Gerechtigkeit vor Recht

Das Krimigenre feiert den Untergang des Rechtssystems als großen Erfolg von Moral und Gerechtigkeit

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

1. Das irritierte Recht

Die Verunsicherung über die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems geht weit zurück und hängt eng mit der Konstitution der modernen, mithin offenen Gesellschaft zusammen. Gerade das Krimigenre hat dem immer wieder Ausdruck gegeben.

Die Ermächtigung gesellschaftlicher Instanzen wie des Individuums, wie sie in der politischen Philosophie diskutiert werden, basiert direkt auf der Ablösung des ancien regime, das ja selbst bereits – so sehr es noch der personalen Gewalt verschrieben war – die Verrechtlichung der sozialen Beziehungen vorangetrieben hatte. Die Rechtsposition des Müllers von Sanssouci ist zwar immer noch gegen den Machtanspruch des absoluten Herrschers durchzusetzen, aber sie besteht immerhin. Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas kann sich auf einen Rechtsanspruch berufen, der gerade von den Repräsentanten des Staats – widerrechtlich – nicht gewahrt wird, auch wenn es die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht suspendiert.

Hans Falladas „Kleiner Mann“ hingegen hat solche Ansprüche noch nicht erhoben und lässt sich um 1930 widerstandslos von den Schaufensterscheiben einer Berliner Schmuckmeile verjagen. Er gehört nicht dazu, und gerade deshalb hat er keinen Anspruch darauf anzuschauen, was nur den Dazugehörigen zusteht.

Was hier als anachronistischer Machtmissbrauch angeprangert wird, gerät allerdings zur selben Zeit bereits in den Verdacht, gerade Ausdruck des Zerfalls gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen zu sein. Die zweifellose Ordnung bricht unter dem Anspruch zusammen, sich nicht aus der Gottgegebenheit, sondern aus ihrem Verhältnis zu den Individuen abzuleiten und zu legitimieren. An ihre Stelle tritt ein auf Konventionen und Vereinbarungen ruhendes System, das dem Einzelnen grundsätzlich große Handlungsfreiheit zugesteht. Diesen Einzelnen und seine Selbstgestaltung wiederum zu sozialisieren, ist – wenn man so will – das Basisprojekt der Zivilisation unter den Vorzeichen der Moderne, das beständig von Scheitern bedroht ist – und im Symbolraum des Krimigenres ständig gescheitert ist. Und nur von dem ist hier die Rede.

Es ist ja gerade der Legitimationszwang wiederum der Staatsgewalt, der ihr Gewaltmonopol rechtfertigt. Nur in begründeten Fällen und in einem geregelten Verfahren kann in die Freiheitsrechte des Einzelnen eingegriffen werden – der Staat darf ebensowenig willkürlich agieren wie der Einzelne. Das ist am Beginn des 20. Jahrhunderts für alle beteiligten Instanzen, deren Repräsentanten samt und sonders aus autoritären Bedingungen entkommen sind, ein hoher Anspruch, dem kaum jemand genügen kann, dem zu entsprechen hohen Aufwand erfordert – und der zudem genügend Gelegenheit gibt, gegen die Zumutungen der Zivilisation zu verstoßen.

Der Niedergang der autoritären Herrschaftsformen wird damit im selben Moment gegen die staatliche Herrschaft selbst gewendet. Wenn der Staat offensichtlich (wiederum eingeschränkt: im Symbolraum des Krimigenres) an Macht und Durchsetzungsfähigkeit verliert, dann besteht kein Grund, sich nicht auf seine Kosten und gegen die von ihm vertretenen Regeln durchzusetzen. Die Abstraktheit und Distanz der gesellschaftlichen Institutionen provoziert ja gerade die Idee, sich in einem abgeriegelten Bereich als eigenständige Macht zu etablieren und sich in diesem Handlungsbereich als einzige durchsetzungsfähige Regulierungsinstanz zu behaupten.

Die Installierung des privaten, selbstbestimmten Ermittlers als Agent der Erkenntnis rekurriert direkt darauf. Er ist es, der die Selbstermächtigung irregulärer Instanzen (die zum Teil aus dem Kernbereich der politischen und wirtschaftlichen Eliten stammen) als erkenntnisleitende Instanz zum Vorschein bringt und korrigierend eingreift. Dabei liegt der Fokus zu Beginn der Entwicklung vor allem auf der Produktion von Erkenntnis selbst und nicht auf der Korrektur der Missstände. Mehr noch, eine geordnete wie ausbalancierte Gesellschaft, die rechtsstaatlichen Prinzipien gehorcht, wird grundsätzlich dementiert. Das Shootout, das die Handlung beendet, führt nicht zur Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten geordneten und ausbalancierten Gesellschaft, sondern verweist auf die Kontinuität der Unrechtsgesellschaft im gesellschaftlichen Kontinuum.

Die frühen hard boiled-Romane wie Dashiel Hammetts „Red Harvest“ (1929) bis hin zu den deutlich späteren Produktionen wie „Chinatown“ (1974) sind so gesehen als politische Literatur ausgezeichnet, ihr Basiskonstrukt reicht jedoch weiter als eine wie auch immer geartete Kritik am Missbrauch gesellschaftlichen Einflusses und wirtschaftlicher wie politischer Macht. Ihre Haltung ist grundsätzlich pessimistisch – sie zeigen den Zerfall und den Machverlust der offenen Gesellschaft, die sich – kaum konstituiert – den kriminellen Aktivitäten gerade ihrer vornehmsten Repräsentanten ergeben haben.

Das führt zu dem denkwürdigen Muster, dass den offenen Gesellschaften, die sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts als rechtsstaatliche Systeme etablieren, im selben Moment nachgesagt wird, dass sie die eigentlich anarchischen Zustände und den Machtanspruch antizivilisatorischer Instanzen lediglich verdecken sollen und sie – mehr noch – eigentlich provozieren. Die Auszeichnung des Rechts als Klassenjustiz macht dabei lediglich einen Teilbereich seiner perversen Existenz aus. Der weitaus größere Teil ist dem generellen Schutz vor Gewalt verschrieben, die sich bei genauerem Hinsehn eben nicht als gebrochen und zivilisiert erweist, sondern ungebrochen ausagiert wird. Die Gewalttätigkeit der monströsen Gangsterkönige des neueren Krimis ist nur deshalb ungebremst, um die Gewaltfreiheit der zivilen Gesellschaft umso grundsätzlicher konterkarieren zu können.

Im neueren Krimi findet dies gerade in den Produktionen Ausdruck, die sich dem kriminellen Unterbau der Gesellschaft widmen: Die wahren Herrscher sind Drogenbarone, die Städte beherrschen, international agierende Rauschgiftkonzerne, die sich ganzer Staaten bemächtigen. Ihr Kennzeichen ist eine ungeregelte und extreme Gewalt, mit der Interessen durchgesetzt und Claims symbolisch und tatsächlich reklamiert werden. Hier agieren Kampagnenfürsten, die in ihrer Herrschaftszeit ohne Widerspruch und ohne Gegengewalt agieren und deren Machtanspruch ungebrochen scheint. Sie sind vielleicht kurzlebig und nie gelingt es ihnen, ihre Macht über ihren eigenen Lebenshorizont hinaus zu institutionalisieren (die drei Teile von „Der Pate“ demonstrieren ja gerade die Probleme der generationenübergreifenden Stabilisierung auch der kriminellen Machtbasis). Die problematische Struktur bleibt jedoch erhalten – ihre Repräsentanten und Institutionen wechseln nur in ungeheurer Rasanz.

Beinahe das gesamte Werk des amerikanischen Autors Jerome Charyn ist dieser Grundkonstruktion gewidmet, dass offizielle Gesellschaft, Staatsmacht und krimineller Unterbau eng, ja untrennbar miteinander verbunden sind. Das hat zum Teil mythischen Charakter, zumal bei Charyn. Aber um diese Konstruktion als basal kennzeichnen zu können, muss sie als striktes Gegenteil ausgerichtet werden, sie darf nicht zivilisiert, nicht rational sein.

Dennoch ist sie zentrales Element der offiziösen Gesellschaft, wenn auch von deren Oberfläche überdeckt: Die eigentlichen Akteure in der gesellschaftlichen Entwicklung sind die kriminellen Unternehmer, nicht jene vorgeblich legalen und legitimen Unternehmen, denen gemeinhin die Hauptrolle bei der Veränderung von Gesellschaft zugeschrieben wird. Die wahren system builder sind die Kriminellen, nicht die Unternehmerpersönlichkeiten wie Siemens, Bosch, Rathenau oder wie deren amerikanischen Kollegen auch heißen mögen.

Gerade im derzeit so erfolgreichen seriellen Format wird dieses Phänomen intensiv ausformuliert: Formate wie „Sopranos“, „The Wire“ oder „Breaking Bad“ präsentieren die kriminelle Szene als gesellschaftlichen Basis. Romane wie Don Winslows „Tage der Toten“ („The Power of The Dog“, 2005), David Peace „Red Riding Quartett“ (1999-2002) oder Richard Prices „Lush Life“ (2008, „Cash“, deutsch 2010) und „Clockers“ (1992, deutsch 2011) bauen diese Szenerie weiter aus und demonstrieren dabei die Belastbarkeit der Idee vom kriminellen Teil der Gesellschaft als ihrer Essenz. Im Vergleich dazu ist das Reich Vito und Michael Corleones ungemein zivilisiert. Die Gesellschaft im Krimigenre heute ist heillos, der Staat entweder korrupt oder machtlos, das Recht hat keine Durchsetzungskraft.

2. Das Prinzip Unmittelbarkeit

Das Negativ solch dystopischer Gesellschaftsbeschreibungen ist das Verhältnis zum Recht: In einer Gesellschaft, in der das Machtmonopol des Staates entweder nicht vorhanden ist oder als Farce wahrgenommen wird, müssen Recht und Gerechtigkeit notwendiger Weise auseinanderfallen. Damit dennoch Gerechtigkeit durchgesetzt werden kann, weichen die Erzähler aller Medien auf ein auf den ersten Blick anachronistisches Konzept aus: die Durchsetzung der Gerechtigkeit durch die Rache.

Hintergrund ist, dass in einer Dystopie keinesfalls mehr davon ausgegangen werden kann, dass ein Verbrechen bestraft wird. Es wäre geradezu widersinnig, von einer Gesellschaft zu erwarten, dass sie eine angemessene Strafe für ein Verbrechen durchsetzt, wenn ihre Basis ja gerade aus kriminellen Institutionen und Akteuren besteht und wenn das basale Handlungsmuster die ungezügelte Gewalt darstellt (die nebenbei bemerkt allerdings zugleich streng hierarchisiert und reglementiert wird, das kriminelle Milieu ist nicht regellos, es gehorcht anderen Regeln und anderen Instanzen). Mit anderen Worten, es gibt kein Rechtssystem, zumindest keines, das wirksam Recht durchsetzt.

Dies wird in der Regel durch die Hilflosigkeit der Akteure gekennzeichnet, die als Teil des Rechtssystems agieren, Polizisten und Richter. Beide sind im Grundsatz strengen Regeln unterworfen und müssen sehr präzisen Anforderungen entsprechen: Alles was sie tun, muss Bestand haben, was sie darauf verpflichtet, Erkenntnisse über kriminelle Taten auf legalem Weg erworben zu haben (auch das hat Grenzen, wie daran zu sehen ist, dass der Staat in Sachen Steuerhinterziehung illegal erworbene Informationen zur Aufdeckung von Vergehen erwerben und ungehindert einsetzen darf).

Die Figur des eigenmächtigen Ermittlers, die die Hilflosigkeit des Rechtssystems konterkariert, hat dabei in den vergangenen Jahren eine unübersehbare Karriere gehabt: Vorläufer wie „Shaft“ (1971), der als afroamerikanisches Emanzipationskonzept angelegt wurde, konnten dabei als Muster genutzt werden. Die Hilflosigkeit des offiziellen Rechtshüters bleibt dabei jedoch Kern des Musters: In der im Jahre 2000 gedrehten Wiederaufnahme der Reihe – deren Drehbuch von Richard Price stammt – wird der rassistische Täter schließlich von der Mutter des Opfers erschossen – wenngleich mit Billigung des Protagonisten.

Zwar wird man John Shaft kaum so viel psychische Ausdifferenziertheit nachsagen wollen, dass es für ihn ein Problem gewesen wäre, selbst Hand anzulegen, aber mit diesem Kniff lassen sich die legalen Akteure vor einem Dilemma bewahren, dem sie nicht entkommen können. Der Repräsentant der Legalität wäre selbst kriminell und im konventionellen Denkmuster damit unglaubwürdig. Die Trennung von legalem und nicht legalem Handeln wurde damit als eine der Leitlinien, an denen Figuren entlang handeln können, suspendiert.

So aber kann er die Verantwortung für die nicht legale Tat auf andere Akteure, mithin auf die Erzählung selbst übertragen: Nicht er straft, sondern die Erzählung. Leif GW Persson hat dies jüngst in „Der sterbende Detektiv“ (deutsch 2011, „Den döende dedektiven“, Schweden 2010) exemplarisch vorgeführt: Der Protagonist bleibt hier über die gesamte Erzählung hinweg rechtskonform, und er pocht wiederholt und permanent auf die Einhaltung von Rechtsverfahren. Selbst als er erkennen muss, dass der zweifelsfreie Täter ungestraft davonkommen könnte, gibt er diese Haltung nicht auf. Er stirbt stattdessen. Damit hat die Handlung allerdings kein Ende, sondern wird umgehend auf die legitime Rache und deren Exekution umgeleitet. Der Tod des Wahrers der Legalität macht den Weg frei für die legitime Rache.

Der damit verbundene Paradigmenwechsel lässt sich seit einiger Zeit sogar in einem so biederen Format wie der „Tatort“-Reihe beobachten: Während sich zuvor deutsche Ermittler brav an die Vorschriften hielten und sie nur mäßig und nur äußerst gelegentlich überstrapazierten, brechen sie neuerdings ungehemmt in Privatwohnungen ein, konstruieren vordergründige Rechtsgründe, mit denen sie den Erwerb illegaler Informationen absichern wollen. Seitdem fummeln auch deutsche Ermittler an Schlössern herum oder treten Türen ein. Vorbei die Zeiten, in denen das persönliche Gespräch des Kommissars zur Erkenntnis und zum Schuldigen führte, der anschließend gestehen durfte und der Gerichtsbarkeit zugeführt wurde. Das hermeneutische Verfahren wird dabei mehr und mehr von einem deiktischen abgelöst: Die Schuldigen werden erkannt – zumeist erkennbar an der Plausibilität der Schuldzuweisung –, ihre wird Schuld lauthals behauptet und ihnen vorgeworfen, nun müssen sie nur noch gestehen. Was sie dann auch stante pede tun.

Nach einer kurzen Zwischenphase, in der sich die Schuldigen selbst richteten, werden vor allem Mörder nun am Schluss der Sendung hingerichtet, meist von einem Betroffenen, der sich damit Genugtuung verschaffen will. Gehäuft kommt es mittlerweile sogar so weit, dass die Ermittler selbst zu Henkern werden: In der letzten Staffel der dänischen „Sarah Lund“-Reihe, in der die Kommissarin selbst Hand anlegte und den Schuldigen tötete (im Übrigen unter heftigem Protest des „FAZ“-Feuilletons). Die englische Serie „Luther“, die 2011 im deutschen Fernsehen gezeigt wurde, beginnt sogar mit dem mordenden Ermittler – der sich im Folgenden vehement mit den Konsequenzen seines eigenmächtigen Handelns auseinandersetzen muss. Noch in „Seven“ (1995) besteht die Kernanforderung an den jüngeren der beiden Ermittler – dargestellt von Brad Pitt – darin, den vom Serienkiller John Doe provozierten Racheakt nicht zu vollziehen. Woran er scheitert – zu groß ist das Entsetzen darüber, dass Doe die Frau des jungen Ermittlers ermordet hat, um damit sein Programm erfüllen zu können. Der Zorn über die Tat ist die letzte der sieben Todsünden, die das Projekt Does begründen. Aber was 1995 noch als Scheitern gekennzeichnet wird, entwickelt sich nach der Jahrtausendwende nach und nach zur gerechten und damit legitimen Strafe.

Gelöst wird damit im wesentlichen ein Kernproblem der Moderne, das der Komplexität: Das Gerechtigkeitsmuster wird als unmittelbare Erkenntnis- und Handlungsform entworfen, mit der Tat, Täter, Opfer, Strafe und Angehörige direkt miteinander verbunden werden. Der Einschluss der Angehörigen, zu denen qua Amt auch der Ermittler gezählt wird, verweist darauf, dass der Ursprung des Musters in der Rache liegt, also einem anachronistischen Konzept, das als Rechtsverfolgungsform in traditionalen Gesellschaften lokalisiert wird.

Allerdings ist die Rache auch dort – und vor allem unter den Bedingungen von kaum ausdifferenzierten Rechtsstrukturen und -institutionen – in ihrer Praxis stark begrenzt und wird in der Regel durch eine Reihe von symbolischen Maßnahmen ersetzt, die der Ausbalancierung des Crimen dient. Und das mit gutem Grund, sind doch unbegrenzte Vergeltungsmaßnahmen, die immer neue Maßnahmen provozieren, für diese Gesellschaften extrem teuer und tendenziell fatal.

In den komplexen Gesellschaften wird deshalb das Racheprinzip durch das Strafeprinzip ersetzt, außerdem sind es nicht mehr die Angehörigen, die die Strafe exekutieren. Das Rechtssystem tritt an ihre Stelle, was sich einigermaßen funktional anhört. Allerdings verfährt das Rechtssystem, soweit es funktioniert, nach strengen und geordneten Verfahren, mit denen Schuld nachgewiesen werden muss. Außerdem wahrt es neben dem Strafrecht eben auch die Persönlichkeitsrechte des Täters, auch über den Punkt hinaus, dass er als Täter erkannt ist.

Das Krimigenre setzt nun aber (siehe oben) voraus, dass das Rechtsystem dysfunktional ist, es also die Tat nicht effektiv aufklären und den Täter nicht strafen kann, da er sich etwa über formale Mängel aus der Bredouille ziehen kann. Straffreie Täter jedoch werden nicht akzeptiert, solange das Grundprinzip traditionaler Gesellschaften gilt, dass Rechtsverstöße ausbalanciert werden müssen, und erst recht solch extreme wie es ein Mord ist – was die Konjunktur des Mordes im Krimi erklärt.

Wenn denn nun das Rechtssystem nicht mehr in der Lage ist, dem Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (denn darum geht es im wesentlichen, um die Ausbalancierung von Verstößen wie in traditionalen Gesellschaften, wobei der Angehörige auch als Abstraktum auftreten kann, nämlich als Gerechtigkeit), dann müssen er oder sein Repräsentant (der Ermittler beispielsweise) selbst tätig werden.

Dass hierbei weder hermeneutische Verfahren noch nachprüfbare Beweise eine nur ansatzweise tragende Rolle spielen, ist beinahe selbstverständlich. Dies würde auch dem widersprechen, dass die Erkenntnis der Schuld und des Schuldigen direkt und unmittelbar sein muss. Der Täter wird unmittelbar erkannt und umgehend der strafenden Gerechtigkeit ausgeliefert. Schnell und umstandslos. Ein zweifelsohne effektives Verfahren, das aber an einem essentiellen Punkt  gewaltig fehlt geht, nämlich an der Schuld selbst.

In der neueren „Shaft“-Variante ist dieses Problem zwar gelöst: Der Täter ist schuldig, nur kann er sich dem Rechtssystem entziehen, sodass er anders gestraft werden muss. Und der Film macht sich die Mühe, genau dieses Problem intensiv zu diskutieren. Aber damit übergeht das Krimi-Genre den neuralgischen Punkt des Racheprinzips, eben die Unmittelbarkeit der Erkenntnis von Wahrheit. Die ist nämlich nicht gegeben.

In der einigermaßen prominenten Serie „Dexter“ findet dieses Problem einige Aufmerksamkeit, in einem Format also, das sich eigentlich und auf den ersten Blick dem Racheprinzip als Vollzug der Gerechtigkeit verschrieben hat. Allerdings ist dies hier denkwürdig gebrochen. Denn der Protagonist Dexter Morgan ist nicht nur Teil des polizeilichen Ermittlungsteams (er gehört zur „Forensic“), er ist nicht nur ein treusorgender und bemühter Familienmensch (und damit Repräsentant der Normalgesellschaft, einer von ihnen), er ist nicht nur derjenige, der diejenigen Verbrecher bestraft, die dem Rechtssystem entgangen sind (und damit der Wiedergänger der Rache) – er ist eben auch ein Serienkiller, der aus Leidenschaft mordet. Er ist, wie es am Ende der ersten Staffel heißt, der Held der Durchschnittsbevölkerung, und einer von ihnen, wenn auch nur in ihren schwärzesten Träumen.

Der Killer aus Leidenschaft, der nur die wirklich Bösen umbringt? Wer könnte ihm da ernsthaft böse sein? Aber wer könnte auch ernsthaft behaupten, dass seine Taten legitim wären, immerhin tötet er die Richtigen aus den falschen Motiven (deren Ursachen wiederum beinahe als hinreichender Grund gelten können).

Abgesichert wird sein Handeln allerdings vordergründig dadurch, dass er in der Lage ist, tatsächlich sämtliche Beweise zu sammeln, die dazu dienen können, Schuldige zu überführen: Er ist Spezialist für Blutspuren am Tatort, er hat Zugang zu den jeweiligen Ermittlungen, er kann eigenständig agieren und hat Zugriff auf sämtliche einschlägigen Datenbanken, mit denen er Daten abgleichen kann. Dies nützt ihm jedoch wenig, neigt er doch – wie in den zahlreichen Introspektiven zu hören ist – dazu, seiner Intuition mehr zu folgen als echten Nachweisen (was für einen Naturwissenschaftler einigermaßen untypisch sein sollte). Damit greift auch er auf die unmittelbare Erkenntnis als Verfahren zurück – mit allen Fehlgriffen, die damit verbunden sind. Ein falscher Mord (wie in der vierten Staffel) suspendiert sein gesamtes Konzept, mit dem er die Spannung zwischen den verschiedenen Rollen zu auszubalancieren versucht (der Held der schwärzesten Träume zu sein).

Die mangelnde Belastbarkeit von unmittelbarer Erkenntnis hat deren Karriere im Krimigenre allerdings nicht beschädigt, wohl mir gutem Grund, denn es kommt darauf nicht an. Ganz im Gegenteil, trotz seiner Fehlerhaftigkeit ist das Unmittelbarkeitsparadigma allein deshalb attraktiv, weil es die Kernproblematiken der Moderne auszuhebeln verspricht, Abstraktion, Distanz und vor allem Komplexität. Rache ist persönlich, direkt und vor allem ganz einfach. In der Gestaltung des Genres trifft sie zudem in der Regel nicht die Falschen, aus dem einfachen Grund, dass es in den Erzählungen zumeist darum geht, Gerechtigkeit walten zu lassen. Die extreme Konkretheit der Tat ist dabei in ein Bewältigungskonzept von Moderne eingewoben, in dem Distanz durch Nähe, Abstraktheit durch Konkretheit und Komplexität durch Einfachheit ersetzt wird. Als Muster ist dies extrem erfolgreich, wie der Blick auf die Konjunktur der Actionthriller oder die nicht versiegende Reihe der selbstermächtigen Akteure zeigt. Hinzu kommt, dass das Negativpotential der Rache in der modernen Gesellschaft deutlich begrenzt worden ist, was sich daran erkennen lässt, dass die Angehörigen, die in den traditionalen Gesellschaften als Akteure gesetzt sind, im Krimi durch professionelle Protagonisten ersetzt werden können. Die durch die Tat und die Rache angetriebene endlose Kette der Vergeltungstaten wird durch die Struktur der Gesellschaft relativ schnell unterbrochen. In einer Gesellschaft von Individuen und segmentierten Kleinfamilien ist damit zu rechnen, dass die Wirkungen der Rache rasch verebben. Die Erzählungen werden damit auch abschließbar.