Schneller als Phileas Fogg

Nellie Blys Bericht über ihre Reise in 72 Tagen um die Welt liegt nach 125 Jahren nun auch in deutscher Übersetzung vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Science Fiction ist bekanntlich ein fantastisches Genre. Gelegentlich aber wird sie von der Wirklichkeit, die ihre Ideen realisiert, wie etwa die NASA den Countdown aus Fritz Langs Film „Frau im Mond“, ein- oder sogar überholt. Letzteres widerfuhr bereits Jules Verne, dessen berühmte Nautilus von den U-Booten des 20. Jahrhunderts um einiges überboten wurde. Einen seiner Romanhelden ereilte ein ähnliches Schicksal schon im 19. Jahrhundert. Doch wurde die Rekordweltreise seines Protagonisten  Phileas Fogg nicht über- sondern unterboten – und zwar von einer Frau. Während Vernes Held „in achtzig Tagen um die Welt“ reiste, gelang ihr das Kunststück in nur zweiundsiebzig. Der Name, der damals gerade 25-Jährigen und hierzulande nahezu Unbekannten lautet Nellie Bly. Das heißt, unter diesem Namen trat sie die Reise an. Sie hatte ihn sich einige Jahre zuvor als Journalistin zugelegt.

Wieder zurück in New York, von wo aus ihre Reise begonnen hatte, publizierte sie ihren Reisebericht zunächst in einer Zeitung und sodann als Buch, das sofort zum Bestseller avancierte und nun, nach weit mehr als 100 Jahren, auch in deutscher Sprache vorliegt. Der englischsprachige Titel „Around the World in 72 Days“ wurde allerdings beibehalten. Nur der Untertitel „Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts“ weist darauf hin, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Bly war in dem gemeinten Sinne natürlich nicht ‚nur‘ die schnellste Frau ihrer Zeit, sondern, der schnellste Mensch überhaupt.

Doch schon zuvor hatte Bly Schlagzeilen gemacht – und zwar in dem doppelten Sinne, dass sie nicht nur welche verfasste, sondern auch für sie sorgte. Als sogenannte Girl Stunt Reporter und eine der Mütter des investigativen Journalismus hatte sie sich sozusagen under cover in eine der berüchtigten ,Irrenanstalten’ des Landes einweisen lassen, um anschließend darüber zu berichten. Jahrzehnte später war sie dann neben der von dem misogynen Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“ so übel aufs Korn genommenen Alice Schalek eine der beiden Frauen, die sich als einzige wagten, als Frontberichterstatterinnen in eine Domäne einzudringen, die wie wohl keine andere als männlich besetzt galt.

Geboren wurde sie als Elisabeth Jane Cochran(e). Dass sie einmal ein berühmte Journalistin und Weltreisende werden sollte, wurde ihr keineswegs an der Wiege gesungen. Da ihr Vater früh verstarb und der Familie fortan ‚der Ernährer‘ fehlte, konnte ihre Mutter Elisabeths Ausbildung nicht zu Ende finanzieren und die angehende Lehrerin musste ihr Studium abbrechen.

Den Weg in den Journalismus fand sie über einen Leserinnenbrief an die New Yorker Tageszeitung „The World“, den sie als erboste Reaktion auf einen misogynen Artikel verfasste, in dem „gegen Frauen gewettert“ wurde, „die ihren Platz außerhalb von Heim und Familie suchen“, wie Martin Wagner, der Herausgeber des vorliegenden Buches, formuliert. Ihr Brief hatte den leitenden Redakteur derart beeindruckt, dass er Bly sofort um Beiträge für die Zeitschrift bat. Eine Bitte, der sie schon bald mit ersten Artikeln etwa über „Die Sphäre der Frau“, oder das misogyne Scheidungsrecht ihrer Zeit gerne Folge leistete.

Ihr Idee, schneller als Vernes Romanheld um die Welt zu reisen, wird vom Chefredakteur allerdings mit der Begründung zurückgewiesen, nur ein Mann sei einer derartigen Aufgabe gewachsen, sie als Frau benötige hingegen einen Beschützer. Als sie daraufhin androht, auf eigene Faust aufzubrechen, falls er einen Mann beauftragen sollte, und ankündigt, sie werde schneller sein als dieser, willigt er doch ein. Allerdings sollte es noch ein Jahr dauern, bis sie die Reise wirklich antreten durfte. Nun aber soll es plötzlich vom einen Tag auf den anderen geschehen, nämlich am 14. November des Jahres 1889. Eine mögliche Erklärung für diese unerwartete Eile könnte sein, dass die New Yorker Monatsschrift „Cosmopolitan“ genau an diesem Tag Elisabeth Bisland mit eben dem gleichen Auftrag auf Reisen schickt, wovon Bly allerdings nichts weiß. Vielmehr wird sie erst in Hongkong von der Konkurrentin erfahren und der Nachricht zunächst keinen Glauben schenken. An einem Wettrennen möchte sie jedenfalls nicht teilnehmen und beharrt darauf, nur gegen die von Vernes Roman gesetzte Zeit anzutreten, „schneller als Phileas Fogg“ zu sein und die Welt nicht in achtzig, sondern in 75 Tagen zu umrunden.

Ihre Reiseroute soll sie – so das Vorhaben – von New York nach London über Calais, Brindisi, Port Said, Ismailia, Suez, Aden, Colombo, Penang, Singapur, Hongkong Yokohama und San Francisco wieder zurück nach New York führen. In England erreicht sie eine Einladung von Jules Vernes, der von ihrem Vorhaben gehört hatte. Trotz der Gefahr, wertvolle Zeit zu verlieren, nimmt sie die Einladung gerne an und besucht das Ehepaar Verne. Natürlich ist sie sehr von ihm angetan, aber mehr noch fast von seiner Frau. Verne zeigt ihr während des kurzen Aufenthaltes eine Weltkarte, auf der er den Verlauf der Reise seines Romanhelden markiert hat. Nun zeichnet er ihre Route ebenfalls ein. Allerdings scheint er nicht so recht daran zu glauben, dass ihr Vorhaben gelingen und sie schneller als Fogg sein werde. Nach dem Abschied notiert Bly, „dass sich die Weltreise schon allein um dieses Vergnügens willen gelohnt hätte“, ihm und seiner Frau einen Besuch abstatten zu dürfen.

Bly füllt etliche Seiten ihres Buches mit kleineren Anekdoten ihrer Seefahrten oder der Charakterisierung von ReisegefährtInnen, von denen sie einige sehr sympathisch findet, andere weniger. Im fernsten Asien gehört etwa ein „sehr gescheiten Engländer“ zu ihren Mitreisenden, „der sich als Frauenhasser gab, und selbstverständlich genossen wir jeden Witz auf seine Kosten“. Gelegentlich neigt sie zu allgemeineren Reflexionen, wobei ihr allerdings auch einige unterlaufen, die  kaum über das Niveau von Kalendersprüchen hinauskommen. Doch stehen selbstverständlich die diversen Exotica, mit denen sie vor allem in den nah- und fernöstlichen Ländern in Berührung kommt, immer wieder im Mittelpunkt. So kostet sie in Indien ein Curry-Gericht mit Chutney, von dem sie sehr angetan ist, und lässt sich die Kunststücke eines Schlangenbeschwörers vorführen. Sie durchquert unbeschadet „Piratengewässer“ nach Hongkong, wo sie sie eine Kuriosität der besonderen Art erlebt, als ein Mann die Schifffahrtsgesellschaft verklagt, weil er zu früh am Ziel angekommen ist. Doch hat er einen durchaus rationalen und nachvollziehbaren Grund dafür: Er muss nun einige Nächte im Hotel übernachten und möchte die Kosten dafür erstattet bekommen. In China spaziert Bly zufällig über eine Hinrichtungsstätte, die noch vom Blut der tags zuvor geköpften Delinquenten gerötet ist. Sie lässt sich darüber aufklären, worum es sich handelt, und nimmt das Angebot, sich die Folterwerkzeuge zeigen zu lassen, nicht nur gerne an, sondern schildert die Torturen, die man den zum Tode Verurteilten mit ihnen zufügen kann, mit geradezu besessener Detailfreude.

Die Folter dient nicht dazu, Auskünfte oder Geständnisse zu erlangen, sondern dazu, die Hinrichtung möglichst peinigend zu machen. Männliche Todeskandidaten werden im Allgemeinen allerdings ‚nur‘ geköpft. Sollten sie sich jedoch eines besonders verabscheuungswürdigen Verbrechens schuldig gemacht haben, müssen sie die Todesart der Frauen erleiden, „um sie zu demütigen“. Das heißt, sie werden gekreuzigt und möglichst langsam „in Stücke“ geschnitten. „Wenn man sie zerschneidet, dann macht man es so geschickt, dass sie vollständig zergliedert und ausgeweidet sind, bevor sie sterben“, lässt sie sich von ihrem chinesischen Führer erklären. Dies ist keineswegs übertrieben. Vielmehr beschreibt er ihr offenbar die „Folter der hundert Teile“, von der auch Georges Bataille in „Die Tränen des Eros“ berichtet und zur Veranschaulichung gleich einige wahrhaft grauenhafte Fotografien beigefügt, die Gekreuzigte zeigen, denen bereits einige Fleischstücke weggeschnitten wurden. Bly aber nimmt nach der Aufklärung gerne das Angebot an, sich einige in Kalk eingelegte Köpfe Hingerichteter zeigen zu lassen.

Darüber, dass Frauen, die exekutiert werden, in jedem Fall eine grausamere Todesart erdulden müssen als Männer, verliert Bly kein Wort. Wird sie selbst jedoch als Frau Opfer geschlechtlicher Diskriminierung, so nimmt sie das sehr wohl zur Kenntnis. So etwa, wenn sie in Frankreich in ihrem Zugabteil essen muss, da Frauen, wie sie schreibt, nicht gemeinsam mit Männern in der Öffentlichkeit speisen dürfen. Ebenso, als ihr in Indien aufgrund ihres Geschlechts verwehrt wird, einen „Hindutempel“ zu betreten. Allerdings kreidet sie das nicht einer etwaigen Rückständigkeit der indischen Kultur oder gar Eigenheiten der fremden ‚Rasse‘ an, sondern vergleicht es damit, dass Frauen in Amerika zahlreiche Hotels nur durch Nebeneingänge betreten dürfen.

Doch ist ihr Reisebericht keineswegs frei von Rassismen, die, wie der Herausgeber berichtet, in früheren postumen Ausgaben gerne stillschweigend gestrichen wurden, wie etwa eine Stelle über das „schmutzigste Volk der Welt“. Auch beklagt sich Bly darüber, dass die Kulis, von denen sie sich tragen lässt, „wie Schweine grunzen“. Der deutsche Herausgeber mochte derartiges keineswegs tilgen, sondern betont hingegen, dass erst die „rassistischen Passagen die volle Bedeutung sowohl von Nellie Blys Rekordreise als auch vom Reisen am Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt zu Tage fördern“. Denn die „Geschichte des globalisierten Tourismus“ sei „ohne seine kolonialistischen Voraussetzungen und Implikationen nicht verständlich“. Dass „in dem Wunsch, die Welt zu bereisen“, „der Anspruch, die Welt zu beherrschen, immer schon mitenthalten“ ist, wird wohl so sein und gilt, so ließe sich anfügen, noch heute und zwar gleichermaßen für den chinesischen Massentouristen an den Niagarafällen, die exklusiv reisenden russischen Gasmagnaten in aller Welt, die Petrodollar schwenkende Gattin eines saudischen Ölprinzen auf europäischem Einkaufsbummel wie auch den letzten europäischen Rucksacktouristen in ausgelatschten Sandalen am Strand von Goa.

Bemerkenswert an Blys Rassismen ist, dass sie eher auf Angehörige des männlichen Geschlechts gemünzt sind, während sie etwa den „Anblick“ der „vollkommenen, statuengleichen Frauen“ in Aden „überaus hinreißend“ findet, was sich allerdings auch als positiver Rassismus deuten ließe.

Bei all dem hat sie jedoch offenbar sehr wohl auch Gefallen an den Männern des Fernen Ostens gefunden, traf sie dort doch „in jedem Hafen, in den ich kam, so viele Junggesellen vor – Männer von Rang, Vermögen und guter Erscheinung“. Darum zögert sie denn auch nicht, jungen Amerikanerinnen ,auf Männerfang’ zu raten: „Mädchen, auf in den Osten! Es gibt dort Junggesellen im Überfluss!“

Vor allem aber für Land und Leute des Mikado ist sie voller Lob. So preist sie die JapanerInnen als „sehr fortschrittliches Volk. Sie halten an ihrer Religion und Lebensweise fest, die in vielerlei Hinsicht der unseren überlegen ist, doch sie übernehmen bereitwillig jedes Gewerbe, jede Gepflogenheit, die gegenüber den ihren eine Verbesserung darstellt.“

Zurück in den USA durchquert sie ihr Heimatland von Kalifornien nach New York. Eine Fahrt, die ihr „als ein einziges Gewirr aus Begrüßungen, guten Wünschen, Glückwunschtelegrammen, Obst, Blumen, lautem Jubel, wilden Hurrarufen, eiligem Händeschütteln und einem wunderschönen Eisenbahnwaggon voller Blumen in Erinnerung“ ist.

Zu ihrer Zeit war Nellie Blys Weltreise zweifellos ein beispielloses Unternehmen und ihr Buch darüber eine Sensation. Heute nehmen sich beide doch eher etwa betulich aus.

Titelbild

Nellie Bly: Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts.
Herausgegeben von Martin Wagner.
Übersetzt aus dem Englischen von Josefine Haubold.
AvivA Verlag, Berlin 2013.
317 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783932338557

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