Lass rauschen, Lieb, lass rauschen

Joseph von Eichendorff wieder entdecken – mit einer neu aufgelegten Werkausgabe

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der deutsche Nationalcharakter als literarische Figur? Die Antwort „Faust“ ist so offensichtlich, dass man gelangweilt abwinken möchte. Oder doch nicht? Thomas Mann war anderer Meinung, jedenfalls zeitweise. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918), diesem Großpamphlet gegen alles Zivilisatorische, Moderne und Französische, plädierte er für Eichendorffs „Taugenichts“. Dieser naive Jüngling, der durch die Welt mehr stolpert als geht, der Religion und Poesie jedem Eintreten für nur vermeintlich höhere Ziele vorzieht, er war für Mann „ein in seiner Anspruchslosigkeit rührendes und erheiterndes Symbol reiner Menschlichkeit, human-romantischer Menschlichkeit, noch einmal denn: des deutschen Menschen.“

Das ist aber noch nicht der Thomas Mann, der sich später zur Weimarer Republik bekennt, und der sich im Exil leidenschaftlich gegen den Faschismus engagiert. Mit seinem Lobgesang auf den „unpolitischen“ Taugenichts meint der Schriftsteller in Wahrheit etwas eminent Politisches: nämlich ein Bekenntnis zu einem ehrlichen, aus dem Herzen kommenden Konservatismus, der sich gegen vermeintliche Schlagworte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie wendet. Nun ist Eichendorff dafür kein schlechter Kronzeuge. Der war tatsächlich ein tief konservativer Autor, der in der Aufklärung und ihrer Fortführung durch die Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 vor allem die Zerstörung einer alten, harmonischen Weltordnung sah, gegen die er mit seinem Bekenntnis zur Poesie und zum Christentum angehen wollte. Dass er dabei auf Dauer unterliegen würde, war ihm bewusst.

Eichendorff war also schon zu Lebzeiten ein Mensch von gestern. Was man von ihm noch kennt, bestärkt diesen Eindruck: In den Schulen und Universitäten liest man noch den besagten „Taugenichts“, eine zweite Novelle namens „Das Marmorbild“ sowie eine Handvoll Gedichte, die vor allem wegen ihrer Vertonungen im Gedächtnis geblieben sind. Besonders die Lyrik zeigt, wo tatsächlich eine Schwäche des Werkes zu liegen scheint: Auf jedes gelungene Gedicht wie die wunderbare „Mondnacht“ oder die „Wünschelrute“ („Schläft ein Lied in allen Dingen…“) kommen drei bis vier, die wie ihre bloße, weniger gelungene Variation wirken. Mal ertönt das Posthorn vor dem Rauschen des Waldes, mal danach, und ewig scheint der Mond über dem grünen Wald, durch den der Jäger streift, wenn nicht in einem kühlen Grunde das Mühlrad geht. Diese Lego-Lyrik ist in der Tat ermüdend. Nicht zu vergessen ein liebloser Schulunterricht, der – ich spreche aus leidvoller Erfahrung – die Novellen stumpfdumpf runterrattert; möglicherweise, weil er nun mal auf dem Lehrplan steht und es praktische Lektürehilfen gibt, die einem die lästige Denkarbeit bei der Unterrichtsvorbereitung ersparen. Und nicht zuletzt kann man sich ärgern, dass Eichendorffs Popularität über lange Zeit zum einseitigen Bild der Romantik beigetragen hat, das sie als Mischung aus Patriotismus, Christentum und heiler Welt gefeiert oder – je nach Standpunkt – verdammt hat, worüber der kosmopolitische, experimentelle Charakter ihrer Anfänge im Jena der 1790er-Jahre in Vergessenheit geriet.

Aber, wie Theodor W. Adorno einmal treffend schrieb: „Eichendorff erkennend vor Freunden und Feinden retten, ist das Gegenteil sturer Apologie“. Zum einen muss man die Texte vor ihrer Rezeption trennen, davor, dass man sie lange Jahrzehnte nur „dem Männergesangverein überantwortet“ (wie ebenfalls Adorno formuliert) oder zu schlesischer Heimatdichtung herunterprovinzialisiert hat. Eichendorffs vermeintlich heile Welt entspringt nämlich gar keiner ungebrochenen Naivität, sondern dem Bewusstsein um die Zerrissenheit unserer Existenz, wie sie nun einmal ist. Dem Heimweh nach einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Das weiß auch Eichendorff, der durch seine späten Texte – damit ist er früh dran – immerhin die Eisenbahn fahren lässt, wenn auch mit kulturkritischen Untertönen. Dass es nicht reicht, eine „gute alte Zeit“ vor 1789 zu zelebrieren, weiß auch er, und macht sich über die Anstalten dazu lustig. Denn nicht zuletzt – man glaubt es kaum – steckt in Eichendorff ein veritabler Satiriker, der die Burschenschaften von Heidelberg ebenso durch den Kakao ziehen kann wie einen Landadel, der geistig noch im Rokoko verharrt, während schon Napoleon mit seinen Truppen in Deutschland einzieht. Das macht ihn noch nicht zum progressiven Geist, aber zu jemandem, der seine Zeit mit einem wacheren Auge verfolgt, als man ihm zutrauen mag.

Nimmt man eine Werkausgabe zur Hand, zeigt sich, wie schmal überhaupt die Basis ist, auf die sich das kanonische Eichendorff-Bild stützt. In diesem sind weder die beiden Romane „Ahnung und Gegenwart“ und „Dichter und ihre Gesellen“ enthalten, noch der Großteil der Lyrik und die Satiren, noch die Dramen und späten Versepen, von den kritischen Schriften ganz zu schweigen. Und damit wären wir endlich beim eigentlichen Anlass dieser Rezension angelangt – der zweibändigen Werkausgabe aus dem Artemis & Winkler Verlag, die nun pünktlich zu Eichendorffs 225. Geburtstag erscheint. Auf über 2.000 Seiten versammelt sie einen Großteil der dichterischen Arbeiten. Völlig neu ist sie freilich nicht, sondern es handelt sich um die 4. Auflage einer Edition, die zuerst 1986 erschienen ist. Es handelt sich auch nicht um eine „Neuausgabe der sämtlichen Werke“, wie Ansgar Hillach in seinem Vorwort fabuliert, sondern „nur“ um die Dichtungen, ohne Tagebücher, ohne kritische Arbeiten, ohne Briefe, Fragmente und ohne die „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“; diese irreführende Formulierung ist schon ein Ärgernis.

Umso erfreulicher sind die Texte selbst. Wenn man einzelne Gedichte oder den „Taugenichts“ bereits liebt, kann man selbstverständlich an diesen Stellen anfangen. Noch besser aber bei unbekannteren Juwelen – etwa dem erschütternden Zyklus „Auf meines Kindes Tod“, mit dem der Dichter den Tod seiner kleinen Tochter Anna Hedwig betrauert, und die man Rückerts „Kindertotenliedern“ an die Seite stellen möchte; bei „Die Zauberei im Herbste“, der ersten, noch stark von Ludwig Tieck inspirierten Novelle; oder aber beim letzten Text des ersten Bandes. Hinter dem spröden, lapidaren Titel „Erlebtes“ verbergen sich die beiden einzigen ausgeführten Kapitel aus Eichendorffs leider nicht zu Ende geschriebenen Memorien. Auf nicht einmal sechzig Seiten erweist sich der Autor als ein melacholischer wie bissiger Zeitdiagnostiker, wie man ihn sonst selten erlebt. Allein dieser Text macht Lust auf eine lange Entdeckungsreise durch zweitausend Seiten. Und die hat der Autor allemal verdient.

PS: Nein, der Titel dieser Rezension ist nicht von Eichendorff. Aber aus dem Buch, das seine Lyrik inspiriert hat wie kein zweites. Wer es errät, darf „O Täler weit o Höhen“ noch einmal rezitieren.

Titelbild

Joseph von Eichendorff: Gesammelte Werke. Zwei Bände.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2013.
2064 Seiten, 49,99 EUR.
ISBN-13: 9783411160235

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