Die erlesbare Metropole

Luiz Ruffato hat in „Es waren viele Pferde“ eine Sprache für die Großstädte des 21. Jahrhunderts gefunden

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Aufziehen der Moderne in der Literatur ist untrennbar mit der Erfahrung der Großstadt verbunden. Die Geschwindigkeit, die Heterogenität, die nahende Industrialisierung, die plötzlich so gegenwärtige Armut, das Nebeneinander von Schwärmerei und Abscheu sind Kennzeichen der modernen Großstadt, die am prominentesten Baudelaire in seinen „Blumen des Bösen“ so treffend literarisch verarbeitet hatte. Im 19. Jahrhundert war diese Großstadterfahrung ein Phänomen, das mit dem Aufkommen der ersten Millionenstädte zu tun hatte und im Verlauf der letzten 150 Jahre sind aus wenigen Millionenstädten zahllose geworden. Die Literatur hat das Paris, London, Berlin der Jahrhundertwende längst gemeistert – mit der städtebaulichen Domestizierung ging die literarische einher. Die deutsche Gegenwartsliteratur verfügt ganz selbstverständlich über ihr Berlin, genauso wie die französische über ihr Paris. Diesen Städten muss man sich nicht mehr schreibend nähern, man beherrscht sie, meint sie zumindest zu beherrschen, stilistisch und linguistisch: der Großstadtroman des 20. Jahrhunderts hat eine Form gefunden, die die Großstadt zu bändigen vermochte.

Aus Großstädten jedoch sind erst Metropolen, dann ‚Megacities‘ geworden, die manchmal dem Moloch näher scheinen als den beschaulichen Millionenstädten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. São Paulo ist eine von ihnen, mit mittlerweile 11 Millionen Einwohnern im Stadtgebiet, 22 Millionen im Ballungsraum, eine der größten Städte der Erde und das wirtschaftliche Zentrum Brasiliens. An ihr kann man, wenn man möchte, die ganze derzeitige Entwicklung des gern als ‚Schwellenland‘ charakterisierten Brasiliens ablesen: das rapide Wachstum, die in die Höhe wachsenden Bürotürme, die Geschäftigkeit und den rasanten Fortschritt, all das vor der Kulisse von Wellblechhütten, Verschmutzung, Smog, Gewalt und immer verstopften Straßen. Kinder und Bettler springen auf den vielspurigen Hauptverkehrsadern zwischen den Autos umher und greifen in Autofenster, während die Insassen gepanzerter Limousinen mit verdunkelten Scheiben an Ampeln die Türen von ihren Fahrern verriegeln lassen, um so sicher zu sein wie in ihren Häusern, die Festungen gleichen.

Wer es sich in São Paulo leisten kann, lebt abgeschirmt hinter hohen Mauern, bewacht von Sicherheitsdiensten, und lässt seine Kinder vom Fahrer zur Privatschule bringen, während man selbst für einen der großen Konzerne in hochmodernen, riesengroßen Glasgebäuden arbeitet und versucht, möglichst selten jenen marginais, den Außenseitern, Kriminellen, zu begegnen, die die andere Seite des wirtschaftlichen Aufschwungs in Brasilien repräsentieren. São Paulo ist vielleicht nicht das Herz, aber es ist das Zentrum Brasiliens und zusammen mit den anderen Metropolen des Landes ist es der brasilianischen Gegenwartsliteratur zu einem zentralen Thema geworden. Die ungeheure Dynamik, aber auch die ungeheure Armut und das Elend, das vor allem mit São Paulo, Rio, aber auch Salvador da Bahia im Norden verknüpft ist, sind die Spannungsfelder, zwischen denen sich die brasilianische Gesellschaft und damit auch die brasilianische Gegenwartsliteratur bewegt und die sie literarisch zu bannen sucht.

Mit Luiz Ruffatos „Es waren viele Pferde“ ist 2012 im Hamburger Assoziation A Verlag endlich die Übersetzung jenes Romans erschienen, der 2001 am Beginn einer neuen, literarisch ambitionierten und gesellschaftlich engagierten brasilianischen Literatur stand, von jungen Autoren, die die europäische Moderne und Postmoderne mit ihren stilistischen Mitteln genauso selbstverständlich zu ihrem Repertoire zählen wie die der großen, eher regionalistisch orientierten brasilianischen Erzähler des 20. Jahrhunderts. Das Buch war der Debütroman des Journalisten Ruffato und es ist ein großes Glück, dass er nun in einer kaum hoch genug zu lobenden Übersetzung von Michael Kegler auch auf Deutsch vorliegt.

In „Es waren viele Pferde“ geht es, das ist schnell erzählt, um São Paulo und seine Bewohner. Eine darüber hinausgehende Inhaltsangabe wird schwierig: der Text verweigert sich jeder Kohärenz, er verweigert sich einer zentralen Handlung oder wiederkehrenden Protagonisten. Es sind 69 Miniaturen, die Ruffato aneinanderreiht, kurze Fragmente, zum Teil Erzählungen, zum Teil Dialogfetzen, innere Monologe, Speisekarten, Listen, Gedichte, Wiedergaben von Annoncen – ein heterogenes Stimmengewirr, in dem keine Stimme privilegiert ist, aus dem keine Stimme heraussticht oder eine Ordnung verleihen würde. Dementsprechend verzichtet Ruffato auch auf eine feste Erzählerinstanz oder wiederkehrende Figuren, was dem Leser bleibt, sind bloß die einzelnen Episoden, die mal verstörend, verwirrend, mal traurig, selten komisch sind.

Das mag zunächst manieriert, aufgesetzt, wenig innovativ, womöglich auch postmodern-beliebig klingen, doch das Gegenteil ist der Fall. Ruffatos Roman ist über postmoderne Topoi von Zerfall und mangelnder Kohärenz längst hinaus und verleiht seinem Text sehr wohl einen Sinnzusammenhang indem er ihn mit einem zentralen Anliegen verbindet: Das liegt genau darin, jenen sonst gern aus den Stadtbildern verdrängten marginais eine Stimme zu geben, sie zumindest schlaglichtartig auftauchen zu lassen und ihre Schicksale zu beleuchten. „Es waren viele Pferde“ ist ein düsterer Text, der selten von zufriedenen Momenten, nie von Glück spricht. Die Figuren, so sie sich als solche identifizieren lassen, scheinen immer gehetzt, erdrückt von der Last und den Eindrücken, die sie umgeben. Ihre Sprache ist zerhackt, manchmal vulgär und ab und zu, ganz plötzlich, auch mal poetisch. Wenn eine Frau Wäsche aufhängt, dann „kneifen die rosafarbenen Klammern die Einsamkeit des kleinen betonierten Hinterhofes“. Es ist das Verdienst der wunderbaren Übersetzung Keglers, dass die sprachliche Brillanz und Komplexität des portugiesischen Originals auch im Deutschen nachvollziehbar wird.

Ganz unvermittelt bricht die Sprache manchmal mitten in der Zeile, Gedanken brechen ab, Dialoge oder Gespräche werden überlagert von Sprachfetzen, die von irgendeiner Ecke herüber gerufen werden. Es ist dieses Stimmengewirr, das die Großstadt tatsächlich im Lesen erfahrbar macht. Die Sprache ist aber nicht nur ein Abbild der chaotischen, ungeordneten Stadt, sie schafft es auch, die eigentümliche Poesie einzufangen, die dem Moloch anhaftet. Ruffatos Text changiert in jedem Moment zwischen Poesie und Prosa und ihm ist daran gelegen, die Brüchigkeit der Grenze zwischen diesen beiden Redeweisen sichtbar zu machen: die Prosa ist hier nicht weniger rhythmisch als die Poesie, die Poesie nicht erhabener als die Prosa. Im Dickicht der Stadt liegt beides ganz nah beieinander. Diese Einsicht der Gleichzeitigkeit in der Großstadt überträgt er somit in die Sprache selbst, indem er beispielsweise in der Miniatur 35, überschrieben mit „Alles geht zu Ende“, einem inneren Monolog von einem jungen Mann namens Luciano, die einzelnen Absätze in einem Litanei-artigen Rhythmus immer mit derselben Zeile beginnen lässt – und dann den Monolog ganz plötzlich in Versform hinübergleiten lässt: „wie in schwarzweißen Wildwestfilmen aus der Videothek und auf der Bettkante hockend mit Popcorn aus der Mikrowelle und Coca-Cola

wird entstehen

alles“

Dieser Übergang zur Poesie wird inhaltlich zunächst begleitet von einer kurzen philosophischen Reflexion über die Endlichkeit der Erde, um dann ganz plötzlich wiederum den absolut banalen Alltag einbrechen zu lassen:

„wenn alles zu Ende geht

alles

alles sich in auflöst in einem Sekundenbruchteil

der Kerl an der Ampel sich erschrickt

schießt

und die Leute hinter ihm wütend

hupen

hupen

wütend hinter ihm“

Parallel dazu wird die Prosa immer wieder mit ungewöhnlichen, doch treffenden Metaphern angereichert, die der durchaus prosaischen Beschreibung des plötzlichen Todes einer Frau mit Gehirnaneurysma eine eigentümliche Schönheit verleihen: „Dann die Explosion, ihr Kopf ein unnützes Kaleidoskop, vielfarbige Scherben überall auf dem Boden im Wohnzimmer, in der Küche, im Bad, unerträglich der Schmerz, da ist eine Ratte, sie deutet auf den Nacken, eine Ratte nagt an ihren Gedanken, zerkratzt die Ideen.“

An Stellen wie diesen treffen sich in der Sprache innerer Monolog und äußere Realität, die Großstadt selbst nämlich, hier personifiziert durch die Ratte. Dem Text gelingt es somit, das Spannungsverhältnis von Individuum und Großstadt nicht nur thematisch, nicht nur formal, sondern auch sprachlich selbst zu gestalten. Die Stadt als lebendiger Organismus trifft auf den Menschen. Was Ruffatos Text zu einem großen Roman macht, ist die Tatsache, dass er für die Metropole São Paulo Worte und eine Form gefunden hat. Er hat eine feinsinnige Stilistik entwickelt, die dem mäandernden Ungetüm gerecht wird, ohne es jedoch bezwingen zu können. Und er hat es nicht bei manieristischer Stilistik belassen, sondern gleichzeitig engagierte Literatur geschrieben, die der Realität der brasilianischen marginais ganz nah kommt. Das „Zuviel“ an Stadt, was São Paulo unbezweifelbar ist, wird in der Literatur Ruffatos nicht gebändigt oder heruntergebrochen, sondern ansichtig gemacht, erlebbar und regelrecht erlesbar. Er hat nichts weniger als eine Sprache für den Großstadtroman des 21. Jahrhunderts gefunden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler.
Assoziation A, Berlin 2012.
158 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862414208

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