Georg Büchners dramatische Lehre vom ganzen Menschen

„Woyzeck“ als ästhetischer Kommentar zu Entwicklungen in Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft, Militär und Justiz

Von Marion SchmausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Schmaus

Unser heutiges lebensweltliches und wissenschaftliches Verständnis vom ganzen Menschen und der ihm zugeordneten medizinischen Disziplin der Psychosomatik ist zutiefst durch das 19. Jahrhundert geprägt worden, und es gibt kaum einen Schriftsteller, der hierzu einen entschiedeneren Beitrag geleistet hätte als der am 17. Oktober 1813 in Goddelau geborene Georg Büchner, seines Zeichens Schriftsteller, Naturwissenschaftler und Mediziner.

Psychosomatik

Eindrücklich lässt sich dies an seinem unvollendet gebliebenen, in den Jahren 1836/37 entstandenen Dramenfragment „Woyzeck“ zeigen. Es ist vor einer der großen wissenschaftlichen Debatten des 19. Jahrhunderts innerhalb der Psychiatrie situiert, jener zwischen den sogenannten Psychikern und Somatikern. Beide Gruppierungen gehen von einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele aus, allerdings mit wechselnder Gewichtung. Während die Psychiker einen Vorrang der Seele vor dem Körper erkennen und mithin psychisch-somatische Verhältnisse verfolgen, gehen die Somatiker den somato-psychischen Einflüssen nach unter dem Vorrang des Körpers. Der Begriff ‚Psychosomatik’ taucht zum ersten Mal in Johann Christian August Heinroths „Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung“ (1818) auf, wenige Jahre danach, 1822 wird Friedrich Nasse dann bereits sehr viel programmatischer von einer neu zu gründenden Disziplin mit dem möglichen Namen „Psycho=Somatologie“ oder „Psycho=Physiologie“ sprechen.[1]

Woyzeck

Der Name Heinroth ist den Literaturinteressierten und Germanisten geläufig, war er doch am Rande als anvisierter Gutachter und nachträgliche Stimme an dem Gerichtsprozess über den historischen Johann Christian Woyzeck beteiligt,[2] der am 27. August 1824 öffentlich auf dem Marktplatz von Leipzig hingerichtet wurde. Dieser Fall und die zu ihm vorliegenden forensischen Gutachten gaben das Material für Büchners Dramenfragment ab, wie dies u.a. die Bände der Marburger Büchner-Ausgabe umfangreich dokumentieren.[3] Der von Heinroth eingeführte Begriff der ‚Psychosomatik‘ und die im 19. Jahrhundert diskutierte psychosomatische Fragestellung markiert den Dreh- und Angelpunkt von Büchners Drama, der vorausgehenden Woyzeck-Debatte und der naturwissenschaftlichen Diskurse der Zeit. In Auseinandersetzung mit diesen wissenschaftlichen Diskursen entwirft Georg Büchner eine dramatische Lehre vom ganzen Menschen, die auch heute noch nicht abgegolten ist.

„Geht einmal euren Phrasen nach“

Eine Aufforderung aus „Danton’s Tod“: „Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden“, scheint über der Versuchsanordnung von Büchners „Woyzeck“ zu stehen. Das Individuum wird hier tatsächlich als ein Schnittpunkt von Diskursen präsentiert. Und bei dieser Formulierung wäre es vorschnell, gleich an die Diskursanalyse des 20. Jahrhunderts zu denken. Ihre historischen Vorläufer hat diese eben im 19. Jahrhundert, das die Einsicht in das Ich als ein „Bündel von Trieben und Gefühlen“, als „Kreuzungspunkt von Zusammenhängen“, etwa des „Milieus“, oder als „Mittelpunkt von Kraftwirkungen“ formuliert. Büchners spezifischer Beitrag zu dieser Reformulierung des Menschen im Spannungsfeld von Trieben und Milieu liegt in der Sprachanalyse. Mit den ‚Phrasen‘ wird neben Psyche, Körper und Umwelt die Sprache bzw. zeichenhaftes Ausdrucksgeschehen als vierte Koordinate in die Betrachtung aufgenommen. Dabei wird im Drama zugleich deren deformierende und konstruktive Macht plastisch. Büchners Drama zeigt die diskursive Umstellung der Woyzeck-Figur durch Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft und Militär, entwickelt aber auch literarische Strategien, seine Figur aus dieser Umstellung zu befreien. Zum einen verändert er auf der Makroebene die Grundlagen des Diskurses, etwa im Gattungswechsel von der Gutachtenprosa zur dramatischen Reinszenierung des Protagonisten, zum anderen weist er auf einer Mikroebene in einzelnen Momenten auf alternative Sprach- und Handlungsmöglichkeiten. Später, in der Psychoanalyse Freuds, wird diese diskurs- und sprachanalytische Dimension der Psychosomatik in der Wahrnehmung von Krankheit als seelisch-leiblichem Ausdrucksgeschehen und der ‚talking cure‘ eine wissenschaftliche Verankerung finden. Das von Büchners Drama präsentierte machtanalytische Potential ist dort jedoch und vielleicht auch bis heute noch nicht hinreichend ausgeschöpft.

Militär und Medizin

Beispielhaft für die den ganzen Menschen prägenden Umweltfaktoren und deren dramatische Darstellung in „Woyzeck“ können die Disziplinen Medizin und Militär herangezogen werden. Das Militär stellt im Dramenfragment neben der Medizin die zweite Ordnungsmacht dar, die einen umfassenden Zugriff auf Woyzecks Alltag hat. Militärisch wird Woyzecks Zeit durch Zapfenstreich und „Verles“ strukturiert und neben eigentlich soldatischen Pflichten durch diverse Nebentätigkeiten angefüllt, wie Stöcke schneiden und den Hauptmann rasieren. Woyzecks Liebes- und Familienleben ist durch rechtliche und finanzielle Schwierigkeiten gestört, die das Militär der Ehe eines einfachen Soldaten in der damaligen Zeit in den Weg stellte. Und selbst bei dem Nebenbuhler handelt es sich noch um einen ranghöheren Vertreter des Militärs. Dass militärische und medizinische Disziplin ineinander greifen und sich insofern komplizenhaft in der Zurichtung des Individuums ergänzen, zeigt sich in der beiderseitigen Befehlsstruktur. Durch das sprachliche Training, das Woyzeck im Militär durchlaufen hat, so dass er jede Rede gegenüber seinem Vorgesetzten, dem Hauptmann, mit einem notorischen ‚Ja wohl‘ beantwortet, ist er bestens auch für die Imperative der Doktor-Figur im Stück konditioniert. Daher ist es nur konsequent, dass er auch im Gespräch mit dem Doktor militärische Haltung annimmt: „steht ganz gra(de)“.

Als Zurschaustellung gelungener Arbeitsteilung zwischen Militär und Medizin lässt sich die Szene 2,7 lesen. Woyzeck befindet sich hier im Gespräch mit dem Hauptmann und dem Doktor und wird dabei gleichsam zwischen zwei Disziplinen aufgerieben, die beide ihr böses Spiel mit ihm treiben. Die Szenenfolge 2,6-7 ist ein gutes Beispiel für die enge zeitliche und thematische Fügung der Szenen in Büchners Drama. Eben noch hatte der Doktor Woyzeck mit dem Gewehrputzen an seine militärischen Pflichten erinnert, und schon taucht metonymisch der Hauptmann auf der Bildfläche auf. Er informiert Woyzeck über Maries Liaison mit dem Tambourmajor und weidet sich an dem durchschlagenden Erfolg seiner Rede: „Kerl er ist ja kreideweiß.“ Dies gibt wiederum dem Doktor Gelegenheit, seine Studien an Woyzeck weiter zu betreiben. Jetzt unter der Fragestellung, welche körperlichen Symptome dieser psychische Schock hervorruft. „DOCTOR Den Puls Woyzeck, den Puls, klein, hart, hüpfend, ungleich. […] Gesichtsm(us)keln starr, gspannt, zuweilen hüpfend, Haltung aufgericht gspannt.“ Dieser Protokollstil erinnert nicht von ungefähr an die medizinischen Untersuchungen im Fall des historischen Woyzeck, die in den Gutachten von Johann Christian August Clarus festgehalten sind. Nur gehörten diese in den geregelten Gang des gerichtspsychiatrischen Begutachtungsprozesses.

‚Mysteriöser Einfluss der Seele auf den Körper‘

Der in Szene 2,7 geschilderte psychosomatische Zusammenhang in der Beschreibung einer psychischen Ursache und ihrer körperlichen Folgen kann mit zeitgenössischen Entwicklungen in der Nervenphysiologie kontextualisiert werden, die in den Arbeitsbereich des Naturwissenschaftlers Georg Büchner gehören. Charles Bell, ein Pionier der Nervenlehre, ist dem „mysterious influence of soul on body“ mit an Tier und Mensch durchgeführten Experimenten auf der Spur. Bell hatte 1811 mit seiner Entdeckung der motorischen Funktion der vorderen Wurzel des Spinalnervs einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung des Reflexbogens geleistet, dessen vollständiges Bild in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts von Johannes Müller gezeichnet wird. Wie Büchners Dissertation dokumentiert, war er mit den Arbeiten Bells gut vertraut, und es lässt sich im weiteren zeigen, dass er diese nicht nur für die Beschreibung des Nervensystems der Flussbarben zu Rate zog, sondern auch für die physiologisch genaue Beschreibung von Reiz-Reaktionsketten beim Menschen in „Woyzeck“. Bell untersucht den Einfluss der Seele auf den Körper in „Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression“ (1822) in der konkreten Physiologie der Atmungsnerven, deren weit verzweigtes Netz Brust, Herz und Kopf umspannt und gleichermaßen für die vitale Grundfunktion des Atmens und für das Ausdrucksvermögen des Menschen verantwortlich sind. Als Ausdrucksformen eines psychischen „terrors“ werden in diesem Vortrag u.a. benannt: „eyes intently fixed on the object of his fears“, „hesitating and bewildered steps“, „spasm on his breast“, „his heart knocks at his ribs“, „the lips and cheeks being ashy pale“. Eine ähnliche Symptomvielfalt ist an Woyzeck in Szene 2,7 zu beobachten, von dem ‚kreideweiß’, dem harten Puls, dem starren, stechenden Blick („er ersticht mich ja mit sei Auge“) bis zum unsicheren Gang („geht mit breiten Schritten ab erst langsam dann immer schneller“). Verfolgt der Doktor mit seiner Erbsendiät an Woyzeck ein somato-psychisch angelegtes Forschungsprojekt, so zeigt diese Szene, dass er auch für eine psycho-somatische Fragestellung, nach den konkreten physiologischen Reaktionen auf einen psychischen Reiz, Interesse zeigt. Welche Folgen ein solches Erlebnis haben kann, formuliert in der Szene „Hauptmann. Doctor“ der Hauptmann: „es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen Schreck.“ In 2,7 macht Woyzecks Suizid-Gedanke auf die möglichen letalen Konsequenzen einer seelischen Verletzung aufmerksam: „Der Mensch! Es ist viel m(ö)glich. […] Sehn sie so ein schön festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage und sich daran zu hänge“.

Zu Recht ist in der Forschung dieser vom Hauptmann zugefügte und vom Doktor medizinisch protokollierte psychische Schock als zentrales eskalierendes Moment in Woyzecks Krankheitsverlauf festgehalten worden, das bereits auf die „sogenannte ‚Schreckpsychose’ (Emil Kraepelin) und später d[ie] ‚psychischen Traumata’ (Josef Breuer / Sigmund Freud)“[4] vorausdeute. Allerdings ist die Psychogenese von Krankheiten bereits eine Erkenntnis des 18. Jahrhunderts, der Schreck galt hier sowohl als Auslöser wie als Therapeutikum von Krankheiten und ist im 19. Jahrhundert schon bis ins medizinische Laienbewusstsein des Hauptmanns vorgedrungen. Jetzt kann jedoch der vormals ‚mysteriöse Einfluß der Seele auf den Körper’ auf der Grundlage der neueren physiologischen Forschung exakter über die Nerven verfolgt werden. So verzeichnet Amelung in „Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten“ (1832) als mögliche Folgen eines „heftige[n] Schreckens“ „Schlagflüsse, Ohnmachten und einen plötzlichen Tod“ verursacht durch einen Blutandrang im Gehirn, der dann reflektorisch auf weitere lebenswichtige Organe wirkt: „Diese Gemüthsaffecte haben alle mehr oder weniger heftige Congestionen nach dem Kopfe zur Folge. Diese Congestionen können […] so stark werden, dass sehr bedeutende Zufälle eintreten, wie z.B. Schlagflüsse, epileptische Zufälle, und vermöge der sympathischen Rückwirkung auf die Organe der Brust und des Unterleibs verschiedene andere Zufälle, welche wir bereits erwähnt haben, wie namentlich beschleunigte Respiration, Herzklopfen, vermehrten Puls, Erbrechen, Durchfall, Gelbsucht, Gallenfieber u.s.w.“ Im Kontext dieser physiologisch-psychiatrischen Erkenntnisse erscheinen die Handlungsweisen von Hauptmann und Doktor in einem deutlicheren Licht: als psychisch-physische Attacken auf ihr Gegenüber. Dem Hauptmann sind die möglichen letalen Konsequenzen seiner Eröffnung gegenüber Woyzeck durchaus bekannt, wie seine Formulierung in der Szene „Woyzeck. Der Doctor“ „es sind schon Leute am Schreck gestorben“ belegt. Es zeigt sich hier, was auch die Ernährungsexperimente mit Woyzeck dokumentieren: Büchner bringt den Fall Woyzeck in seinem Drama auf den neuesten naturwissenschaftlichen Stand und verweist darin auf die zentralen Umbrüche des 19. Jahrhunderts, auf die nationalökonomisch relevante Ernährungsfrage und die Umwertung des Menschen als Reflexwesen. Im Weiteren verdeutlicht die Szene 2,7, dass dem Doktor in Büchners Drama jede Alltagssituation – hier das Gespräch auf der Straße – und jedes Leiden eine Möglichkeit zu ‚klinischer Beobachtung‘ bietet, für die er sein Versuchsobjekt auch entsprechend belohnen will. So verspricht er dem „Phänomen“ Woyzeck nach dieser Episode „Zulag“.

Medizin als aggressive Ordnungsmacht

Die im Drama veranschaulichte Nähe zwischen Militär und Medizin wirkt sich allerdings nicht nur arbeitsteilig aus, sondern auch in konkurrierenden Machtansprüchen, die in der Konfrontation von Hauptmann und Doktor ausgetragen werden. Dabei profiliert sich in Gestalt des Doktors die Medizin als die modernere und aggressivere Ordnungsmacht, der hierarchie- und schichtenunabhängig alles und jeder zum Beobachtungs- und Versuchsgegenstand werden kann. Die Krankheit und der Tod sind die großen Gleichmacher. Woyzeck ist zwar aufgrund seiner finanziellen Notlage für den Doktor ein besonders einfaches Opfer, jedoch weisen die in 2,7 erwähnten weiteren Patienten darauf, dass er keineswegs sein einziges bleibt. „DOCTOR Frau, Sie ist in 4 Woch todt, […] ich hab‘ schon 20 solche Patienten gehabt“. Und auch der Hauptmann qualifiziert sich in 2,7 mit seiner psychosomatischen Symptomatik bereits als ein solches. Seine Kurzatmigkeit („keucht die Straße herunter“), „Angst“, Schreckhaftigkeit („es sind schon Leute am Schreck gestorben“) und sein Schwindelgefühl sprechen dafür, dass auch er bald in die Hände des Doktors fallen könnte. Im weiteren Entwurf dieser Szene ist diese Option dann deutlich ausgearbeitet worden. Der Hauptmann adressiert den Doktor beruflich: „Herr Doctor, ich bin so schwermüthig ich habe so was schwärmerisches, ich muß immer weinen, wenn ich meinen Rock an der Wand hängen sehe, da hängt er“, und erhält postwendend von diesem seine Diagnose, in den nächsten vier Wochen habe er einen Hirnschlag zu erwarten:

„DOCTOR Hm, aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplectische Constitution. Ja Herr Hauptmann sie könne eine apoplexia cerebralis krieche, sie könne sie aber vielleicht auch nur auf d. einen Seite bekomm, und dann auf der einen gelähmt sey, oder aber sie könne im besten Fall geistig gelähmt werden und nur fort vegtirn, das sind so ongefähr ihre Aussichte auf d. nächste 4 Wochen. Übrigens kann ich sie versichern, dass Sie eine von den interessanten Fällen abgebe und wenn Gott will, dass ihre Zunge zum Theil gelähmt wird, so machen wir d. unsterblichsten Experimente.“

Der Doktor erscheint hier erneut in der Nachfolge von Charles Bell, der in seinem Vortrag vor der Royal Society „Of the Nerves“ mit Begeisterung einen seiner Patienten mit halbseitiger Lähmung vorstellt. An ihm lasse sich die Differenz von willkürlichen und unwillkürlichen Nerven gut beobachten und sein halbseitig gelähmtes Gesicht veranschauliche den funktionellen Zusammenhang von Atmung und Ausdruck. Außerdem fordert er genauere anatomische Kenntnisse ein, damit „apoplexies“ von „diseases of lethargy and somnolency“ unterschieden werden können. Dieser Trennschärfe wird Büchners Doktor gerecht, indem er auf das vom Hauptmann präsentierte Krankheitsbild, Schwermut und Schwärmerei, nicht eingeht und sich an die konstitutionellen Fakten hält. Da dieser Doktor im Weiteren auf eine Zungenlähmung hofft, ist es durchaus möglich, dass er mit dem zukünftigen Versuchsobjekt Hauptmann auf den Spuren von Bell der im Nervensystem gekoppelten Funktionseinheit von Atmung, Ausdruck und Sprache nachgehen will. Allerdings kann die Wahrnehmung der Nerven als „instruments of expression“ in der Nachfolge Bells in dieser Szene wie im Drama insgesamt nicht allein der Figur des Doktors angelastet, sondern muss auf den Autor übertragen werden, der mit entsprechenden Nebentexten die Aufmerksamkeit auf die leibseelischen Zusammenhänge von Atmung, Ausdruck und Sprache lenkt. Etwa wenn es in der Szene 2,7 einleitend heißt: „Hauptmann keucht die Straße herunter, hält an, keucht […] schnauft“. Schon in seiner Dissertation über das Nervensystem der Flussbarben hatte sich der Naturwissenschaftler Büchner besonders für den Zusammenhang von Verdauung, Atmung und Sprache interessiert, der über den Vagus-Nerv hergestellt wird. Es sei dieser Nerv, der das „vegetative zum animalen Leben“ erhöhe.

Darüber hinaus erscheinen die Nerven in der Szene „Hauptmann. Doctor“ aber nicht nur als Ausdrucksinstrumente, sondern sie können auch als tödliche Waffen eingesetzt werden. An der Szene 2,7 wurde dies an Woyzecks Reaktion auf den vom Hauptmann provozierten psychischen Schock beleuchtet, jetzt ist es dieser selbst, dem der Doktor mit seiner Diagnose einen solchen tödlichen Schrecken bei-bringt. „HAUPTMANN Herr Doctor erschrecken Sie mich nicht, es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen Schreck“ (I, 211). Mit dieser Bemerkung erweist sich der Vertreter des Militärs als ein medizinisch gebildeter Laie, der die Diagnose des Doktors als das kennzeichnet, was sie ist, nämlich eine Mordattacke. Die Somatiker der Zeit dachten ausführlich über den Zusammenhang von ‚heftigem Schreck’ und ‚Schlagfluß’ oder ‚plötzlichem Tod’ nach, insbesondere bei Personen mit einer „dazu disponirenden und die nachtheilige Wirkung der Gemüthsaffecte begünstigenden körperlichen Anlage“, wie der vom Doktor beschriebenen apoplektischen Konstitution. Schlaganfälle waren für das Studium von Geisteskrankheiten in zweifacher Hinsicht von besonderem Interesse. Zum einen weil an ihnen der eben vorgestellte psychosomatische Zusammenhang von Schock und Gehirnlähmung anschaulich wurde; zum anderen weil die somatische Grundlage von Geisteskrankheiten hier in besonders deutlicher Weise hervortrat. „Wenn in irgend einem Falle sich die Seelenstörung ziemlich klar als ein Gehirnleiden zu erkennen giebt und als solches gleichsam handgreiflich nachgewiesen werden kann, so ist es in denjenigen Fällen der Geisteszerrüttung, welche nach Schlagflüssen zurückbleiben.“ Franz Amelung nennt „Lähmung“, „Delirien“, „bleibende Verrücktheit“, „Schwach- und Blödsinn“. Die vom Doktor in 2,6 an Woyzecks somatisch induziertem partiellen Wahnsinn skizzierte ‚neue Theorie’, die er in 2,7 psychosomatisch ausarbeiten kann, erfährt mit dem Hauptmann so eine sinnige Erweiterung. Entweder trifft diesen der Schlag sofort als Folge des heftigen, durch die Diagnose bewirkten Schrecks, dann ist er ein Beweis für den psychosomatischen Zusammenhang. Oder dieses Schicksal ereilt ihn erst in wenigen Tagen oder Wochen und er gibt ein Sinnbild für die organische Ursache von Seelenstörungen ab und erweitert neben dem Versuchsobjekt Woyzeck das Symptomspektrum sowie die Versuchsanordnungen.

Zuschreibung von Krankheit

Bei dem Dialog von Doktor und Hauptmann handelt es sich um ein satirisch verzerrtes Arzt-Patienten-Gespräch, um einen klassischen Fall des Aneinander-vorbei-Redens und auch -Sehens. Denn zum einen artikuliert der Patient psychische Symptome, während der Arzt nur auf die sichtbaren körperlichen Bezug nimmt. Zum anderen erhält der Patient anstatt erwartbarer therapeutischer Ratschläge in der Schnelldiagnose auf der Straße sein Todesurteil. Der Doktor macht sich in diesem Vorgang den Hauptmann gleich zweifach untertan: zum einen sprachlich, indem er auf dessen Redeinhalt gar nicht eingeht und in einer seltsamen Mischung aus hessischer Mundart und lateinischem Fachjargon, „sie könne eine apoplexia cerebralis krieche“, seine Überlegenheit ausspielt; zum anderen körperlich, indem die wissenschaftliche Indienstnahme des Körpers des Hauptmanns, entweder als Versuchs- oder als Sektionsobjekt, nur noch als Zeitfrage erscheint. Die medizinischen Konsultationen des Hauptmanns und Woyzecks weisen in den zutage tretenden sprachlichen und leibseelischen Missverhältnissen strukturelle Gemeinsamkeiten auf, zum Teil in spiegelbildlicher Verkehrung. Wendet sich Woyzeck mit schweren somatischen Symptomen an den Arzt, „Herr Doctor ich hab’s Zittern“, „Herr Doctor es wird mir dunkel. Er setzt sich“, so erhält er keine diesen Sprech- und Körperakten gemäße professionelle Hilfe, sondern wird als Versuchsobjekt den Studenten vorgeführt. Der Doktor ist „ganz erfreut“ über die von seinem Ernährungsexperiment hervorgerufenen körperlichen Verfallserscheinungen und über die Gelegenheit, sie öffentlich zur Schau zu stellen. Sucht Woyzeck hingegen ein naturphilosophisches Gespräch mit dem Doktor auf Augenhöhe, so ignoriert dieser auch hier den Redegehalt seines Gegenübers und stellt ihm mit der „schönen fixen Idee“ eine psychische Diagnose. Und so müssen vergleichsweise unauffällige Aussagen Woyzecks herhalten, um dessen „neue Theorie“ zu bestätigen. Es ist bezeichnend, dass Woyzeck in Büchners Drama gerade nicht in den Zuständen von Verfolgungswahn und Halluzinationen professionell für verrückt erklärt wird, sondern in einem Moment, der auch als argumentatives Aufbegehren gegen die Versuche des Doktors verstanden werden kann. Weitaus treffsicherer in ihrem Urteil sind da schon die Woyzeck nahestehenden medizinischen Laien Andres und Marie, die ihn nur in Zuständen tatsächlicher Verrückung für verrückt erklären: „MARIE […] Er schnappt noch über mit den Gedanken“; „ANDRES Franz, du kommst in’s Lazareth“. Die Diagnose stellt sich so als ein Akt der Deutung dar, die entweder durch eine Theorie, eine Versuchsanordnung oder persönliche erste Eindrücke strukturiert sein kann und dementsprechend Symptome wahrnimmt oder nicht, diese als legitim erachtet oder nicht. Die Zuschreibung von Krankheit vollzieht sich in einem diskursiven Wechselspiel von Selbst- und Fremdbezeichnung.

Als Herr der diagnostischen Wahrheit und als Agent moderner experimenteller Forschung verkörpert der Doktor in Büchners Dramenfragment einen Machtanspruch, der sich also auch gegenüber dem Vertreter des Militärs behauptet. Mit der in 2,7 genannten hohen Sterblichkeit seiner Patienten kann er sogar als Todesmacht dem Militär quasi in seiner eigenen Domäne Konkurrenz machen. Auch diese Todesverfallenheit kann als spezifisch somatische Prägung der Doktor-Figur gewertet werden. Denn „Krankengeschichten und Leichenoeffnungsberichte“ erfreuen sich bei den Somatikern eines gleichermaßen hohen Interesses. Die Konkurrenz zwischen Militär und Medizin wird in Büchners Drama in den „Hauptmann. Doctor“-Szenen im rhetorischen Geplänkel zugunsten des letzteren entschieden. In den Anreden „werthester Grabstein“, „Herr Doctor, Sargnagel, Todtenhemd“ gesteht ihm der Hauptmann die Herrschaft über das Reich des Todes zu, der sich auch er selbst unterzuordnen hat. Die Konfrontation von Medizin und Militär endet, für das gesamte Drama sprechend, mit folgenden Worten: „DOCTOR Ich empfehle mich, geehrtster Herr Exercirzagel. HAUPTMANN Gleichfalls, bester Herr Sargnagel.“ Die wechselseitigen Respektsbezeugungen lassen sich im Hinblick auf die im vorangehenden aufgezeigte disziplinäre, arbeitsteilige Nähe zwischen den Institutionen wörtlicher nehmen, als in Anbetracht des ironischen Tonfalls vermutet werden könnte. Militärische und medizinische Disziplin greifen so gut ineinander wie der Reim von ‚-zagel‘ und ‚-nagel‘, und doch hat sich hier die eine der anderen unterzuordnen.

Büchners Doktor

Büchners Doktor wäre allein als satirische Figur missverstanden, denn in dieser Figur gelangen die zentralen Umbrüche in den Natur- und Humanwissenschaften des frühen 19. Jahrhunderts zur Darstellung.[5] Es kommen nicht nur, wie bislang angenommen, Clarus und Wilbrand als Paten für Büchners Doktor in Frage, sondern es müssen auch so illustre Namen wie Heinroth, Charles Bell, Johannes Müller und Goethe genannt werden, also die maßgeblichen Wissenschaftler ihrer Zeit und Disziplin; und schließlich darf diesbezüglich auch der begabte Nachwuchsnaturwissenschaftler Georg Büchner nicht vergessen werden, der seine literarische Figur im eigenen Forschungsfeld situiert. Es handelt sich bei diesem Doktor also um einen ernstzunehmenden Typus des modernen Wissenschaftlers, dessen satirische Züge nicht in den einzelnen Merkmalen liegen, sondern in deren Überzeichnung und in der konzentrierten Anhäufung. Dessen Grundlagenforschung ist in der überarbeiteten Fassung der Doktor-Szene gänzlich auf den Menschen fokussiert. Neben dem schon vielfach bearbeiteten und wissenschaftsgeschichtlich verorteten Ernährungsexperiment können mit der Thematisierung von „pissen“ und „Niesen“ zentrale physiologische Debatten der Zeit kontextualisiert werden. Zum einen geht es in der Diskussion über das Urinieren in der Szene „Woyzeck. Der Doctor“ um das Zusammenspiel von vegetativem und animalem Nervensystem, das auch in der zeitgenössischen Wissenschaft an den Ausscheidungsfunktionen verhandelt wird. Ist der Kopf oder der Unterleib, der Wille oder der Vagus das Tonangebende? Zum anderen wird mit dem Niesen die gerade erst begriffliche erfasste Reflextätigkeit angesprochen. Beide Aspekte, das in vegetatives und animales differenzierte Nervensystem und ein über das Gehirn vermittelter Reflex, gehören in den Entdeckungszusammenhang des Reflexbogens in der 30er Jahren des 19. Jahrhunderts und damit zur folgenschwersten anthropologischen Neuerung dieses Jahrhunderts, insofern der Mensch nun verstärkt in seinen unwillkürlichen, unbewussten Bewegungen und in seinen Umweltbezügen wahrgenommen wird. Die Wissenschaftskritik in Büchners „Woyzeck“ setzt damit bei den menschlichen Grundfunktionen des Lebens: Essen, Ausscheiden und Abwehr (Niesen) an und führt so die Auswirkungen moderner wissenschaftlicher Wahrnehmung im Alltag vor.

Dramatische Lehre vom ganzen Menschen

Rezeptionsästhetisch lässt sich Georg Büchners neue Anthropologie auf der dramatischen Bühne zweifach auswerten: Polemisch im Hinblick auf die Tragödientradition, insofern die einfachsten menschlichen Verrichtungen Gegenstand dramatischer Dialoge werden; demokratisch im Hinblick auf Verstehbarkeit und den Rezipientenkreis. So sind die menschlichen Grundfunktionen „pissen“ und „Niesen“ jedem verständlich und sie indizieren dem wissenschaftlichen Experten jedoch zugleich zeitgenössische Grundlagenforschung.

Georg Büchners „Woyzeck“ bringt das Individuum in seinen Umweltbezügen auf eine literarisch ganz neue Weise auf die Bühne, denn seine dramatische Lehre vom ganzen Menschen verschränkt konsequent Natur- und Kulturprozesse. Die leibseelische Existenz des Menschen ist der Ort dieses Umschlags von Kultur in Natur und umgekehrt. Genauer gesagt werden wechselseitig natürliche Vorgänge in ihrer diskursiven Strukturiertheit gezeigt und Kultur wird auf ihre materielle, natürliche Basis zurückgeführt. Ernährung und Ausscheidung unterliegen in der Versuchsanordnung des Doktors einer vertraglichen Regelung und kommen im Drama insgesamt in ihrer Abhängigkeit von Physiologie, Psychiatrie und Forensik zur Darstellung. Fragen der Willensfreiheit und der Moral werden an leibseelische Ausdrucksakte und die Subsistenz rückgebunden. Die grundlegendsten physiologischen Austauschprozesse rücken ins Zentrum der dramatischen Handlung und bilden den brüchigen Boden für die höherstufigen leibseelischer Kommunikation. In diesem Vorgang einer Re-Naturierung der Kultur wird das Menschsein auf die grundlegendsten Lebensvollzüge zurückgeführt: Essen und Trinken, Sexualität und Fortpflanzung, leibseelische Ausdrucksakte und Abwehrmechanismen. Ästhetik erscheint wieder als Fundamentallehre sinnlicher Wahrnehmung: Hören, Sehen, Riechen, Tasten und Schmecken erlangen in „Woyzeck“ außergewöhnliche dramatische Präsenz. Die naturwissenschaftlichen Methoden werden in Büchners Drama nicht nur einer scharfen Kritik ausgesetzt, sondern sie finden ihre Umsetzung auch in einer „literarischen Physiologie“.

Die verspätete Publikation von Büchners Drama – entstanden in den Jahren 1836/37, wurde es erst 1875 und 1878 in Zeitschriften, 1880 in einer Gesamtausgabe von Büchners Werken aus dem Nachlass von Karl Emil Franzos ediert – hat den Text aus diesen historisch-diskursiven Verbindungen herausgelöst. Der Fall Woyzeck war in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bereits so weit in Vergessenheit geraten, dass das Dramenfragment aufgrund des schwer entzifferbaren Figurennamens zunächst unter „Wozzeck“ reüssierte. Den Bezug zum historischen Fall Woyzeck hat Hugo Bieber erst 1914 hergestellt. Büchners Drama als ästhetischer Kommentar zu den Entwicklungen in Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft, Militär und Justiz – diese zeitgenössische Aufnahme blieb dem Text verwehrt.

[1] Ausführlich hierzu siehe Marion Schmaus: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936). Tübingen 2009, worauf sich auch der folgende Beitrag stützt.

[2] Siehe Johann Christian August Heinroth: Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift: War der am 27. August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder J. C. Woyzeck zurechnungsfähig? Leipzig 1825.

[3] Georg Büchner: Woyzeck. Text. Marburger Ausgabe Bd. 7.1. Hrsg. von Burghard Dedner und Gerald Funk. Darmstadt 2005; Büchner, Georg: Woyzeck. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Marburger Ausgabe Bd. 7.2. Hrsg. von Burghard Dedner. Darmstadt 2005. Die Büchner-Zitate folgen ansonsten der Ausgabe: Büchner, Georg: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann. Frankfurt/M. 2002.

[4] Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2000.

[5] Siehe hierzu Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004.