,Hoch soll sie leben‘ einmal anders

Im Band „Durchgefressen und durchgehauen“ versammeln die Herausgeber Joachim Helfer und Klaus Wettig Beiträge von Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum 150. Geburtstag der SPD

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die SPD feiert 150. Geburtstag. Die Partei, die darum kämpft, (noch) Volkspartei zu sein und zu bleiben, beging ihr Jubiläum in einer größeren, öffentlichen Feier am Brandenburger Tor, die zugleich auch der Auftakt zur Endphase des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2013 war. Viele Reden, viele Würdigungen der historischen Verdienste der SPD durch Gruppen oder Medien jeglicher Couleur freilich folgten der typischen Rhetorik der Geburtstagslaudatio: Allzu Kritisches wurde ausgeblendet, im Vordergrund standen die historischen Leistungen des Geburtstagskindes, Auseinandersetzungen mit den politischen Positionen und ihrer Spiegelung in der Wirklichkeit mussten anderen Gelegenheiten vorbehalten bleiben. Das geht anlassbezogen in Ordnung, ist legitim und nicht verwerflich; eine Geburtstagsrede ist nun einmal kein Vehikel allzu kritischer Auseinandersetzung oder allumfassender, beißender Kritik.

Dass dies nicht so sei, wenn sich Schriftsteller anlässlich des Geburtstages der SPD zu Wort melden, hofft man insgeheim. Gerade auch, wenn man sich in Erinnerung ruft, welch zwiespältiges Verhältnis die schreibende Zunft gerade zur SPD hatte und hat, allen voran Günter Grass, für den die SPD die „gute alte Tante“ war, bevor es zum Bruch und zum Parteiaustritt mit vielen öffentlich ausgetragenen Disputen kam. Für eine literarische Würdigung des 150. Geburtstages versammeln die Herausgeber Joachim Helfer und Klaus Wettig, letzterer selbst Autor und langjähriger SPD-Funktionär, die Beiträge von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, welche unter dem Titel „Durchgefressen und durchgehauen“, einem Zitat von August Bebel, der SPD zum Geburtstag gratulieren. Skepsis mag sich angesichts des SPD-Funktionärspostens von Klaus Wettig breit machen: Werden die Beiträge nicht doch zu stromlinienförmig oder zu ,politically correct‘?

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Standpunkten der historisch zweifelsohne verdienstvollen Partei einerseits, eine dem Anlass angemessene Würdigung und positive Grundstimmung andererseits – diesem Spannungsverhältnis entgehen die Beiträge insofern elegant, als die Herausgeber den Autorinnen und Autoren, jenseits fest zementierter politischer Standpunkte, freie Wahl gelassen haben bei der literarischen Form ihrer Beiträge oder auch der Perspektive oder Herangehensweise. Erfrischend ist denn auch die Vielfältigkeit der Beiträge und die jeweils ganz unterschiedliche, mitunter auch eigenwillige Art des Zugangs. Manche Autorinnen und Autoren können erkennbar wenig mit der SPD und ihren politischen Positionen anfangen (Helmut Krausser, Ricarda Junge), einige versuchen, sich über Personen – Frank-Walter Steinmeier, Friedrich Ebert, immer wieder auch Willy Brandt – zu nähern, um dem Wesen der Partei, historisch und aktuell, beizukommen (Antje Rávic Strubel, Georges-Arthur Goldschmidt, José F.A. Oliver, Norbert Niemann).

Andere wiederum sind erkennbar der SPD zugetan oder sind selbst Parteimitglieder und Funktionäre und setzen sich moderat mit strittigen Positionen, etwa zur Agenda 2010 und den Hartz IV-Reformen auseinander (Ingo Schulze, Tanja Dückers), oder plaudern aus dem Nähkästchen, wie Wahlkämpfe organisiert und Kandidaturen ausgekungelt werden, oder wie Kommunalpolitik in der Provinz funktioniert (Fred Breinersdorfer, Hans Christoph Buch, Steffen Kopetzky). Mancher Beitrag versucht sich in einer historischen Analyse und lotet geschichtliche Verwurzelung der SPD und ihre Verortung in der heutigen Zeit aus (Johano Strasser, Leander Scholz, Ralf Bönt), während an anderer Stelle ein neues Verhältnis der SPD zur Kultur und den Kulturschaffenden gefordert (Klaus Staek) oder bemängelt wird, dass bei der gegenwärtigen Sozialdemokratisierung Europas die sozialdemokratischen Parteien die Chance zum Agieren nicht ergreifen (Elke Schmitter).

In anderen Beiträgen kommt die SPD nur am Rande vor oder wird thematisch sogar gänzlich ausgeblendet, wie im sprachkritischen Essay von Kurt Drawert, der die Inhaltsleere der politischen Sprache auch dem politischen Publikum und damit uns allen zuschreibt, die wir aus dem Stand Antworten auf Fragen zu komplexen Sachverhalten erwarten oder auch Antworten auf letztlich nicht-beantwortbare Fragen. Überraschend oft thematisieren Beiträge Kindheits- oder Jugenderinnerungen ihrer Autorinnen und Autoren (Bernd Cailloux, Brigitte Kronauer, Christoph Klimke, Jens Sparschuh, Joachim Helfer, Judith Kuckart, Norbert Niemann). In ihnen gerät die SPD unversehens zur Partei der Väter, aus einer heutigen Perspektive damit seltsam anachronistisch, aus der Zeit gefallen – SPD war damals, sozusagen.

Vielfältig auch die Formen der Beiträge: Reiseskizze, Gedichte, Essays oder Autobiografisches wechseln sich ab, auch die unterschiedlichen Umfänge der Beiträge, von knappen zwei Seiten bis zu 20 Seiten, künden von der jeweils sehr individuellen, manchmal auch eigensinnigen Auseinandersetzung mit der Aufgabe, aber auch von der Distanz oder Nähe der Autorinnen und Autoren zum Thema. Schade nur, dass Günter Grass ein bereits veröffentlichtes Gedicht und nicht einen aktuellen Text beigesteuert hat, auch wenn sein ambivalentes Verhältnis zur SPD sattsam bekannt ist. Grass und Brigitte Kronauer sind denn auch die Speerspitze der versammelten Autorinnen und Autoren, zumindest was Bekanntheitsgrad und Wahrnehmung in einer breiteren Öffentlichkeit angeht. Ohnehin ist der Begriff ,Schriftsteller/in‘ von den Herausgebern recht breit angelegt und umfasst etwa mit Fred Breinersdorfer einen Drehbuchschreiber, mit Volker Ludwig einen Kabarettisten alter Schule oder mit Oskar Negt einen bedeutenden Sozialwissenschaftler.

Insofern ist der Band, glücklicherweise, nicht zum typischen Geburtstagsständchen in seichter Hoch-soll-sie-leben-Manier geworden. Er vereint Beiträge mit unterschiedlichen Positionen, unterschiedlichen Formen und unterschiedlichen Herangehensweisen, wobei die SPD und ihr Geburtstag als Thema zwar präsent ist, sich aber nicht zwangsläufig und penetrant in den Vordergrund drängt. Lässt sich der Band in seiner Gesamtheit als aktuelle Positionsbestimmung der schreibenden Zunft in Bezug auf die Sozialdemokratie lesen? Wohl kaum, zum einen diktiert der Anlass die inhaltliche Ausgestaltung, zum anderen lässt die offene Themenstellung der Herausgeber auch ein ausdrückliches Nichtpositionieren zu. Ohnehin wäre zu fragen, inwieweit die versammelten Autorinnen und Autoren repräsentativ für den gesamten Literaturbetrieb sein können. Aber den zuvor formulierten Anspruch hat das Buch letztendlich nicht.

Den Band bereichert hätten sicherlich ein oder zwei Beiträge, die aus einer radikaleren, kontroverseren, ja auch schärfer polemisierenden Position heraus geschrieben worden wären (Schwierigkeit: siehe oben): etwa aus einer erklärt anarchistischen Grundhaltung heraus oder aus der Perspektive der durch Colin Crouch geprägten Post-Demokratie-Diskussion. Dies hätte den Leser, ob der SPD nun zugetan oder nicht, mit Ungewohntem konfrontiert, hätte zum Widerspruch und kritischer Auseinandersetzung angeregt. So liest man sich durch die abwechslungsreich gehaltenen und überzeugend angeordneten Beiträge, aber auch in eine gewisse Gemütlichkeit hinein, die sich breit macht. Am Ende mag sich der Leser nach der durchaus kurzweiligen Lektüre die Frage stellen: War da was? Ach ja, die gute alte Tante hat Geburtstag…

Titelbild

Joachim Helfer / Klaus Wettig (Hg.): Durchgefressen und Durchgehauen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller gratulieren der SPD zum 150. Geburtstag.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
152 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306117

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