Büchners Lenz – ein psychiatrischer Fall?

Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur

Von Yvonne WübbenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Wübben

Bereits 1921 – also gut ein Jahrzehnt nach der Einführung des Schizophrenie-Konzeptes durch Eugen Bleuler – empfahl der Tübinger Psychiater Wilhelm Mayer Büchners Lenz als gelungene Darstellung einer schizophrenen Psychose. Er las den Text als Beleg für seine These, dass schizophrenes Erleben dem „nachfühlenden Verständnis“ grundsätzlich zugänglich sei,  und legte damit eine Lesart vor, die in der Psychiatrie und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts Karriere machte.  Aus der Sicht vieler Literatur- und Psychiatriehistoriker sind derartige Zuschreibungen freilich anachronistisch. Sie projizieren ein Krankheitsbild, das erstmals 1908 beschrieben wurde, auf einen rund achtzig Jahre früher entstandenen Text zurück, ohne über die Historizität der Krankheitsbegriffe zu reflektieren. In seiner Monographie Schizophrenie und Landschaft richtet sich Harald Schmidt daher zu Recht gegen solche Zuschreibungen sowie die damit verbundene retrospektive Diagnostik und plädiert dafür, die für Büchner zeitgenössischen psychiatrischen Kontexte stärker in die Deutung einzubeziehen.  

Obschon Schmidts Kritik an anachronistischen Deutungen, mit denen die Psychiatrie meist nur ihre eigenen Konzepte zu stabilisieren versucht, berechtigt ist, scheint die Anwendung – aktueller wie historischer – psychiatrischer Kategorien auf Büchners Lenz dennoch nahe zu liegen. Oft mobilisieren solche Deutungen nämlich Elemente, die im Text bereits vorhanden sind. Zum einen hat Büchner bei der Ausarbeitung seiner Schriften – auch des Woyzeck-Fragments – nachweislich psychiatrische Quellen benutzt. Er hat diesen Quellen Sachverhalte und diverse Fachbegriffe, darunter „alienatio mentalis“ oder „fixe Idee“, entnommen. Darüber hinaus weist der Text – und darauf kommt es hier an – formale Gemeinsamkeiten mit psychiatrischen Fallbeschreibungen und Krankengeschichten auf, die auf der Ebene des discours zu verorten sind, der Erzählweise. Der Bezug zwischen Lenz und der Psychiatrie erschließt sich daher nicht primär über Inhalte und Gegenstände, d.h. im Blick auf das, was dargestellt wird. Angemessener erschließt er sich, wenn man die Art der Darstellung, das Wie, mit einbezieht und mit historischen Erzähl- und Notationsformen der Psychiatrie vergleicht. Welche formalen Kriterien und Schreibpraktiken sind es also, die den Text im 20. Jahrhundert als psychiatrischen Fall haben erscheinen lassen?

Die Untersuchung formaler Kriterien konzentriert sich im Folgenden auf drei zentrale Aspekte: erstens auf diarische Aufzeichnungsformen, zweitens auf die Verlaufsdarstellung und Verzeitlichung der Krankheit sowie drittens auf die Präsentation von direkter Rede. Als psychiatrische Vergleichstexte werden Johann Christian Heinroths Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens (1818) sowie Ludwig Karl Kahlbaums Schrift über das Spannungsirresein (1874) herangezogen.  

1. Diarische Aufzeichnungsform

Zur Entstehungszeit von Büchners Text war die Psychiatrie weder eine wissenschaftliche Disziplin im modernen Sinn noch ein eigenes medizinisches Fach. Um 1830 existierten kaum Lehrstühle, nur wenige Fachzeitschriften waren gegründet und die meisten von ihnen anthropologisch oder juristisch-staatsrechtlich orientiert. Institutionell dominierten so genannte Asyle und Privatheilanstalten, deren Leiter oft autokratisch regierten und in denen kaum einheitliche Nosologien entwickelt wurden.  Die fachwissenschaftliche Diskussion konzentrierte sich vielfach auf Fragen von Anthropologie und Krankheitslehre.  Die spezifische Formenlehre bildete zwar einen Teil der vorhandenen Lehrbücher aus,  sie war allerdings oft umstritten und kaum standardisiert. Am Ende des 19.  Jahrhunderts ist die Psychiatrie dagegen zu einer einflussreichen klassifikatorischen Wissenschaft aufgestiegen, die über weite Strecken taxonomisch organisiert ist und das Experiment wie auch die hirnanatomische Sektion als Erkenntnisverfahren der Forschung etabliert hat. Büchners Erzählung steht am Beginn dieses Umbruchs. Einerseits lässt er sich auf die anthropologisch ausgerichtete Anstaltspsychiatrie beziehen,  andererseits weist die Erzählung Elemente einer psychiatrischen Nosographie auf, die in Zusammenhang mit der Entwicklung eines standardisierten Klassifikationssystems steht. Dabei kommt der diarischen Notationsweise zunächst eine besondere Rolle zu.

Büchners Text ist – wie eine seiner wesentlichen Vorlagen, der Bericht Oberlins – überwiegend chronologisch organisiert. Er umfasst einen Zeitraum von wenigen Wochen, der dem Aufenthalt des historischen Lenz im Steinthal entspricht. Bemerkenswert ist, wie dieser Zeitraum innerhalb der Erzählung strukturiert wird. Als Zeiteinheit fungiert meist der Tag, dessen Anbruch auffällig oft notiert wird. Lenz beginnt mit einer Datumsangabe „den 20. ging Lenz“, der Zeitabschnitt reicht bis zum Morgen nach der Ankunft und schildert die nächtliche Unruhe sowie die Brunnenepisode. Der erste Tag wird mit „Den anderen Tag“ eingeleitet. Darauf folgt die diesmal allerdings etwas vagere Zeitangabe „eines morgens“, erneut gefolgt von den Angaben: „des Morgens“, „Der Sonntagmorgen kam“, „am folgende Morgen“, „Am folgenden Tag“, „Am dritten Hornung“, „Am folgenden Tag“, „Einige Tage darauf“, „Am folgenden Morgen“, „Den 8. Morgens“.

Insgesamt enthält der Text fünf Mal die Nennung ‚Morgen’, drei Mal ist vom ‚folgenden Tag’ die Rede und an drei weiteren Stellen finden sich mehr oder weniger vollständige Datumsangaben. Während die Nennung ‚Morgen’ und ‚am folgenden Tag’ jeweils den Tag zur Zeiteinheit der Erzählung macht und der Erzähler an jedem neuen Tag auch von Neuem zu erzählen ansetzt, gliedert die Datumsangabe den Gesamttext auf einer übergeordneten Ebene, die einen kalendarischen Index hat. Den einzelnen Tagen werden wie im Tagebuch oder in der Chronik zudem konkrete Ereignisse zugewiesen. Am ersten Tag findet der gemeinsame Ausritt statt, am zweiten ein Spaziergang, am dritten die Predigt. Es folgen Gespräche über den Somnambulismus und die Kunst. Einen gewissen Bruch der Zeiteinheit ‚Tag‘ stellt der Hüttenbesuch nach Oberlins Abreise dar, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und neben der Nacht auch den nächsten Morgen einschließt.

Die drei Datumsangaben finden sich dagegen an drei wesentlichen Punkten der Erzählung und sind je nach Textedition mehr oder weniger vollständig. Konkrete Datumsangaben sind für den Tag der Ankunft („Den 20.“), in der Mitte von Lenz’ Aufenthalt („Am dritten Hornung“) und für den Tag der Abreise („Am 8. Morgens“) verzeichnet. Offenbar markieren sie besonders signifikante Ereignisse: Am „20. Januar“ kommt Lenz im Steinthal an. Am „8. Morgens“ findet die letzte Selbstverletzung statt, danach reist er ab.

Die Mehrzahl der Zeit- und Datumsangaben hat Büchner Oberlins Text entnommen, der ebenfalls chronologisch organisiert ist.  Nur an zwei Stellen weicht er von der Vorlage ab und fügt eigene Angaben hinzu, einmal eine Tagesangabe, einmal die letzte Datumsangabe. Der Vergleich mit der Vorlage legt nah, dass Büchner unmittelbar aus Oberlins Bericht abgeschrieben, dass er die Formulierungen des Berichts und damit auch die Zeitangaben beim Abfassen des Lenz übernommen hat.  Die diarische Notationsweise steht zunächst also mit einer konkreten Schreibsituation in Zusammenhang.

Darüber hinaus ist die Schreibweise in einem breiteren historischen Kontext situiert. Die Notationspraktik hat Bezüge zum Tagebuch, das als Zeitabschnitt ebenfalls den Tag wählt und als religiöse, biographische oder alltagspraktische Notationsform im 18. Jahrhundert weit verbreitet ist. Ferner liegen Bezüge zur erwähnten Chronik auf der Hand. Zugleich aber, und das ist für den vorliegenden Kontext entscheidender, weist die diarische Schreibweise Parallelen zu medizinischen Notationsformen auf, insbesondere zu den so genannten Krankenjournalen. Darunter versteht man ein Genre, das im 19. Jahrhundert geläufig war und als dessen Zeiteinheit ebenfalls der Tag fungierte. Journale sind sowohl in der ärztlichen Praxis als auch in Hospitälern in Gebrauch. Sie wurden – wie das in einer modernen Edition vorliegende Krankenjournal von Samuel Hahnemann  – oft in Kladden geführt. Auch die Schreibpraxis lässt sich anhand dieser Edition teilweise rekonstruieren. Nach der Datumsangabe notierte Hahnemann meist den Namen der Patienten, die Krankengeschichte und die Verordnung. Anders als Praxisjournale verzeichnen Hospitaltagebücher die gesamte Krankengeschichte über mehrere Tage. Der Eintrag erfolgt nicht nur am Tag der Konsultation, sondern vielfach in eigens dafür vorgesehenen Spalten. Zudem beginnen Krankenhausjournale mit der Aufnahme und enden meist mit der Entlassung eines Patienten. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts wird diese Notationsform zunehmend formalisiert.  Die verwendeten Formulare gaben meist die Frequenz der Aufzeichnung vor, indem sie einzelne Spalten für die täglichen Einträge vorsahen. Büchners Zeit- und Datumsnennung strukturiert den Text in einer Weise, die eine grundsätzliche Nähe zu klinischen Krankenjournalen aufweist. Er verzeichnet die Ereignisse tageweise und gibt auch über die Ankunft und Abreise Auskunft. Wenn er die letzte Datumsangabe gegenüber der Vorlage ergänzt, dann präzisiert er damit nicht nur den Zeitraum des Aufenthaltes, sondern nähert den Text den klinischen Notationsformen weiter an.

2. Die Konturierung des Krankheitsverlaufs

Neben der Dauer des Aufenthaltes und der Chronologie von Ereignissen ist ferner die Aufzeichnung des Krankheitsverlaufes relevant. Im Gegensatz zur diarischen Notationsweise, die vielfach durch ein Formular vorgegeben ist und Ereignisse nach der Zeiteinheit ‚Tag’ verzeichnet, geht es bei der Verlaufsnotation meist darum, ein Geschehen in seiner Dynamik zu erfassen. Auch Büchners Erzählung skizziert einen Krankheitsverlauf, indem er die Zu- und Abnahme einzelner Symptome darstellt. Lenz’ wahnhaftes Erleben, die Vorstellung, ein Mörder zu sein, nehmen im Anschluss an die Hüttenepisode eine neue Intensität und Frequenz an. Nach der Begegnung mit dem Kind tritt der Wahnsinn jedenfalls deutlicher zu Tage, wie sich an der Erwähnung neuer Symptome erkennen lässt. Auf die Hütten-Episode folgt z.B. der Verlust bestimmter Sprachfunktionen. Lenz spricht nun in abgebrochenen Sätzen. („Er sprach später noch oft mit Madame Oberlin davon, aber meist nur in abgebrochenen Sätzen“). Zudem wird die Frequenz einzelner Symptome, z. B. die Selbstverletzungen, gesteigert. Büchner versucht den Krankheitsverlauf so als ein dynamisches Geschehen zu konturieren und bedient sich dabei verschiedener rhetorischer und narrativer Mittel. Denn die Hüttenepisode markiert nicht nur einen Wendepunkt in der Krankengeschichte, nach der sich die Symptome intensivieren. Sie wird auch in einem anderen Modus erzählt. Die Erzählung schaltet an dieser Stelle auf eine szenische Erzählweise um, um die Vorgänge im Inneren der Hütte vor Augen zu stellen. Ausführlich werden akustische Eindrücke und die sich verändernden dämmrigen Lichtverhältnisse in der Hütte beschrieben:

„Lenz schlummerte träumend ein, und dann hörte er im Schlaf, wie die Uhr pickte. Durch das leise Singen des Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das Sausen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald helle, bald verhüllte Mond, warf sein wechselndes Licht traumartig in die Stube.“

Im Anschluss daran wechselt der Text in einen iterativen Modus („Des Tages saß er gewöhnlich“). Der Wendepunkt im Krankheitsverlauf korrespondiert wohl nicht zufällig mit dem Wechsel der Erzählweise, die den Blick auf eine kritische Phase innerhalb des Krankheitsverlaufes richtet. Nach der Hüttenepisode konzentriert sich die Erzählung fast ausschließlich auf den Wahnsinn. Der Zeitraum wird engmaschiger („Den Nachmittag“, „Beim Nachtessen“, „Um Mitternacht“), so als würde der bedenkliche Zustand des Kranken eine intensivere Beobachtungs- und Aufzeichnungsfrequenz erfordern. Jedem Tag sind jetzt mehrere Krankheitsereignisse zugeordnet, die meist summarisch oder iterativ präsentiert werden. Büchner erzählt einmal, was sich mehrmals ereignet („War er allein oder las, war es noch ärger“, „Die Zufälle des Nachts steigerten sich auf’s Schrecklichste“). Die sich stetig erhöhende Frequenz der Notate indiziert, dass sich der Krankheitsverlauf dem kritischen Stadium annähert. Nach dem dritten Hornung lässt sich ein regelrechtes ‚Heraustreten der Gegenstände aus dem Wahnsinn’ beobachten. Während Lenz schon zuvor oft sprach, sang und rezitiert – meist Stellen aus Shakespeare – beginnt er nun, den Namen Friederike zu rufen, sich das Haupt mit Asche zu beschmieren, häufiger in den Brunnen zu springen und überhaupt immer unruhiger zu werden.

Vielfach vollzieht der Text diese Unruhe auf der syntaktischen Ebene, so etwa gleich nach Lenz’ Ankunft im Steinthal:

„er stellte das Licht auf den Tisch, und ging auf und ab, er besann sich wieder auf den Tag. […] eine unnennbare Angst erfaßte ihn, er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die Treppe hinunter, vor’s Haus; aber umsonst, Alles finster, nichts, er war sich selbst ein Traum.“

Parallel gebaute Sätze werden parataktisch aneinandergereiht („er sprang auf“, „er lief durchs Zimmer“), wodurch der Eindruck der Beschleunigung vermittelt wird. Der Übergang in Ellipsen führt fast bis zur Auflösung der Erzählform. Genau an der Stelle höchster Intensivierung – gegen Ende der Erzählung – schaltet sich der Erzähler mit einem Kommentar ein: „Die halben Versuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst“.

Derartige Verlaufskonturierungen – die Darstellung eines Wendepunktes durch den Wechsel des Modus, die Erhöhung der Frequenz sowie parataktische Reihungen kurzer Sätze zur Darstellung von Unruhe – sind keine Besonderheit der Büchner’schen Erzählung. Sie finden sich in ähnlicher Form auch in zeitgenössischen psychiatrischen Texten. Der in Leipzig tätige Psychiater Johann Christian Heinroth stellt in seinem Lehrbuch der Störungen des
Seelenlebens
Krankheitsverläufe mit vergleichbaren Mitteln dar. Wie Büchner unterscheidet er Anfang, Mitte und Höhepunkt der Krankheit und verleiht der Seelenstörung damit eine temporale Dimension, die nach dem traditionellen Muster coctio – crisis – lysis organisiert ist.  

Bei der Darstellung des Verlaufs bedient er sich ebenfalls rhetorischer und narrative Mittel, wie folgende Passage zeigt:

„Den Anfang (das erste Stadium) macht ein hastiges Treiben, unruhiges Hin- und Herbewegen ohne Zweck und Ziel; fremdes auffallendes Betragen gegen die bekanntesten Personen, zweckwidrige, widersinnige Fragen, Aeußerungen, Handlungen, die es augenblicklich bemercken lassen, daß der Kranke nicht bey sich ist; endlich ein ungewöhnliches auffahrendes, stolzes, oder zärtliches, schwärmerisches, phantastisches Benehmen. Und dieser Zustand dauert wiederum einige Tage. Im zweyten Stadium fängt der Kranke an Alles um sich und an sich als Gegenstände einer andern als der gegenwärtigen Umgebung zu behandeln: er scheint Gegenstände vor sich zu sehen, Töne zu vernehmen, sich mit Personen zu unterhalten, die nicht vorhanden sind (…) Allmählich rücken die Gegenstände seines Wahns näher, gedrängter, deutlicher zusammen. Ganz von der Außenwelt abgeschnitten, treten nun die Beziehungen seines Zustandes, die bis jetzt noch wie verdeckt und in seinem Innern verborgen gelegen hatten, aus ihm hervor und verrathen sein Inneres: die Empfindung, die Leidenschaft, von der es erfüllt, entzündet ist, und verzehret wird: er spricht, wie ein Trunkener, ohne Rückhalt das Geheimniß seines Herzens aus. Und dies ist die Höhe der Krankheit. (…) Man sollte meinen, vermöge dieser Lebendigkeit der Affection hielt jener Zustand nicht lange aus; die Natur ertrügt solche Ueberspannung nur kurze Zeit; und dennoch dehnt er sich nicht selten auf mehrere Wochen, ja Monate aus, nur nicht immer in gleicher Heftigkeit. Doch ohne wahre Intervallen, ohne eigentliche ganz klare Zwischenzeiten. Wenn diese eintreten, dann ist der Kranke auf dem Wege zur Genesung. Oder zum Uebergange in eine andere Form von Seelenstörung. Und dieses Eintreten der Intervalle macht das dritte Stadium der Krankheit aus. Die erschöpfte Natur verlangt Ruhe, der Schlaf stellt sich, wenigstens einigermaßen, wieder ein, der Kranke nimmt, wenigstens mit Widerwillen, mehr Nahrung zu sich, seine Träume mischen sich wieder mit Anschauungen der Außenwelt, lebhaft eintretende Sensationen erregen wieder einzelne natürliche Rückwirkungen, die Erinnerung erhält zuweilen ihre Rechte und ein plötzliches Erstaunen, wie beim schnellen Erwachen vom Schlafe, verräth den wiederkehrenden Geist, der aber sehr bald wieder in seine Traumgewebe eingesponnen wird, bis am nächsten Tage (nicht leicht an demselben) oder nach einigen Tagen, wieder in ein ähnlicher Augenblick von Klarheit oder auch eine längere Dauer derselben erscheint.“

Die Passage stammt aus einen Abschnitt von Heinroths Lehrbuch, der sich mit dem Verlauf einer konkreten Seelenstörung, dem Wahnsinn, befasst. Heinroth unterscheidet drei Stadien der Krankheit, ein anfängliches Stadium, ein Stadium des Höhepunktes und den Ausklang. Dem mittleren Stadium wird dabei der größte Raum beigemessen. Bezeichnend ist, dass diese Stadien nicht nur beschrieben werden, sondern dass bei der Beschreibung auch jeweils unterschiedliche rhetorische und narrative Mittel zum Einsatz kommen. Während Heinroth einzelne Krankheitssymptome des ersten Stadiums aufzählt und der Abfolge der Symptome dabei keine Relevanz zukommt („Treiben, unruhiges Hin- und Herbewegen ohne Zweck und Ziel; fremdes auffallendes Betragen gegen die bekanntesten Personen, zweckwidrige, widersinnige Fragen, Aeußerungen, Handlungen“), wird im zweiten Stadium ein Geschehen skizziert, das sich durch eine definierte Dauer auszeichnet und sich zudem sukzessiv-steigend entfaltet. Auf die bloße Wahnwahrnehmung von nicht vorhandenen Gegenständen folgt deren Intensivierung, die dann in ein gänzliches Abgeschnittensein von der Außenwelt resultiert. Die Symptome folgen nicht mehr nur einfach aufeinander. Sie entwickeln sich in steigernder Reihe auseinander. Darüber hinaus tritt das Erleben des Kranken deutlicher in den Mittelpunkt. Erzählt wird nah am Erleben der Figur, von der sich der Erzähler jedoch mit Ausdrücken wie „er scheint Gegenstände vor sich zu sehen“ zugleich distanziert, weil er ihn von außen betrachtet und über die tatsächlich vorhandenen, inneren Wahrnehmungen keine Auskünfte zu geben vermag.  Bei der Beschreibung des dritten Stadiums tritt eine weitere Dimension hinzu. Jetzt wird der Intervallcharakter der Symptome hervorgehoben, der im Sinne einer Regeneration gedeutet werden kann und eine Phase charakterisiert, in der die Gesundheit mit der Krankheit in ein agonales Verhältnis tritt. Die drei Stadien des Wahnsinns werden damit nicht nur durch ihre zeitliche Folge oder ihre Stellung innerhalb einer Serie von Phasen definiert, sondern auch durch die Art der Darstellung voneinander unterschieden. Jeder Phase lässt sich ein jeweils eigener Modus zuordnen, der als Folge, Steigerung und Kampf begriffen werden kann. Darüber hinaus werden in den jeweiligen Stadien unterschiedliche zeitliche Adverbien („allmählich“, „wieder“) verwendet, die vom Einsatz weiterer dramatisierender Mittel flankiert sind. Die Mühe, die Heinroth auf die narrative und rhetorische Konturierung des Krankheitsverlaufes verwendet, wirft zunächst die Frage auf, warum dem Verlauf überhaupt eine so zentrale Stellung innerhalb des Lehrbuches zukommt.

Zunächst könnte der Einsatz dramatisierender und rhetorischer Verfahren eine Konzession an die Leser sein, die nicht nur belehrt, sondern auch unterhalten werden möchten. Bei Heinroth haben Verlaufsdarstellungen jedoch eine besondere Funktion, die über die Intention, den Leser zu unterhalten, hinausgeht. Die Darstellungsweise hängt mit seinem spezifischen Ansatz zusammen: Heinroth versucht – und das macht ihn entgegen der üblichen Einordnung als Rationalist und Psychiker interessant –, psychische Krankheiten distinkt voneinander zu unterscheiden und eine Formenlehre zu entwickeln, die sich vom späteren Konzept der Einheitspsychose Wilhelm Griesingers unterscheidet. Im Rahmen dieser Formenlehre kommt dem Krankheitsverlauf eine zentrale Rolle zu. Er wird zu einem entscheidenden Aspekt innerhalb der Formenlehre. Denn er gehört zum je „spezifischen Charakter“  der jeweiligen Geistesstörung, insofern erst die zeitliche Veränderung der Symptome ermöglicht, einzelne Krankheitsformen distinkt voneinander zu unterscheiden. Nicht die Geisteskrankheit im Allgemeinen hat damit einen Verlauf. Jede einzelne Seelenstörung wird durch eine Abfolge von Krankheitszeichen definiert und von der anderen unterschieden. Begrifflich ist sie durch ihr proprium charakterisiert, durch ein dominantes Symptom: das des Wahnsinns ist etwa das Traumerleben. Zeitlich ist der Wahnsinn jedoch durch das Stadien-Schema determiniert. Der Verlauf bildet – und das ist eine wichtige Neuerung des Heinrothschen System – damit eine Grundlage der Formenlehre und den Ausgangspunkt für spätere Klassifikationen.  Er wird zu einem wesentlichen Pfeiler des taxonomischen Systems. Deshalb misst Heinroths Lehrbuch, wie Büchners Erzählung, dem Verlauf der psychischen Krankheit eine besonderes Augenmerk zu.

Der Versuch, die unterschiedlichen Stadien durch die Verwendung einer jeweils anderen Erzählweise zu differenzieren, hat allerdings eine Platzhalterfunktion. Die Erzählstrategie tritt an die Stelle eines Belegs und einer exakt präzisierten, quantitativen Verlaufsangabe. Erst mit dem Aufkommen statistischer Erfassungsmethoden – mit Fragebögen, Datenbanken oder gezielten Katamnese-Studien – wird eine exaktere Verlaufserforschung möglich und die auf Einzelbeobachtungen basierenden Beschreibungen durch statistisch ermittelte Verläufe ersetzt. Bei Heinroth werden die Stadien mit Hilfe von erzählerischen und rhetorischen Mitteln repräsentiert und auf der Ebene des discours moduliert. Dieses Vorgehen ist bis weit ins 19. Jahrhundert nicht unüblich. Viele der modernen psychiatrischen Krankheitskonzepte, etwa die Schizophrenie oder die Dementia praecox, gewinnen ihre Konturen in literarisch geformten Erzähltexten und damit durch eine spezifische Verknüpfung von Erzählform und Erzählinhalt bzw. durch die Kombination narrativer Darstellungsmittel und -anordnungen mit spezifischen psychopathologischen Aspekten. Das gilt für die Fallerzählungen in Lehrbüchern ebenso wie für die Krankheitsdarstellungen literarischer Pathographien etwa für Büchners Lenz. Bislang ist dieser Zusammenhang von Erzählung, psychiatrischer Nosographie und Konzeptentwicklung allerdings weder in historischer noch in systematischer Hinsicht angemessen erfasst.

3. Verrückte Rede: Zeigen versus Erzählen

Büchners Text lässt sich nicht nur aufgrund seiner diarischen Notationsform und Verlaufskonturierung mit psychiatrischen Schreibweisen vergleichen. Eine weitere Parallele betrifft Büchners Darstellung von verrückter Rede. An verschiedenen Stellen des Textes kommt Lenz selbst zu Wort. Gleich zu Begrüßung sagt er „Ich bin ein Freund“. Später, als Oberlin ihm den Wunsch des Vaters mitteilt, Lenz solle nach Hause kommen, antwortet er: „Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort?“

Oft steht die direkte Rede im Zusammenhang mit Affekten und Erregungszuständen, später besonders mit einem toten Mädchen, das er hatte retten wollen und das offenbar Erinnerungen an eine frühere Begegnung wachruft. Nach der Hüttenepisode etwa fragt Lenz Frau Oberlin:

„Beste Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen, was das Frauenzimmer macht, dessen Schicksal mir so centnerschwer am Herzen liegt?“

Später sagt er zum Pfarrer:

„Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel. Woher wissen Sie das? – Hieroglyphen, Hieroglyphen – und dann zum Himmel geschaut und wieder: ja gestorben – Hieroglyphen“.

Die zweite Passage stellt einen Dialog zwischen Oberlin und Lenz dar, in dem Lenz bereits als Wahnsinniger spricht. Die Rede wird als direkte Figurenrede vor Augen geführt und lässt sich dadurch in ihren formalen Besonderheiten vom Leser unmittelbar erschließen. Ist Lenz’ Sprache schon zuvor von Emotionsausdrücken und überschwänglichen Anreden wie „Beste Madame Oberlin“ geprägt, spricht er mit Oberlin deutlich in einem pathetischen Redemodus. Die Sprache ist aber nicht mehr nur affektiv, sie wird ferner elliptisch, a-grammatisch und unverständlich. Zwar kann sich der Leser erschließen, was mit dem Wort ‚Engel’ gemeint sein könnte. Die Antwort „Hieroglyphen“  ist dagegen weniger leicht zu entschlüsseln. Womöglich spielt Lenz damit auf ein ihm im Traum oder auf anderen Wegen übermitteltes Wissen an. Auf den ersten Blick bleibt der Satz „ja gestorben – Hieroglyphen“ aber unverständlich und elliptisch. An dieser Stelle wird das klassisch-pathetische genus dicendi zum Passepartout des Wahnsinns und die Rede selbst zu einem weiteren Indiz für den offenbar zunehmend kranken Geisteszustand von Lenz. Dass Büchner der direkten Rede des Wahnsinns ein besonderes Augenmerk beimisst, zeigt ferner der Umstand, dass er die Rede an einer zentralen Stelle innerhalb der Handlung platziert.

Auch in dieser Hinsicht weist Büchners Text Gemeinsamkeiten mit psychiatrischen Krankengeschichten auf. Besonders ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen Wahnsinnige im Modus der direkten Rede zu Wort. Die Krankengeschichten wechseln dabei vom Modus des Erzählens in den Modus des Zeigens. 1870 untersucht z. B. der Psychiater Kahl Ludwig Kahlbaum zusammen mit seinem Kollegen Ewald Hecker in der Görlitzer Irrenanstalt die Sprache der Geisteskrankheiten und versucht, vom Sprechmodus der Patienten auf das Vorliegen einer Krankheit zu schließen.  Als Materialen für ihre Sprachanalyse verwenden Kahlbaum und Hecker unter anderem Briefauszüge, die das Gesagte vor Augen stellen und die der Rede des kranken Lenz bei Büchner gleichen. Folgende Passage ist Ewald Heckers Schrift über die Hebephrenie entnommen:

„‚Meine liebe gute Mamma! Tausendmal seist Du gegrüßt von Deiner Tochter Karoline mit heissen Tränen und bannen Schmerz bring ich Dir meine herzlichen Glückwunsche dar, Freude blühe Dir auf Deinem Wege des Lebens ohne Dich such ich vergebens an die fremde Freundschaftskette zu gewöhnen. Doch die Zeit und Stunde wird mir lehren. Die Blumen sind verwelkt die frischen will ich Dir mit offenen Armen und freundvollen küssen mit seichtem Auge küss ich Dir Hand Gesicht lebe recht lange behalte lieb Deine Tochter Karoline E.!‘“

Es handelt sich um einen Briefauszug, den Hecker in seine Krankengeschichte aufnimmt.  Die Briefanalyse konzentriert sich auf formale Besonderheiten der Rede. Hecker erwähnt neben anderem die eigentümliche Abweichung vom Satzbau, das a-grammatische Sprechen, das er als ‚Nachlässigkeit in der Verknüpfung‘ bezeichnet. Ferner moniert er den Wechsel in der „Construction“,  den er – wie auch die fehlende Interpunktion – als mangelnde Gliederung und Planlosigkeit interpretiert. Diese Besonderheiten sollen, wie bei Lenz, die Geisteskrankheit anzeigen und werden als deutliches Indiz einer Krankheit gewertet, die Hecker Hebephrenie nennt.  

Auch bei Kahlbaum werden formale Redebesonderheiten, der Zerfall der Satzstruktur und häufige Wiederholungen, zu Zeichen der Krankheit, die sich unmittelbar zeigen. Der Unmittelbarkeitseindruck hängt erneut mit der Präsentationsweise zusammen, damit, dass Wissensobjekte – die verrückte Rede – ohne erzählerische Vermittlung vorgeführt werden. Das unmittelbare Zeigen von Rede gewann im 19. Jahrhundert insgesamt an Geltung und findet sich besonders in Abhandlungen und Krankengeschichten zur Schizophrenie bzw. zu ihrem Vorläuferkonzept, der Dementia praecox. Die 1893 erschienene, vierte Auflage von Emil Kraepelins Lehrbuch der Psychiatrie, in dem die Dementia praecox eingeführt wird, stellt die Rede von Patienten ebenfalls direkt dar.  Eugen Bleuler folgt dieser Präsentationsweise in seinem Schizophrenie-Buch, das eingangs bereits zitiert wurde. Die Worte des Wahnsinns werden bei Bleuler sogar vom Fließtext abgesetzt und fallen dem Leser unmittelbar ins Auge.  

Was folgt nun aus dem Umstand, dass sich zwischen psychiatrischen Krankengeschichten und Büchners Text zahlreiche formale Gemeinsamkeiten identifizieren lassen? Was bedeutet es, dass Büchner mit Heinroth die Verlaufskonturierung durch rhetorische und narrative Mittel und mit Kahlbaum, Kraepelin und Bleuler die unmittelbare Präsentationsweise von verrückter Rede teilt?

Besonders für die Rezeptionsgeschichte des Textes dürften diese Parallelen eine Rolle gespielt haben und ich komme damit zu meiner Ausgangsfrage zurück. Dass Büchners Text 1921 als Fallstudie einer Schizophrenie gelesen werden konnte, hängt wesentlich mit den formalen Texteigenschaften zusammen. Wie Psychiater konzentriert sich Büchner auf die Beschreibung des Krankheitsverlaufes, der um 1900 zugleich für die Dementia praecox bzw. Schizophrenie relevant ist und sich schon bei Heinroth nachweisen ließ. Mit der Darstellung direkter Rede weist der Text ein zweites Moment moderner Nosographie auf, das eng mit der Schizophrenie assoziiert ist.

Die Parallelen könnten zufällig sein oder auf ein konstitutives Verhältnis von Literatur und Psychiatrie deuten, nämlich darauf, dass zahlreiche psychiatrische Krankheitskonzepte nicht nur an klinischen Krankengeschichten und Aktenmaterialien entwickelt wurden, sondern auch an literarischen Texten, insofern sie – wie sich jedenfalls bei Leopold von Sacher-Masoch und Richard von Krafft-Ebing zeigen lässt – als Ausgangsbeispiele für bis dahin nicht beschriebene Krankheiten herangezogen wurden. Büchners Text bringt also etwas zur Darstellung, das unter bestimmten Umständen zum Gegenstand des psychiatrischen Wissens avanciert. Die psychiatrische Rezeption verdankt sich damit keineswegs dem Umstand, dass der Autor aufgrund seiner besonderen Beobachtungsgabe oder seiner Kenntnisse der Psychiatrie eine vorhandene, aber noch nicht beschriebene Krankheit angemessen dargestellt und so psychiatrisches Wissen vorwegnimmt.  Dass Leser wie Wilhelm Mayer in Büchners Erzählung eine Fallgeschichte der Schizophrenie sehen konnten, lässt sich vielmehr auf ihre spezifische Schreibweise – auf die Darstellung des Verlauf und der Rede – zurückführen. Darüber hinaus wurde diese Lesart sicher auch durch innerwissenschaftliche Voraussetzungen der so genannten Verstehenden Psychiatrie und Psychologie plausibel, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann. 

Die Bedeutung des literarischen Textes erschließt sich allerdings keineswegs in der skizzierten, nosographischen Dimension. Die daran orientierte Analyse wäre durch eine Vielzahl von wissensgeschichtlichen, ästhetischen wie innerliterarischen Aspekten zu ergänzen. Hier kam es lediglich darauf an zu zeigen, inwiefern Büchners Text, und zwar unabhängig von der Frage, welches Krankheitsbild er darstellt oder was er über die Natur von psychischen Krankheiten im Einzelnen aussagt, als psychiatrische Krankengeschichte rezipiert werden konnte. Die historischen Schreibweisen der Psychiatrie  – die Verlaufskonturierung und die Darstellung von Rede – sind wichtige Voraussetzungen für diese Lesart. Erst wenn sie in die Analyse mit einbezogen werden, lassen sich die rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhänge angemessen darstellen, erst dann ergibt sich ein neuer Blick auf die nosographische Dimension des Textes.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag erscheint in erweiterter Version demnächst im Georg Büchner Jahrbuch, Bd. 13, und ist im Zusammenhang mit folgenden Veröffentlichungen der Verfasserin entstanden:
Yvonne Wübben: Verrückte Sprache. Psychiater und Dichter in der Anstalt des 19. Jahrhunderts.
Konstanz university press, Konstanz 2012.
Yvonne Wübben / Carsten Zelle: Krankheit schreiben. Medizinische und literarische Aufschreibeverfahren. Wallstein Verlag, Göttingen 2013.