Eine Literatur vom „Alltag der Seele“

Ein Porträt von Swetlana Alexijewitsch

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

Mehrere Jahrzehnte lang schreibt die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch an ihrer Chronik „Die Stimmen der Utopie“. Den Begriff der Utopie verwendet die in Minsk lebende und auf Russisch schreibende Autorin, um die Sowjetunion, den einst größten Staat unserer Zeit, zu bezeichnen sowie deren Ruinen – jenen geschichtlich-menschlichen Ballast, der nach dem Zerfall der UdSSR sowie nach dem Untergang ihres idealistisch-ideologischen, quasireligiösen Gehalts übrigblieb.

In dieser nicht endenden Chronik, den Alexijewitsch mit dem für die Mentalitätsgeschichte des sowjetischen Menschen, des ‚homo sovieticus‘, zentralen Großen Vaterländischen Krieg beginnen lässt, kommt ‚der kleine Mann’ beziehungsweise ‚die kleine Frau‘ zu Wort, um jenseits der offiziell erfolgenden oder gar unterlassenen Geschichtsschreibung den bedeutendsten, die sowjetische Gesellschaft und ihr Selbstverständnis umwälzenden Ereignissen eine private, menschliche Dimension zu verleihen. Auf alltäglich-schreckliche Lebensgeschichten von Partisaninnen, Infanteristinnen, Fliegerinnen, Flaksoldatinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern, Armeewäscherinnen und -köchinnen im Zweiten Weltkrieg („Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“) sowie den Lebensberichten von Kindern als den jüngsten Kriegszeugen („Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg“) folgt die Aufarbeitung des von der Parteiführung jahrelang verschwiegenen Afghanistankrieges („Zinkjungen“) sowie der erst auf Druck der westlichen Öffentlichkeit eingestandenen Tschernobyl-Katastrophe, deren reales Ausmaß vor den Betroffenen systematisch verschwiegen wurde („Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“).

Den Akzent legt Alexijewitsch bewusst nicht auf die faktuale Geschichtsschreibung, die der Fixierung durch die Geschichtswissenschaft obliegt, sondern auf das Leben danach, die versuchte Rückkehr des traumatisierten Menschen ins ‚normale‘ Leben. Wie lebt man nach den Kriegsgräueln, die einen zum Opfer wie zum Täter werden ließen? Wie ist es um eine Gesellschaft bestellt, deren Bürger durch die ständige mentale Rückwärtsgewandtheit auf das Jahr 1941 zusammengeschweißt wurden, angesichts der größten nuklearen Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts instinktiv vom durch feindliche Mächte begonnenen Atomkrieg ausgehen und sich nach Jahrzehnten systematischer, propagandistischer Desinformation in treuherzigem Vertrauen und dem Beispiel der eigenen Großeltern gemäß den aktuellen Bedürfnissen der „Mutter Heimat“ opfern wollen? Wie umfassend ist die psychische Erschütterung, sich nach einem Leben im idealistischen Glauben an eine „lichte, kommunistische Zukunft“ von der eigenen Regierung, dem eigenen System, das doch die Grundlage der eigenen seelischen Existenz bildete, verlassen zu wissen? Im Glauben an eine friedliche Aufbaumission im Ausland auf afghanische Zivilisten schießen zu müssen? Im Glauben an eine friedliche Aufbaumission das eigene Kind nachts und unter jeglichem Ausschluss der Öffentlichkeit in einem geschlossenen Zinksarg zurückzubekommen? Im Glauben an die Verlässlichkeit der eigenen Berichterstattung mit den eigenen Kindern ahnungslos im verstrahlten Gebiet zu verbleiben oder als einfacher Feuerwehrmann den brennenden Kernreaktor ohne jegliche Schutzmaßnahmen löschen zu müssen? Und was bleibt zurück, wenn ein derartiger Staat, dem die einfachen Bürger ihren Glauben zollten, ihr eigenes wie das Leben ihrer Kinder anvertrauten, wie ein Phantomgebilde zerfällt und verschwindet („Seht mal, wie ihr lebt. Russische Schicksale nach dem Umbruch“)?

Alexijewitsch schreibt eine passionierte Dokumentarprosa, die in der Auswahl und dem Arrangement des Materials – der befragten, bezeugenden menschlichen Stimmen – eine Brücke zwischen Literatur und Journalistik, zwischen dem einzelnen Fakt, seiner Geschichtswerdung und seinem Eingang in die Kunst schlägt. Durch das Neben- und Ineinander wird aus der einzelnen Stimme ein polyphoner Chor, aus dem Einzelfall ein Mosaik, ein Panorama des eingefangenen Zeitgeistes.

„Ich schreibe die gegenwärtige Alltagsgeschichte auf“, schreibt Alexijewitsch selbst über ihre schriftstellerische Tätigkeit. „Lebendige Stimmen, lebendige Schicksale. Bevor sie zur Geschichte werden, sind sie jemandes Schmerz, jemandes Schrei“ („Zinkjungen“). Den Stoff, den es dabei zu fixieren gilt, bezeichnet die Autorin als „übersehene Geschichte“, als „spurlose Spuren“ („Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“).

Nach dem nationalen wie internationalen Erfolg der ersten beiden, den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gewidmeten Büchern der „Stimmen der Utopie“ – „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ und „Die letzten Zeugen“ – erregte Alexijewitsch mit ihrer unbeschönigten, da für sich selbst buchstäblich sprechenden Darstellung des Afghanistankrieges und der Tschernobyl-Katastrophe – zweier nun vom weißrussischen Staat offiziell nicht sanktionierten Themen – nicht nur Aufsehen, sondern geradezu Bestürzung. Auf die Veröffentlichung erster Auszüge der „Zinkjungen“, in denen nach der detaillierten Erörterung der Frage nach dem Töten, dem Prozess des Tötens an sich, von dem verinnerlichten scheinbaren Heroismus des Krieges nicht einmal ein Schein geblieben war, folgten unverzüglich mehrere Klagen wegen Verleumdung und Tatsachenverfälschung – wobei die öffentliche Hetze in der nationalen kommunistischen Presse paradoxerweise einen Tag vor der Aufnahme des Gerichtsverfahrens begonnen hatte und auf die Zeugen beträchtlicher Druck zur Initiation des Verfahrens ausgeübt worden war. Aufschlussreich sind die der neuesten Ausgabe der „Zinkjungen“ beigelegten Dokumente zu den Verfahren, darunter u.a. einige stenografierte Gesprächsaufzeichnungen zwischen der angeklagten Schriftstellerin und den von ihr ehemals interviewten Klägern, einem Invaliden und der Mutter eines gefallenen Offiziers:

„S. Alexijewitsch: Als wir uns vor fünf Jahren trafen, […] warst du ehrlich, ich fürchtete sogar um dich. Ich fürchtete, dass du Probleme mit dem KGB bekommen könntest, da ihr ja alle gezwungen worden wart, die Nichtverbreitung des Kriegsgeheimnisses schriftlich zu geloben. Ich änderte deinen Namen. Änderte ihn, um dich zu schützen […]. Da es nicht dein Name ist, ist dein Bericht ein Universalbild… Und deine Ansprüche unbegründet.“ O. Ljaschenko: Nein, das sind meine Worte. Ich habe es gesagt…Und…Dort ist alles von mir…“

Durch die Aufnahme solcher Dokumente aus dem Umkreis des eigentlichen Werkes macht Alexijewitsch deutlich, welche seelische Überwindung es kostet, aufrichtig zu bezeugen, und unter welchen Schmerzen der innere Wandlungsprozess vom sowjetischen zum postsowjetischen Menschen von sich geht:

„E.Platizina: Meine Erinnerung an meinen gefallenen Sohn stimmt mit dessen Darstellung im Buch keineswegs überein. […] Dort ist alles anders, als ich es gesagt habe. So war mein Sohn nicht. Er liebte seine Heimat. (Weint.)

Richterin: Ich bitte Sie, sich zu beruhigen und uns die Fakten zu nennen.

E. Platizina (liest aus dem Buch): „Nach Afghanistan (d. h. im Fronturlaub), ist er noch zärtlicher geworden. Alles zuhause gefiel ihm. Doch es gab Augenblicke, wo er nur dasaß und schwieg, niemanden sah – nachts sprang er auf und ging im Zimmer auf und ab. […] Ein Andermal höre ich, wie nachts jemand weint. Wer kann bei uns weinen? Kleine Kinder haben wir keine. Ich gehe in sein Zimmer: Er umfasst seinen Kopf mit beiden Händen und weint.“

Richterin: […] Was daran beleidigt Ihre Würde?

E. Platizina: Verstehen Sie, er war ein Kriegsoffizier. Er konnte nicht einfach losweinen…

S. Alexijewitsch: Als ich Ihre Geschichte aufzeichnete, habe ich auch geweint. Und gehasst habe ich jene, die Ihren Sohn zum sinnlosen Tod in einem fremden Land verdammt hatten. Damals bildeten wir eine Einheit, Sie und ich, wir waren auf derselben Seite.

E. Platizina: Sie sagen, dass ich den Staat hassen muss, die Partei…Aber ich bin stolz auf meinen Sohn! Er fiel wie ein Kriegsoffizier. Alle seine Kameraden liebten ihn. Ich liebe jenen Staat, in dem wir gelebt haben, die UdSSR, weil mein Sohn diesem Staat sein Leben geopfert hat. Und Sie hasse ich! Ich brauche Ihre schreckliche Wahrheit nicht. Wir brauchen sie nicht!! Hören Sie?!“

Doch genau der zeitnah an die persönliche Katastrophe erfolgende Bericht, wo das in gewohnten Bahnen operierende Bewusstsein vor dem neuartigen Grauen zunächst kapitulieren muss, ist der eigentlich aufrichtige Bericht, der wirklich authentische. Besonders deutlich wird dies im Falle Tschernobyls, wo nicht nur alle bisherigen Werte, sondern auch das Kulturerbe der Literatur und Kunst an ihre Grenzen stoßen. In „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ charakterisiert Alexijewitsch dies selbst folgendermaßen: „Die Nacht des 26. April 1986…In einer einzigen Nacht kamen wir sprungartig in einer neuen Menschengeschichte an, einer neuen Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit überstieg nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Einbildungskraft. Die Kette der Zeiten war gerissen…Die Vergangenheit stellte sich mit einem Schlag als hilflos heraus, auf nichts darin konnten wir uns stützen; im (wie wir geglaubt hatten) ewig gültigen Archiv der Menschheit fanden sich keine Schlüssel, um diese Tür zu öffnen. […] Eine Pause. Ein Moment der Stummheit. […] Wir fanden keine Worte für die neuen Gefühle, keine Gefühle für die neuen Wörter. […] Die Tatsache der Erschütterung lag eindeutig vor. Und ich suchte nach diesem erschütterten Menschen…Er sprach neue Texte…“

Alexijewitschs dokumentarische Prosa dokumentiert nicht nur Erschütterungen, sie selbst ist erschütternd just durch die Unmittelbarkeit der Erinnerung, durch das Zusammenspiel von Solostimme und Chor, von individueller und kollektiver Erinnerung. Buch um Buch ihre Chronik fortführend, fördert die Autorin jedoch nicht nur Qualen, sondern auch Selbsterkenntnis zutage. Wie die Slawistin Karla Hielscher es formuliert, wird „[i]m allmählichen Übergang des Redens vom ‚Wir‘ zum ‚Ich‘[…] der schmerzliche Prozess des Wandels vom kollektivistischen zum individuellen Denken deutlich, die Aneignung der eigenen, der privaten Biografie […], ein Bewusstwerdungsprozess“. Alexijewitsch, die durch die vorsichtige, zaghafte Bearbeitung der Interviews und Briefe, „durch die sensible Auswahl, Verdichtung und Komposition eine musikalische Struktur“ und „aus Tonbandprotokollen literarische Wortkunst“ (Hielscher) entstehen lässt, kreiert so eine dokumentarische Prosa, die de facto eine neue und unverwechselbare literarische Gattung bildet und es vermag, sowohl dem Anspruch der Literatur als auch dem der engagierten neuesten Geschichtsschreibung zu genügen.

Nachdem ihre Bücher in Weißrussland jahrelang weder erscheinen durften noch in einem Buchladen erworben werden konnten, nachdem es ihr selbst als der Chronistin einer privaten, alternativen Geschichte und zugleich als einer der berühmtesten Vertreterinnen der zeitgenössischen weißrussischen Literatur unmöglich gemacht worden war, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, sah sich Alexijewitsch gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen und ins französische, schwedische und deutsche Exil zu gehen. Den nicht endenden Anfeindungen gegen ihre schriftstellerische Tätigkeit wie ihre Person zum Trotz entschied sie sich 2012 für eine Rückkehr in die Heimat. Seitdem lebt Alexijewitsch wieder in Minsk und schreibt an einem neuen Buch, das in Deutschland und Russland noch im Herbst 2013 erscheinen soll.

Der bereits mit solch renommierten Literaturpreisen wie unter anderen dem Kurt Tucholsky-Preis des Schwedischen PEN (1996), dem Preis Für das beste politische Buch des Jahres der Friedrich-Ebert-Stiftung (1998), dem Preis der Leipziger Buchmesse Für europäische Verständigung (1998) oder dem Preis Témoin du Monde des internationalen französischen Radio RFI (1999) ausgezeichneten Autorin wird am 13.Oktober 2013 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen.

Literaturverweise:

Russische/Weißrussische Ausgaben (eine Auswahl):
У войны не женское лицо [U wojny ne zhenskoe lizo/Der Krieg hat kein weibliches Gesicht]. Minsk 1985.
Цинковые мальчики [Zinkowye maltschiki/Zinkjungen]. Moskau 1991.
Зачарованные смертью [Satscharowannye smertju/Im Banne des Todes (in der neuen Üb.: Seht mal, wie ihr lebt. Russische Schicksale nach dem Umbruch)]. Moskau 1994.
Чернобыльская молитва. Хроника будущего [Tschernobylskaja molitwa. Chronika buduschewo/Das Tschernobyl-Gebet. Eine Chronik der Zukunft]. Moskau 1997.
Последние свидетели. Книга недетских рассказов [Poslednije swideteli. Kniga nedetskich raskasow/Die letzten Zeigen. Ein Buch unkindlicher Erzählungen]. Moskau 1985/2004.

Deutsche Ausgaben (eine Auswahl):

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Berlin 1987, ISBN 978-3-446-24525-9.
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Berlin 2006, ISBN 978-3-8333-0357-9.

Sekundärliteratur:

Hielscher, Karla: „Svetlana Aleksievič“ (01.09.2002). In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartliteratur, hg. v. Wolfgang Kissel u.a. URL <http://www.munzinger.de/ search/document?index=mol-18&id=18000000012&type=text/html&query.key= BOLXhLSo&template=/publikationen/klfg/document.jsp&preview=>

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz