Die Literatur, ein Spiel

Zu Daniel Kehlmanns neuem Roman „F“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Würfel hat sechs Seiten. So auch der von Ernö Rubik erfundene Zauberwürfel, der in den 1980er-Jahren ganze Generationen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beschäftigte. Jede Seite hatte eine eigene Farbe, und die Kunst bestand darin, die einzelnen Teile des Würfels so lange zu drehen und zu wenden, bis jede Seite wieder allein in ihrer Ausgangsfarbe zu sehen war. Damit war selbstverständlich nichts über die Außenwelt gesagt, über Boris Becker, Helmut Kohl oder das Wettrüsten, aber es gehörten Virtuosität, Vorstellungsvermögen und Fingerfertigkeit dazu, das zu bewerkstelligen. Kurz: Der Umgang mit dem Zauberwürfel war, wenigstens aus Kinderperspektive, eine Respekt heischende Kunst für sich.

Was zunächst weit hergeholt klingt, eignet sich vielleicht als Modell, um Daniel Kehlmanns neuen Roman „F“ zu beschreiben, und das nicht nur, weil er ebenso viele Kapitel besitzt wie der Zauberwürfel Seiten, oder weil eine seiner Hauptfiguren fortwährend mit einem solchen hantiert. Sondern das Bild trifft sich mit einem Gutteil der Kritik, auf die das Buch in den Kritiken der letzten Wochen trifft: gekonnt, heißt es da, verspielt und bis ins letzte ausbalanciert sei der Text, aber letztlich bleibe er leer, weil er seine Figuren nicht ernst nehme. Sie seien nicht nahe genug am wirklichen Leben, mit zu wenig Erdenschwere ausgestattet. Wirklich? Ein Roman, ließe sich dem entgegenhalten, ist zunächst mal ein Kunstwerk– und damit nicht zwingend auf die mimetische Abbildung der Realität verpflichtet. Auch Humboldt und Gauß im Roman „Die Vermessung der Welt“, an dem Kehlmann vielleicht noch auf Jahrzehnte hinaus gemessen werden wird, haben mit den historischen Gestalten kaum mehr als ein biografisches Gerüst gemein. Was dort aber den Charme des Textes ausmacht, wird Kehlmann hier letztlich als Verfehlung vorgeworfen.

Aber worum geht es in „F“ überhaupt? Vor allem um eine Familie aus vier Männern, den zunächst mittelmäßigen Autor Arthur Friedland und seine drei Söhne, den älteren Martin und jüngeren Zwillinge Eric und Iwan. Arthur besucht mit ihnen die Veranstaltung eines Hypnotiseurs, gegen dessen Handwerk er sich für immun hält. Als er auf die Bühne gerufen wird, bringt ihn dieser wider alle Erwartungen dazu, sein Leben zu ändern. Er verschwindet aus dem Leben seiner Söhne und wird zum wegweisenden Autor. Überhaupt hält diese Familie nicht viel zusammen – die drei Hauptkapitel sind jeweils aus der Perspektive eines Sohnes erzählt, die anderen, der Vater und die Mütter kommen in ihnen nur als Nebenfiguren vor. Martin ist ein übergewichtiger katholischer Pfarrer, Eric ein Anlageberater, der sich mit Hilfe von massivem Betrug notdürftig über Wasser hält, der Frau und Geliebte gewissermaßen miteinander betrügt, und der homosexuelle Iwan schließlich fertigt die angeblichen Gemälde seines verstorbenen Freundes Heinrich Eulenböck gleich selbst an, um sie auf dem Kunstmarkt zu horrenden Preisen zu verkaufen. Obwohl sie alle miteinander verwandt sind und die Zwillinge Eric und Iwan sich eigentlich eng verbunden fühlen, lebt jeder in Isolation. Aus Blutsverwandtschaft folgt erst einmal gar nichts. Ostentativ zeigt Kehlmann das im kurzen Kapitel „Familie“, das vorher als eine Schöpfung Arthurs bezeichnet wird. Hier verfolgt er das Thema von Vater zu Vater, immer weiter rückwärts, bis ins Mittelalter. Das Leben der einzelnen Figur hat mit dem ihres direkten Vorfahren wenig bis nichts zu tun, bis auf den ersten von ihnen, der als Revenant durch die folgenden Generationen spukt. Martins, Erics und Iwans Lebenswege überschneiden sich durchaus wieder. Kehlmann schildert denselben Tag, den 8. August 2008, aus der Perspektive aller drei Figuren. Für alle drei ändert sich das Leben an diesem Tag dramatisch, aber ob das Schicksal ist oder nur schicksalhaft aussieht, ist eine Frage, die der Text offenlässt.

Überhaupt deutet der Roman vieles an, ohne sich festzulegen: Erscheint hier mehrmals der Teufel oder nicht? Sind die Erscheinungen warnender Figuren real oder nur auf die Erschöpfung Erics zurückzuführen? Und natürlich kann man endlos über den Titel spekulieren: Friedland, Fälschung, Familie, Fiktion und so weiter. Da macht sogar der Klappentext mit. Aber statt in diesem Vexierspiel eine Weigerung Kehlmanns zu unterstellen, sich festzulegen, wie es ein Teil der Kritik tut, ist es vielleicht angebrachter, von bewusst gesetzten Leerstellen zu sprechen. Die aber sind eher auf verständliche Scheu denn auf Gleichgültigkeit zurückzuführen. Kann ein Roman des frühen 21. Jahrhunderts im Ernst von möglichen Manifestationen des Teufels erzählen, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben? Wie kann man das Fantastische glaubwürdig machen, ohne einer Genreliteratur nahe zu kommen, in der sich tugendhafte Jungfrauen zwischen Vampiren und Werwölfen entscheiden müssen? Bleibt hinter solchem Spiel nicht der existenzielle Ernst zurück, mit dem man „eigentlich“ solche Themen wie Wirtschaftskrisen, Vater-Sohn-Beziehungen und die Frage nach der Authentizität von Kunst behandeln müsste?

Man kann natürlich sagen, dass Kehlmann überhaupt keinen Roman hätte schreiben müssen, der solche Rückfragen provoziert. Aber genau das macht eben das Wagnis aus, das der Text eingeht und eingehen möchte. Entscheidend ist doch, ob dabei ein Roman herauskommt, der – mit dem anfangs entworfenen Bild zu sprechen – die sechs Seiten des Würfels in die richtige Ordnung bringt. Über weite Strecken gelingt das; besonders das erste Kapitel um die Hypnosevorstellung, zugleich eine deutliche Hommage an Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ und den „thierischen Magnetismus“ der Romantik, ist fulminant. Wirklich enttäuschend ist nur das letzte Kapitel, das die Handlungsstränge nochmals in eine letztlich nicht überzeugende Coda zusammenzwingen will. Dazwischen aber liegen fast vierhundert Seiten, die unbedingt lesenswert sind. Kehlmann hat mit „F“ weder die Prosa neu erfunden noch die deutsche Literatur in den Untergang geritten. Er hat einfach nur einen guten Roman geschrieben.

Kein Bild

Daniel Kehlmann: F. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
380 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498035440

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch