre den Kontakt zu Hans-Joachim Mund, dem ehemaligen Gefängnis-„Pfaffen“ und SED-Funktionär, der sich 1959 in den Westen abgesetzt hatte. Durch Pfarrer Mund bekommt Kempowski Kontakt zu dessen „Ziehsohn“ Fritz J. Raddatz, der von nun an seine ersten Gehversuche als Schriftsteller mentorieren wird. Und zwar mit Nachdruck, Fürsorge, Sorgfalt, Umsicht. 1969 erscheint dann Kempowskis Erstling, der Haftbericht „Im Block“.

Mit Respekt und Genugtuung verfolgt man, wie unnachgiebig der angehende Autor seine diversen (!) Projekte verfolgt, wie nachhaltig Raddatz ihn begleitet und wie konsequent beide im Endeffekt ihren Weg gemeinsam zu Ende gehen. Das zweite Manuskript, der Roman „Im Strom“ (später bei Hanser unter dem Titel „Tadellöser & Wolff“ publiziert), bekommt dann bei Rowohlt bereits keine Chance mehr. Die fadenscheinige Begründung des Verlegers Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Das Typoskript sei qualitativ schwächer als der „Haftbericht“, und der Titel passe nicht recht ins Programm, das gestrafft werden müsse. Deshalb blieb es bei dem kurzen Auftritt Kempowskis als Rowohlt-Autor. Er wechselte zum Carl Hanser Verlag nach München, bevor er bei Knaus seine endgültige Heimat fand – und zum wichtigsten Autor des Hauses avancierte, mit einer atemberaubenden, fast beängstigenden Produktivität.

Der nun vorliegende Band ist wiederum ein Knaus-Produkt, man hat ihm den – scheinbar typischen – Kempowski-Titel „Wenn das man gut geht!“ verpasst (ein Titel, der leider auf den charakteristischen „Schnack“ abhebt, für den Kempowskis Werk unter anderem auch bekannt ist), und man hat damit die schöne Richtung aufgegeben, die Kempowski mit seinen Tagebüchern bislang eingeschlagen hatte: Mit „Alkor“ (1989), „Hamit“ (2006), „Sirius“ (1990) und „Somnia“ (2008) – sowie außer der Reihe „Culpa“ (2005) – hatte er einer neuen (jedoch Kempowski-Lesern vertrauten) Lakonie Raum gegeben, der hier nun leider wieder verlassen wird. Der Autor hat es kommen sehen: „Mein Werk wird später wahrscheinlich auf den sattsam bekannten Satz ,Wie isses nun bloß möglich!‘ zusammenschrumpfen.“

Das „Sockeltagebuch“ stellt, wie oben bereits deutlich wurde, eine Kompilation aus unterschiedlichen Quellen dar. Es repräsentiert eine Textsammlung, kein reines Tagebuch, und es druckt mitunter auch Fotografien ab (etwa von der ,Studentenbude‘ in Göttingen, von der ersten Lehrerwohnung in Breddorf, von Frau und Kindern in Nartum), sowie Übersichtsblätter, Listen, dazu Graphiken von Klaus Beck (offensichtlich ganz hervorragende Arbeiten), diverse Einfälle und Vorstudien und anderes mehr. Hier ist nachzuvollziehen, wie umwegig und umständlich das Ziel der ersten Veröffentlichung verfolgt wurde, hier ist quasi zu erfahren, wie das Gefängnistagebuch (wenn es eines ist) „Im Block“ entstand, und zugleich ist dieser Band als ,Begleitmelodie‘ des Romans „Herzlich willkommen“ (1984) verstehbar und interpretierbar.

Der Band ist freilich dilettantisch ediert. Er informiert nicht oder nur unzureichend über die Materialien, die er verwendete und ihre Provenienz. Das Register des Bandes ist selbst für eine reine Lese-Ausgabe, die nicht Wissenschaft sein will, ganz seltsam und überaus lückenhaft ausgeführt. Mehr als hundert Namen fehlen hier, bedeutende und berüchtigte darunter: Ingeborg Bachmann, Johannes Brahms, Michel Butor, Roland Freisler, Jean Genet, Bernhard Grzimek, Walter Hallstein, Jesus, Lyndon B. Johnson, Immanuel Kant, Friedrich Christian Laukhard, Josef Mackiewicz, Anatolij Martschenko, Karl Marx, Ernst Nolte, Harry Rowohlt, George Bernard Shaw, Axel Springer, Franz Tumler, Walter Ulbricht und Ilse Werner.

Andere Persönlichkeiten der Zeitgeschichte sind nur teilweise belegt, dann wieder nicht, darunter Gottfried Benn, Charles de Gaulle, Adolf Hitler (das Register erfasst sechs von zwölf Fundstellen), Walter Jens, Franz Kafka, Hermann August Korff, Thomas Mann, Hans-Joachim Mund, Fritz J. Raddatz, Joachim Ringelnatz, Hartmut Stanke, Edzard Timmer, Otto Wiggers, Elisabeth Ziegler.

Weitere Lücken wären bei Kempowskis Familie zu konstatieren, und andere Namen wiederum werden offensichtlich deshalb nicht aufgeführt, weil sie im Text nicht vollständig dastehen und nicht recherchiert werden konnten. Also wenn es etwa heißt: „Nordhoff tot“ (sub 12. April 1968). Das ließe sich doch mühelos erarbeiten? (Es handelt sich natürlich um Heinrich Nordhoff, den Vorstandsvorsitzenden der Volkswagenwerk AG.)

Und weil auf den Index keine Sorgfalt gelegt worden ist, kam es auch zu Lesefehlern: Erich Merwick, der langjährige Marketingchef bei Rowohlt, wird deshalb auch „Merwich“ geschrieben. Und somit wurden denn auch Kempowskis eigene Flüchtigkeitsfehler stillschweigend übernommen – etwa, wenn die renommierte Hamburger Fachbuchhandlung Boysen & Maasch hier als „Boisen und Masch“ firmiert.

Nicht weiter schlimm, möchte man meinen, aber unnötig und symptomatisch für diese Edition. „Wir haben uns viel Mühe gegeben“, schreibt 1964 ein ehemaliger „Zuchthauskamerad“ an Walter Kempowski. Das kann man von dieser Publikation leider nicht sagen.

Anmerkung der Redaktion: Für Leser von literaturkritik.de steht hier ein um circa hundert Namen erweitertes Register (Stand: 28. Juni 2013) zum Download zur Verfügung, erarbeitet von Stefan Tuczek.

Titelbild

Walter Kempowski: Wenn das man gut geht! Aufzeichnungen 1956-1970.
Herausgegeben von Dirk Hempel.
Knaus Verlag, München 2012.
624 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783813503678

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