Der Preis der Gemeinschaft

Amos Oz‘ „Unter Freunden“ ist ein kleines Buch mit starker Nachwirkung

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einiger Zeit hat Günter Grass sich für Amos Oz als Literaturnobelpreisträger ausgesprochen. Sollte die Schwedische Akademie nach seiner jüngsten lyrischen Einmischung in die Politik Israels für Grass‘ Wünsche momentan wenig übrig haben, könnte sie stattdessen das neueste literarische Werk des israelischen Schriftstellers überzeugen. Dessen Buch „Unter Freunden“ zeigt ein weiteres Mal, wie gut dieser Autor das Potential des Literarischen zu nutzen weiß, indem er das Besondere erzählt – immer schlicht, aber niemals einfach – und dabei politische, soziale und psychologische Fragen neu beleuchtet.

Die kleinen Episoden sind im Mikrokosmos des fiktiven Kibbuz Jikhat angesiedelt, der freilich durch seine kommunistische Prägung ein besonderer ist. Es kommt zu Begegnungen und Ereignissen, durch die das Zusammenleben der „Freunde“ charakterisiert und zugleich problematisiert wird. Zwischen Zvi Provisor und Luna Bank scheint eine zärtliche Liebesbeziehung zu entstehen. Er ist ein schrulliger Junggeselle, der seinen Mitmenschen mit Berichten über Katastrophen aus aller Welt auf die Nerven fällt, sie hat nach dem Tod ihres Mannes durch ihr Engagement als Pädagogin eine positive Lebensperspektive zurückgewonnen. Aus Angst vor körperlicher Berührung bricht Zvi jedoch bald mit ihr. Als sie den Kibbuz für eine USA-Reise verlässt und scheinbar nicht zurückkehren wird, ist der Funke, der zwischen den beiden existiert hat, auf den Leser schon übergesprungen. Was hat er bewirkt? Hat er bei Luna die Lust auf ein neues Liebesleben geweckt, wie es die Geschichten nahelegen, die man über sie und ihre neuen Liebhaber erzählt? Hat sie sich bewusst gegen die Ängste und Negativität entschieden, mit denen Zvi beladen ist? Musste sie vor der beschränkten Welt des Kibbuz fliehen, in dem man dem Klatsch und allseitigen Naserümpfen nicht entgehen kann, mit dem ihre Treffen stets kommentiert wurden?

Alle Erzählungen werfen Fragen wie diese auf und sind bewusst als kleine Rätsel angelegt. Selbstreflexiv wird dieses Programm von einer der Romanfiguren formuliert: „In seiner freien Zeit las er Dostojewski, Camus und Kafka. In diesen Büchern fand er etwas Rätselhaftes, das ihn im Innersten ansprach. Ungelöstes zog ihn stärker an als Lösungsformeln.“ Es handelt sich um den jugendlichen Mosche, der nach dem Tod seiner Mutter von seinem zunehmend kranken Vater und seiner Familie getrennt worden ist, um im Kibbuz zu leben. Wie auf die ein oder andere Weise allen Protagonisten stellt sich auch Mosche die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der intimen Kibbuz-Gemeinschaft. Mosche fühlt, wie man ihn als neues Mitglied wohlwollend in die Gruppe integriert und beginnt, das Miteinandersein zu genießen. Gleichzeitig erkennt er den dafür zu zahlenden Preis. Ungern lässt David Dagan, Lehrer und wichtige Autorität im Kibbuz, ihn seinen Vater im Krankenhaus besuchen: „Diese Fahrten zu deinen Verwandten entfernen dich von uns. Du bist doch schon fast einer von uns.“

Das Zusammenleben der Freunde wird überall als hochgradig ambivalent erkennbar. Wärmende Fürsorglichkeit und tiefe seelische Verletzungen sind zwei Seiten desselben  Lebenskonzepts. Kann Gemeinschaft so weit  gehen, dass Eltern die Erziehung und Pflege ihrer Kinder zur kollektiven Aufgabe erklären? Ist Frieden möglich, wenn der Ehemann einige Straßen weiter ein neues Leben mit der eigenen Freundin beginnt? Osnat, der dieses Schicksal widerfährt, kann noch einen Brief schreiben, in dem sie die Neue darauf aufmerksam macht, er solle seine Medikamente nicht vergessen. Auf den Antwortbrief, in dem Beziehungsprobleme und intime Momente des neuen Paars geschildert werden, reagiert sie nicht. Auch Freundschaft und Solidarität können nicht jeder brutalen Grenzüberschreitung standhalten.

Mit poetischer Schlichtheit und ganz ohne Pathos lässt Oz Szenen entstehen, die zunächst märchenhafte Harmlosigkeit suggerieren. Im nächsten Schritt machen sie betroffen. Denn sie rühren nicht nur Menschliches an – das sicherlich in erster Linie – , sondern sind auch politisch deutbar: Auch der Friede zwischen Völkern ist nicht gesichert, wenn Grenzen immer dehnbar bleiben und keiner respektiert, was dem anderen gehört. Toleranz gegenüber anderem ist schwer zu kultivieren, wo sich Gruppen über ausnahmslose Gleichheit definieren. Amos Oz, selbst Mitbegründer der Friedensbewegung Peace Now, übersetzt Politisches ins Menschliche. Das ist seine große Fähigkeit.

Wie schon bei „Geschichten aus Tel Ilan“ wählt Oz eine innovative Gattung: eine Mischung aus Roman und Kurzgeschichtensammlung, in der die Geschichten aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig ergänzen und erhellen. Das ist ein Zugang, der die  Spannung zwischen Individualität und Kollektiv auch formal aufnimmt.

Das einzige, was man Oz vorwerfen könnte, ist vielleicht, dass die Kibbuz-Thematik nicht gerade die aktuellste Frage ist, die er im Zusammenhang mit Israel hätte wählen können. Die Rückkehr des Autors in die Gründungsjahre Israels und seine eigene Vergangenheit – Oz hat selbst viele Jahre im Kibbuz gelebt – verengt den Blick auf das Konzept der Nation und lässt die viel brisanteren, internationalen politischen Fragen außer Acht. Vielleicht sieht Oz auch hier das Problem: in der immer noch zu sehr auf Identität beruhenden Vorstellung des Staates, die das Andere nur schwer zur Kenntnis nimmt. Vielleicht hat er es aber auch bewusst vermeiden wollen, sich auf aktuelle Politik zu beziehen, um seine Literatur nicht zum Ort der politischen Debatte und einfachen Antworten zu reduzieren. Insofern ist er manch anderem Literaturnobelpreisträger um einiges überlegen.

Titelbild

Amos Oz: Unter Freunden.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
216 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423646

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