Ein exaltierter Schreiber

Das Werk des Genfer Autors Nicolas Bouvier (1929-1998) oszilliert zwischen der Unstetigkeit des Nomaden und der Geduld des Wortsuchers

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geborene Reisende sind stets auf Achse, Ungeduld und Neugier treiben sie weiter. Nicolas Bouvier war ein solcher Reisender. In jungen Jahren schon zog es ihn von zuhause weg. Der Vater ließ ihn gehen und gab ihm bloß den einen Satz mit auf den Weg: „Schau dich um, und schreib mir.“ Bouvier ist ihm gefolgt, in beiden Teilen. Er sammelte reiche Eindrücke und Bilder, die ihn zum „Ikonographen“ machten. Und er begann zu schreiben, leidenschaftlich gern Briefe, dann Notizen und Reportagen, schließlich Prosa und Gedichte. Im Band „Lob der Reiselust“ beschreibt er diesen Ausbruch aus der heimischen Umgebung, der ihn rund um die Welt führen sollte. Gerade weil Bouvier seine Eindrücke aber zunehmend sprachlich verarbeiten wollte und musste, unterlässt er es nicht, dem Satz vom unsteten Reisenden sowohl zuzustimmen wie ihm zu widersprechen. Denn „nach Wochen eines erschöpfenden, ungewissen Lebens“ finden viele von ihnen wieder ihr „Ithaka der Rückkehr und des Zuhauses, wo sie dann monatelang ihre Reise in den Erinnerungen mazerieren lassen und sich daneben wie Mönche in Bücher vertiefen“. Denn Reisende sind auch Enzyklopädisten in Geist und Tat. Das ist das eine. Darin gleichen sie ihren Antipoden, wie er im glänzenden Aufsatz „Das Reisen, das Schreiben, der Andere“ festhält. Es gibt zwei Formen des universellen Schriftstellers: hier die Reisenden, da die Seher. Unterwegs sind sie beide.

Schreiben wurde zu Bouviers Elixier, das ihm Linderung verschaffte, wenn ihm vor lauter Eindrücken schier der Kopf zu platzen drohte „wie ein überreifer Kürbis“. Zugleich war es ein Krampf, hatte er doch ständig gegen die „Unzulänglichkeiten der Sprache“ anzukämpfen. „Sowohl das Beste“ – die „Momente vollkommener Präsenz“, wie er Kenneth White zitiert – „wie das Schlimmste unseres Erlebens lässt sich nicht sagen“. Entsprechend fiel ihm das Schreiben nie locker und leicht, es war vielmehr ein langwieriger Prozess, voller Widerstände und Sprunghaftigkeit. Exakt diese Kantigkeit des Bouvier’schen Stils hat Stefan Zweifel in seiner schillernden Neuübersetzung des Ceylon-Buches „Skorpionfisch“ ins Deutsche übertragen.

1953 begab sich der 24-jährige Bouvier mit seinem Freund Thierry Vernet auf eine mehrjährige Reise. Im Fiat Topolino fuhren sie quer durch Europa und den Mittleren Osten nach Afghanistan. Während Vernet von hier aus nach Ceylon voraus flog, fuhr Bouvier mit dem Auto allein durch Indien. In Galle, einem Städtchen im Süden der Insel, trafen sie sich noch einmal. Danach trennten sich ihre Wege.

Bouvier blieb in Ceylon. Was folgte, war die Kehrseite der Reisefreuden: ein Absturz in Krankheit, Depression, böse Träume über eine verlorene Liebe zuhause in Europa. Um alle diese Turbulenzen zu überstehen und die Krise „nach und nach in den Griff“ zu bekommen, machte er sich Notizen. Dabei blieb es vorerst, obgleich ihn die Krise auch nach der Rückkehr nach Genf nicht losließ. „Ich erlebte, wie die Vernunft vom Wahn überwältigt wurde“, blickte er 1992 in einem Interview zurück. Erst 25 Jahre später, 1981, entstand aus Erinnerungen, den Notizen und einem nächtlichen Diktat, der „Zone de silence“, das Buch „Skorpionfisch“.

Wir begegnen dem Autor darin, wie er in einem billigen Zimmer haust, krank und schwankend zwischen Faszination und Verzweiflung über das teuflische Ceylon. Die Erinnerung an das milde Indien macht diese Brutstätte der Lethargie erst recht unerträglich. Seine Beobachtungen sind trübe, und gestochen scharf zugleich. „Je mehr ich den Boden unter den Füßen verlor, umso besser lernte ich, diese Leere zu möblieren, indem ich meine Erinnerungen aufpolierte.“

Im Mahlstrom der Bilder und Assoziationen verquirlt nach und nach auch die Sprache. Bouvier lässt sie in der Retrospektion  ausfasern und so zum literarischen Spiegel des latenten Irrsinns werden. Genau darin besteht das Faszinosum dieses fesselnden Berichts einer „Anti-Reise“.

„Skorpionfisch“ erschien erstmals 1989 auf Deutsch. Zweifels Neuübersetzung unterscheidet sich davon in wesentlichen Teilen. Es geht ihm weniger um eine Variation desselben als um den Versuch, den poetischen Kern des Originals herauszuschälen.

Bouvier selbst hat seinen Text „surécrit“, überladen und überorchestriert genannt. Stefan Zweifel folgt ihm darin, indem er auch die Übersetzung radikalisiert. Das birgt zwar die Gefahr, in einzelnen Formulierungen exzentrisch und überspannt zu klingen. Im Endeffekt aber macht er exakt so die fiebrige Unrast und die existentiellen Abgründe auch sprachlich spürbar.

„Skorpionfisch“ ist ein einzigartiges Reisebuch. Die exotische Topografie wird zum flirrenden Spiegel eines Ichs, das sich selbst abhanden kommt. In Ceylon wurde Nicolas Bouvier zum Schriftsteller. Aus Japan schrieb er etwas später, dass die Abreise eine tiefe Zäsur hinterlassen und er gleich bei Grenzübertritt das Gefühl gehabt habe, „in eine neue Haut zu schlüpfen“.

Wie die Realität einfangen, ist die Kernfrage des Reiseschriftstellers. Bouvier hat sich mit dem Geopoeten und „intellektuellen Nomaden“ Kenneth White darüber ausgetauscht. In einem Brief an ihn schreibt Bouvier (in „Lob der Reiselust“), das ihn einzig die von White geäußerte „Vollpräsenz eines schnellen und nackten Schreibens“ interessiere, um ans Ziel zu kommen. White ist ein Vorbild, Geistesverwandter und Freund. Ihm erweist Bouvier immer wieder die Reverenz. Ihm und anderen, allen voran dem Dichter und Maler Henri Michaux (1899-1984). Michaux ist einer der Meister der „nomadischen Literatur“. Mit unnachahmlicher Lakonie und Schärfe, zugleich poetischer Verletzlichkeit kämpfte Michaux zeitlebens mit dem Schreiben. Er verurteilte es und scheiterte grandios damit. Ein kurzes Diktum aus seinen „Eckpfosten“ fasst den Kampf zusammen: „Wenn du ein zum Scheitern Berufener bist, so scheitere vor allem nicht irgendwie.“ Michaux hat dem mustergültig nachgelebt.

Beginnend mit „L’Usage du monde“ (Die Erfahrung der Welt) 1963 hat Nicolas Bouvier gegen 30 Bücher veröffentlicht. Das letzte in der Reihe, „Il faudra repartir“ (2012), erscheint im Herbst 2013 nun auch in deutscher Übersetzung: „Es wird kein Bleiben geben“.

Darin sind sicherlich nicht die stärksten Texte Bouviers versammelt. Vieles ist im Kern bekannt, immerhin aber runden die sieben bisher unveröffentlichten Notizhefte das Panorama Bouviers ab, beispielsweise mit einem frühen Bericht einer Reise nach Kopenhagen 1948, als derlei so kurz nach dem Krieg noch ein kleines Abenteuer war.

Der Titel des Bandes entstammt einer Notiz aus Frankreich von 1958. „Es wird kein Bleiben geben“, notierte er irgendwo zwischen Chambéry und Montélimar, um besorgt nachzuhaken: aber all die von Sternen übersäten Himmel, die Fische et cetera – werden sie noch da sein? Im selben Heft findet sich wenige Seiten zuvor auch ein Hinweis auf Bouviers erstes Buch „Der Gebrauch der Welt“ in Form einer ersten Titelvariation. Zur Debatte standen im Spätjahr 1958 noch „Le monde extérieur“ oder „Un moment de la vie“.

Die sieben Hefte bestreichen den Zeitraum von 1948 bis 1992, sie führen westwärts nach Kanada, ostwärts nach Indonesien und Neuseeland. Das Buch stellt sich so ergänzend neben die großen Werke, es zeichnet im Kern die Entwicklung nach, die sich aus Bouviers Œuvre herauslesen lässt. Der jugendliche Überschwang verliert sich, Bouvier wird nachdenklicher und seine Gemütsruhe wird zunehmend von Gebrechen getrübt.

Titelbild

Nicolas Bouvier: Skorpionfisch.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan Zweifel.
Lenos Verlag, Basel 2011.
232 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783857874185

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Nicolas Bouvier: Es wird kein Bleiben geben.
Übersetzt aus dem Französischen von Yla M. von Dach.
Lenos Verlag, Basel 2013.
191 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783857874376

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Nicolas Bouvier: Lob der Reiselust.
Übersetzt aus dem Französischen von Giò Waeckerlin Induni.
Lenos Verlag, Basel 2013.
190 Seiten, 13,50 EUR.
ISBN-13: 9783857874406

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