Zeichen aus der Tiefsee

Christian Holtorf vermisst die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels neu

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Mediengeschichte wird nur allzu gern als Erzählung der Überwindung von Zeit und Raum gelesen. Verlockend und naheliegend ist die Deutung, die Entwicklung und Verbreitung etwa des Buchdrucks, der Telefonie und des Internets als Fortschrittsgeschichte zu interpretieren, in der Kommunikation und Information immer schneller und räumlich unabhängiger werden. Doch ist diese Auslegung durchaus fragwürdig: Wohin soll dieser teleologisch aufgefasste Prozess letzten Endes führen? Zu einer vollständigen Auflösung von Zeit und Raum? Wohl kaum.

Vielmehr lässt sich die Geschichte eines Mediums auch aus soziokultureller Perspektive erzählen: Welche Anregungen und Interessen führten zur Entwicklung der neuen Technologie? Welche wissenschaftlichen Kenntnisse mussten erarbeitet und welche Erfindungen entwickelt werden? Welche Hoffnungen weckte ein neues Medium? Wie etablierte es sich und zu welchen Zwecken wurde es genutzt? Aus diesem Blickwinkel der „Bedingungen historischen Wandels“ betrachtet der in Coburg lehrende Wissenschaftshistoriker Christian Holtorf die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels. Statt einer „Hagiografie von Helden, Pionieren und Propheten“ sucht er nach Hintergründen und Folgen des „ersten Drahts zur Neuen Welt“.

Ausführlich beleuchtet Holtorf die Utopien, die sich mit der Verlegung des Kabels verbanden und bis zur Idee des Weltfriedens reichten. „British and American Science, skill and application […] have made 3.000 Miles of no importance, have conquered Space and mastered Time“, heißt es dort etwa. Ganz gegen diese Lesart stellt Holtorf die Probleme heraus, die die Verlegung des Kabels mit sich brachte: Aufgrund mangelnden Wissens über das Phänomen der Elektrizität wurden die Kabel zunächst falsch konstruiert und belastet, in nahezu völliger Unkenntnis der Tiefsee falsche Erwartungen geschürt. So lässt sich die Geschichte des ersten Drahts zur Neuen Welt auch als eine Geschichte der Fehlurteile lesen. Gewissermaßen im Trial-&-Error-Verfahren wurde sukzessive ein praktikables Verfahren ertastet. Wenn auch die ersten Anstrengungen scheiterten, regten sie doch nur immer weitere, von größerem Erfolg geprägte Versuche an. Zunächst einmal sorgte die Idee des Kabels also für einen Forschungsschub. „Das Schreckensbild des Meeres wurde durch kartografische Erfassung, die Sondierung des Meeresbodens und schließlich das Verlegen von Unterseekabeln aufgelöst.“ Anstatt die Zeit zu nivellieren, sorgte das Kabel für ihre neue Evidenz: Durch die Zeitverschiebung erreichte so manche Nachricht ihren Empfänger bereits vor ihrer Absendung, sodass die transatlantische Telegrafie zunächst für eine Problematisierung der Zeit sorgte.

Holtorf erstellt so ein facettenreich und quellenstark belegtes Panorama der Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels. „Der erste Draht zur Neuen Welt“ ist daher keine Erzählung vom Triumph der Technik über Raum und Zeit, sondern eine präzise Vermessung der Rahmenumstände der Verlegung. Vielleicht hilft eine solche Betrachtung ja gar bei der Einordnung aktueller Entwicklungen und Techniken: All die Utopien rund um das Telegrafenkabel blieben vor rund 150 Jahren notwendig unerfüllt, die Euphorie der Zeitgenossen erlebte einen Dämpfer. Und so transformiert auch das Internet heute nicht Autokratien zwangsläufig in Demokratien, nur weil es potentiell einem Jeden diskursive Teilhabe ermöglicht. Denn die Menschen hinter der Technik bleiben die gleichen – auf allen Seiten. Anstatt Raum und Zeit aufzulösen, ist ganz im Gegenteil zumindest die Zeit präsenter als je zuvor, sorgt doch die medial bedingte Informationsflut für eine kaum zu bewältigende Verknappung der selbigen.

Titelbild

Christian Holtorf: Der erste Draht zur Neuen Welt. Die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
350 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312425

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