Die Schicksalsstunde der Mediengeschichte

Burkhardt Lindners kritische Ausgabe von Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz ist vom Feinsten

Von Jörg SpäterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Später

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz ist der häufigst zitierte und am intensivsten debattierte Essay in der Geschichte der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Als Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages gehört er zu den meistverkauften theoretischen Texten. Er ist längst zu einem Klassiker der Kultur- und Medientheorie avanciert. Gerade Medienwissenschaftler feiern ihn als Pioniertat ihrer Disziplin; für sie ist Benjamin ein medientheoretischer Avantgardist − ungeachtet dessen, dass Benjamins Medienbegriff nicht mit dem heutigen Gebrauch identisch ist. Für manche Historiker dagegen wie beispielsweise Hans-Ulrich Wehler ist Benjamin ein Kulturkonservativer, der die scharfe Trennung von Hoch- und Massenkultur reproduziert habe. Der Kult des Kunstwerkaufsatzes geht offenbar Hand in Hand mit Ignoranz seinem Inhalt gegenüber. Benjamin ist mit Etiketten wie Kulturkonservatismus oder technischem Fortschrittsenthusiasmus nicht zu greifen.

In der Kritischen Gesamtausgabe von Werken und Nachlass Benjamins (Band 16) ist der Kunstwerkaufsatz nun erneut erschienen, und zwar in allen fünf Fassungen und mit gut 400 Seiten Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Dokumenten und interpreratorischem Nachwort. Im Gegensatz zur meisten Literatur der akademischen Benjamin-Industrie ist dieses Buch alles andere als überflüssig. Und das nicht nur, weil es das Schicksal von Klassikern ist, dass man ihren Inhalt nicht kennt, sondern weil das Nachwort von Burkhart Lindner vom Allerfeinsten ist, was man über Benjamin lesen kann.

Benjamin begann diesen Text im September 1935. Mit großem Stolz verkündete er, „dass es die materialistische Theorie der Kunst, von der man viel hat reden hören, die aber doch niemand mit eigenen Augen gesehen hatte, nun gibt“. In der Tat hatte Benjamin nicht nur neue und sehr eigene Begriffe wie Aura, Apperzeption, Chock oder das Optisch-Unbewusste geprägt, sondern eine neue Deutung der Künste vorgelegt: Er diskutierte nicht wie das Gros seiner Zeitgenossen, ob der Film nach ästhetischen Kriterien Kunst oder wie er in ideologiekritischer Perspektive zu bewerten sei, vielmehr konstatierte er, dass der Film mittels seiner technischen Reproduzierbarkeit das Kunstwerk verändere. Was hier schlug, war in den Worten Benjamins, „die Schicksalsstunde der Kunst“. Die Möglichkeit technischer Reproduktion, am sichtbarsten am Film, verändere nicht nur das Kunstwerk selbst, sondern auch die sinnliche Warnehmung der Rezipienten. Und es waren Wahrnehmungsveränderungen, die nicht allein die Kunst betrafen, sondern die Conditio humana des modernen Menschen.

Von Gewicht sind daher Lindners Anmerkungen zu Benjamins anthropologischem Materialismus. Benjamin ging demnach nicht von einer existenziellen Sinnkrise „des Menschen“ aus wie andere philosophisch-anthropologische Ansätze seiner Zeit. Er orientierte sich an der Wahrnehmungsgeschichte der Menschheit. Menschheit war für Benjamin nicht primär ein Begriff, in dem sich das Subjekt der Geschichte konstituiere und qua Vernunft den Fortschritt zur Freiheit zum Ziel habe, sondern ein kollektiver Erfahrungs- und Erinnerungszusammenhang. In diesem Sinne waren Körperlichkeit und Wahrnehmung Medien. Die Möglichkeit technischer Reproduktion veränderte damit nicht nur die Ästhetik, sondern den Menschen.

Zwei Interventionen der Herausgeber in seit langer Zeit schwelenden Debatten sind bemerkenswert: Um 1968 herum entdeckte die Zeitschrift „alternative“, sekundiert von Helmut Heißenbüttel und Hannah Arendt im „Merkur“, dass Max Horkheimer den Kunstwerkaufsatz (und ähnlich Theodor W. Adorno den Baudelairetext im Passagenwerk) „zensiert“ hätte, ihre Machtstellung gegenüber dem in Paris um seine materielle Exsitenz kämpfenden Benjamin ausnutzend. Dem „Empört Euch!“ von damals halten die Herausgeber nun mehr ein „Entspannt Euch!“ entgegen. Denn von „Erpressung“ zu reden sei „nicht hilfreich“: Benjamin habe von vornherein gewusst, dass Horkheimer die „Zeitschrift für Sozialforschung“ als ein wissenschaftliches Organ betrachtet habe, dessen Linie und theoretische Ausrichtung dieser letztlich allein bestimmte. Und er habe sich wiederum vorbehalten, an anderem Ort eine deutsche Fassung des in der „ZfS“ in Französisch erscheinenden Textes ohne Rücksprache mit Horkheimer zu publizieren; dies zeige die Entstehung der Fünften Fassung.

In Sachen Bertolt Brecht weist der Band sogar mit einer neuen Erkenntnis auf. Rolf Tiedemann hatte im Apparat des ersten Bandes der „Gesammelten Schriften“ Benjamins ausgehend von heftigen Formulierungen Brechts über den Begriff der Aura in dessen Arbeitsjournal angenommen, Brecht habe den Kunstwerkaufsatz abgelehnt. Nun wird gezeigt, dass sich Brechts Kritik gar nicht auf den Text von 1935, sondern auf Gespräche mit Benjamin im Sommer 1938 bezogen. Benjamin hatte inzwischen das Konzept der Aura verändert. Nicht mehr wie 1935 als „Ferne, so nah sie sein mag“, als Einmaligkeit und kultisches Überbleibsel eines Kunstwerkes, sondern Benjamin präsentierte nun seine Auratheorie als anthropologisches Modell reziproken Blickaufschlages und der Blickerwiderung. Brechts Notiz: „er sagt: wenn man einen blick auf sich gerichtet fühlt, auch im rücken, erwidert man ihn (!). die erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die aura.“ Solches hielt Brecht für „Mystik“, nicht aber den Kunstwerkaufsatz. Man sieht: Den Kunstwerkaufsatz zu studieren heißt, auf Entdeckungsreise zu gehen. Man darf sich nur nicht daran stören, dass er ein Klassiker geworden ist.

Titelbild

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe: Band 16.
Herausgegeben von Burkhardt Lindner unter Mitarbeit von Simone Broll.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
722 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783518585894

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