Fülle weiblicher Testamente

Über Kathrin Pajcics Studie zu „Frauenstimmen in der spätmittelalterlichen Stadt“

Von Albrecht ClassenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Classen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dieser umfangreichen, sehr detailliert erforschten, für den Druck aufbereiteten Dissertation (2011 eingereicht in Mannheim), wirft Kathrin Pajcic die sehr berechtigte Frage auf, wie spätmittelalterliche Frauentestamente auf ihren Aussagewert hinsichtlich der Gender-Diskussion zu beurteilen sind, das heißt ob wir in diesem umfangreichen Corpus von Texten eigenständige Frauenstimmen entdecken können. Das Problem besteht zentral darin, dass ein Testament mehr zu den offiziellen, bürokratischen Schriftwerken gehört als zu wahren Ego-Dokumenten. Aber, wie die Autorin zu Recht hervorhebt, sie reflektieren doch allesamt die „Willenserklärung und Selbstdarstellung“ einer Person, ohne dass wir hierbei auf ein feministisches Interpretament zurückgreifen müssten, denn schließlich ist ja meistens ein männlicher Notar dazwischen geschaltet und handelt es sich um eine offizielle Verteilung der Güter nach dem Tod der ,Verfasserin‘.

Um die von ihr ausgewählten Quellen in den adäquaten Kontext zu stellen, bemüht sich Pajcic zunächst um eine umfassende Reflexion der gesamten Forschung zur Gender-Debatte im Spätmittelalter, was speziell bedeutet, die Rolle der Frau in der Stadt genauer aus theoretischer Sicht zu hinterfragen. Dazu geht die Autorin auf die Überlegung ein, inwieweit Frauen im 15. Jahrhundert über Schriftfertigkeit verfügten, inwieweit sie in den Familienverband integriert waren und somit in enger Auseinandersetzung mit männlichen Vertretern beziehungsweise ihren Ehemännern diese Testamente aufsetzten, dann was der Begriff ,Ego-Dokument‘ letztlich bedeutet und wie dieser von der ,Autobiografie‘ abzugrenzen ist.

Pajcic scheut sich nicht davor, zur theoretischen Untermauerung bis weit ins frühe 20. Jahrhundert zurückzublicken und von dort noch einmal die ganze Forschungsgeschichte aufzurollen, um dann endlich auf S. 136 mit der eigentlichen Untersuchung von Testamenten einzusetzen. Aber auch hier sehen wir uns zunächst einem unendlich wirkenden Abriss der relevanten wissenschaftlichen Literatur gegenüber, müssen also bis S. 151 warten, um endlich zum Kern der vorliegenden Arbeit zu gelangen. Diese gewaltige Revue der bisherigen Forschung ist gewiss sehr eindrucksvoll, aber auch typisch für eine Dissertation, was für die Buchpublikation doch etwas anders hätte gestaltet werden sollen, um konziser und direkter auf das Thema einzugehen.

Die Autorin hat sich vor allem die Archivbestände von Hamburg, Lüneburg und Wien ausgewählt, weil der Zugang zu den Quellen dort besonders günstig ist, womit aber keineswegs die gewaltigen Probleme überwunden wären, die mit der Gattung an sich immer noch bestehen, wenn man die Stimmen von Frauen aufspüren möchte. Wie aber Pajcic deutlich zum Ausdruck bringt, dienen diese Testamente insgesamt gut dazu, spätmittelalterliche Frauen zu identifizieren, die als Handelnde auftraten und ihren letzten Willen bekundeten.

Der wesentliche Beitrag, den Pajcic leistet, besteht vor allem darin, eine Fülle an einzelnen Texten genauer unter die Lupe zu nehmen und daraufhin zu überprüfen, wie die Beziehung der Testatorin zu ihrem Mann und ihrer Familie oder dem weiteren sozialen Umfeld gestaltet gewesen sein mag. Zum einen gab es Gemeinschaftstestamente, zum anderen Einzeltestamente, und somit lassen sich doch sehr viele verschiedene Geschlechterverhältnisse wahrnehmen, weil man diese Masse an Texten wirklich nicht über einen Kamm scheren kann. Viele Testatorinnen erweisen sich hier als erstaunlich selbstbewusst und reflektierend, präsentieren sich also in beeindruckender Weise als selbständige und einflussreiche Persönlichkeiten. Natürlich muss zwischen den Verhältnissen in Lüneburg, Hamburg und Wien deutlich unterschieden werden, was Pajcic auch nicht vernachlässigt, berücksichtigt sie doch sorgfältig die jeweilige Quellenlage und die spezifischen sozialhistorischen Bedingungen, unterlässt es aber – was insgesamt doch eine wichtige Aufgabe gewesen wäre – die ökonomischen Verhältnisse in den jeweiligen Städten genauer zu untersuchen.

Man darf ihr letztlich nur darin zustimmen, dass diese Testamente wirklich als Medium für individuelle Frauenstimmen angesehen werden können, auch wenn darüber hinaus die Möglichkeiten doch relativ rasch erschöpft sind. Bemerkenswert erweist sich, wie stark auch Geschäftsfrauen und Handelstreibende uns durch diese Quellen entgegentreten, was ja auch ein wichtiges Licht auf die Situation von Frauen im Spätmittelalter wirft. Gerade als Testamente zeigen sie etwa an, wie die Besitzverhältnisse gestaltet gewesen sind und inwieweit Frauen darüber verfügen konnten. Pajcic entdeckt außerdem, dass wir anhand der Testamente Einblick in soziale Beziehungen gewinnen, so dürr auch oftmals die eigentlichen Textaussagen sein mögen.

Die Tatsache selbst, dass so viele Testatorinnen auftreten, bestätigt allgemein, dass Frauen im Spätmittelalter ein beträchtliches Selbstbewusstsein und -vertrauen besessen haben müssen, was wieder auf eine relative Selbständigkeit auch innerhalb der patriarchalischen Gesellschaft aufmerksam macht. Die Autorin betont trotzdem zu Recht, dass weiterhin der Familienstand und das Beziehungsnetz die größte Rolle spielten. Es scheint mir ein wenig bedenklich, in diesem Zusammenhang von frühneuzeitlicher „Subjektivität“ zu sprechen, wenngleich immer noch zutrifft, dass uns in diesen Testamenten deutlich ein weibliches Ich entgegentritt, selbst wenn ein männlicher Schreiber involviert gewesen ist. Die Fülle an weiblichen Testamenten bestätigt, dass jedenfalls im Spätmittelalter ein relativ ausgeglichenes Geschlechterverhältnis in der urbanen Welt bestand, denn das große Corpus an einschlägigen Quellen, die von oder für Frauen verfasst wurden, unterstreicht, wie stark es Frauen gelungen war, an der „Testierpraxis“ teilzunehmen. Diese beeindruckende Arbeit schließt mit einer Bibliografie, es fehlt aber ganz empfindlich ein Register und ein Abbildungsverzeichnis.

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Kathrin Pajcic: Frauenstimmen in der spätmittelalterlichen Stadt? Testamente von Frauen aus Lüneburg, Hamburg und Wien als soziale Kommunikation.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2013.
505 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783826049965

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