Begegnung im Bewusstseinsraum

Moritz Rinkes lustig-trauriges Kammerspiel „Wir lieben und wissen nichts“

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass eine glückliche Paarbeziehung am beginnenden 21. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit ist, ist inzwischen allgemein bekannt. Warum das möglicherweise so ist, zeigt Moritz Rinke in seinem neuesten Theaterstück „Wir lieben und wissen nichts“.Für seine Versuchsanordnung wählt Rinke zwei sehr unterschiedliche Paare, die sich im Analogzeitalter vielleicht gar nie begegnet wären, im digitalen Internetzeitalter aber übers Netz zusammenfinden: Sie arrangieren einen Wohnungstausch und begegnen einander mitten im Chaos des Ein- beziehungsweise Auspackens, also im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Tür und Angel. Und genauso hören sich auch die Dialoge an, die die vier Protagonisten untereinander führen: zwischen Tür und Angel.

Dem wenig erfolgreichen Kulturphilosophen Sebastian passt der ganze Wohnungstausch gar nicht. Er will lieber in Ruhe an seinem Aufsatz über die Adamiten arbeiten als seine Freundin Hannah zu ihrem Seminar in die Schweiz zu begleiten, bei dem sie Bankern Zen-Atemtechnik beibringen soll. Hannah interessiert Sebastians Aufsatz wie alle seine anderen kleinen wissenschaftlichen Arbeiten dagegen herzlich wenig, sie bringen kein Geld, dafür verachtet Sebastian ihre Tätigkeit, mit der sie ihr Studium verrate. Technikfreak Roman interessiert von Anfang an vor allem eine möglichst zügige Abwicklung des Ganzen und im Besonderen das W-LAN-Kennwort, weil er per Livestream zusehen möchte, wie der Satellit, an dem er mitgearbeitet hat, irgendwo in der kasachischen Steppe ins Weltall geschossen wird. Seine Frau Magdalena, Teilzeit-Tierphysiotherapeutin, ist es offensichtlich gewöhnt, von Roman ignoriert zu werden, und nützt die Gelegenheit, um sich in Sebastians und Hannahs Wohnung ordentlich zu betrinken.

Dass es hinter der Fassade bei beiden Paaren gewaltig bröckelt, ist durch die ständigen gegenseitigen Sticheleien unschwer zu erkennen. Eigentlich, erfährt man nach und nach, befinden sich Sebastian und Hannah in einer schweren Krise: Hannah hatte eine Affäre mit Christian, von dem sie auch schwanger war, als sie Sebastian vor die Wahl stellte: Kind oder er. Sie trieb ab, beendete die Affäre, rang Sebastian aber mit dem Beziehungsneustart das Versprechen ab, ihr nach dem Zen-Seminar in der Schweiz ein Kind zu machen. Was sie noch nicht weiß, ist, dass Sebastian gar keine Kinder zeugen kann. Ihr das zu sagen, dazu fehlt Sebastian bisher noch der Mut. In Magdalenas und Romans Beziehung dagegen ist die Katze eigentlich schon aus dem Satz, denn Magdalena weiß, dass Roman gerade gefeuert worden ist und Dienstreise und Wohnungstausch umsonst sind, doch Roman verdrängt die Realität aufs Glanzvollste und würgt jedes Gespräch darüber ab.

Da ist es nur natürlich, dass einem die neue Frau oder der neue Mann, der da plötzlich auftaucht, attraktiv erscheint, denn neu heißt immer auch unproblematisch, einfach, leicht. Also suhlt sich Sebastian in der Aufmerksamkeit, die Magdalena ihm entgegenbringt, Roman macht sich im Gegenzug an Hannah heran. Die Lage spitzt sich zu, der Ton zwischen allen vieren wird immer schärfer und als Sebastian und Magdalena dann Hannah und Roman zusammen erwischen und Sebastian Romans Kündigungsbrief laut vorliest, eskaliert die Situation endgültig. Am Ende fällt sogar ein Schuss und das doppelte Beziehungsdebakel ist auch perfekt: Hannah fährt ohne Sebastian in die Schweiz, Magdalena packt ihren „Fluchtkoffer“ und fährt allein ans Meer, Roman ignoriert seine Kündigung bis zuletzt und geht morgens trotzdem ins Büro und Sebastian sitzt am Ende wieder da, wo er am liebsten sitzt: an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, dem „Bewusstseinszimmer“, wie er es nennt, und ruft vergebens nach Hannah.

Die Parallele zu Edward Albees „Who’s afraid of Virginia Woolf“ ist augenfällig. Die Situation ist die gleiche, Rinkes Stück sozusagen die postmoderne Adaption von Albees Ur-Situation. Und die ist um nichts weniger düster, auch wenn sie durchaus komisch beginnt. Über vieles, was Rinke die Figuren sagen lässt, kann man, vor allem in den ersten Zweidritteln des Stücks, herrlich lachen, so absurd klingt es – obwohl Rinke kaum übertreibt und nur unsere tatsächliche Realität beschreibt, allerdings sehr pointiert. Das ist in der Tat feinstes Dialog-Ping-Pong à la Yasmina Reza, was Rinke da serviert. Und gerade weil es so komisch beginnt, erscheint das Ende, wenn alle allein da stehen, jeder in seinem eigenen Unglück, umso tragischer. Die Zuspitzung der Situation in den Dialogen ist Rinke meisterhaft gelungen, der Punkt, an dem die Situation kippt, fein gewählt. Das geht schleichend, peu à peu, bis man irgendwann nicht mehr lacht und stattdessen die riesigen Abgründe sieht, die da tatsächlich zwischen den vier Figuren klaffen. Und was heiter begann, kippt ins Tragische.
Was heute nicht mehr funktioniert, ist nach Rinke die zwischenmenschliche Kommunikation (das Thema Kommunikation zieht sich leitmotivisch durch das gesamte Stück). Dabei leben wir im Kommunikationszeitalter. „Alles ist miteinander vernetzt, aber die Entfernungen zwischen den Menschen werden immer größer“, sagt Sebastian, der klügste Zeitdiagnostiker von allen vieren, einmal. Nur wenn diese Entfernung zum Anderen aufrecht bleibt, „funktioniert“ heute noch eine Beziehung; wird man sich der grundlegenden Konflikte aber „bewusst“, wie das in Rinkes Stück in Sebastians „Bewusstseinzimmer“ passiert, dann liegt alles ganz schnell in Trümmern und man sitzt allein da. Ausreden, ausdiskutieren kann man Probleme heute offensichtlich nicht mehr. Lieber schweigt man oder man lügt. Wir behaupten also nur noch zu lieben, wissen in Wirklichkeit aber nur sehr wenig voneinander, wir hören einander auch gar nicht mehr richtig zu. Die allermeiste Aufmerksamkeit schenken wir uns selbst.

Im Grunde verbirgt sich hinter dem Kommunikationsdesaster also ein enormes Aufmerksamkeitsdefizit füreinander, hervorgerufen durch einen Narzissmus, der den Anderen vor allem zum Erfüllungsgehilfen der eigenen Wünsche macht. Steht er denen im Weg, geht man. Auch schon mal ohne Worte. Das ist die Wurzel des „Beziehungssterbens“, das Rinke in „Wir lieben und wissen nichts“ exemplarisch vorexerziert. Und wie es ihm gelingt, diese Botschaft in Bühnendialoge zu verpacken, wie geschliffen, gekonnt und zugleich auch wie echt das alles klingt bei ihm, das ist große Kunst.

Titelbild

Moritz Rinke: Wir lieben und wissen nichts. Ein Theaterstück.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
124 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783499245190

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