Sibirische Reise

Roman Widders Debüterzählung „Ibissur“ nähert sich einem absurden Bildungsroman an

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Osman habe den Finger immer ein wenig zu stark auf das Werkzeug gedrückt, um sein Herz besser zu spüren. Er habe auch den Schmerz gemocht, wenn er abrutschte und die ungeschützte Haut traf, erzählt Tschepucha“ – so, in indirekter Rede, in Distanzierung von der Aussage, Abstand von der Sprache und zugleich in behaupteter Nähe zum Leib beginnt „Ibissur“, der faszinierende Debütroman des jungen Berliner Autors Roman Widder. Der Protagonist und Ich-Erzähler, der Spielzeugbauer Osman, begibt sich mit zwei Begleitern – Tschepucha, der ihm als Übersetzer und Hobbyethnologie dient, sowie Nastja, einer einarmigen Kindsfrau, die die beiden mitnahmen, weil sie verloren wirkte – auf eine Stationenreise durch Sibirien. Durchquert werden die Lebens- und Siedlungsräume halb vergessener, Durchschnittseuropäern gänzlich unbekannter Völker und ehemals der Sowjetunion strategisch wichtige, nunmehr funktionslos gewordene Städte. Das Ziel in der Ferne: eine marode Fischfabrik unweit der Mündung des Flusses Amur, die Tschepucha zusammen mit Osman wieder in Betrieb nehmen will.

So weit der Plot und die an Beckett erinnernde Figurenkonstellation. Dass, einer Reiseerzählung angemessen, der Weg wichtiger als das Ziel, die Sibirienreise relevanter als die Fischfabrik ist, macht der Roman schnell klar. Aber auch die Landschaften – von dem analeptisch nachgetragenen Aufenthalt in Armenien über die Durchquerung der Siedlungsgebiete der Ostjaken, Samojeden, Mansen, Tschuwaschen, Chakassen, Tungusen und anderer – sind zweitrangig. Was für die Motivation des Protagonisten – und für die faszinierende Wirkung des Romans – entscheidend ist, ist nicht die Landschaft als ästhetische Erfahrung. Widders ‚Held’ begeht die Reise nicht, um – mit Joachim Ritter gesprochen – in „‘freier’ genießender Anschauung […] als er selbst“ zu sein. Und wenn doch, dann nur in dem Sinne, in dem die ästhetische Erfahrung der sibirischen Landschaft – und das heißt in Widders Sibirien vor allem: des Unscheinbaren, des Verschwindenden, des Prekären – als ekstatische Erfahrung des Subjekts verstanden werden kann. Außer-sich sind die Figuren des Romans allesamt, und das geben schon ihre Namen – oder ihre Namenlosigkeiten – vor: Sei es Osman, der eigentlich gar nicht Osman heißt, dem aber von Tschepucha attestiert wird, das Vergessen seines ersten Namens sei „das Einzige, was er in den letzten Monaten erreicht habe“, oder Tschepucha selbst, der von Osman gerne „Maltritz“ genannt wird. Oder aber die dritte im Bunde, der der Name „Nastja“ – gar „Anastasja Emeljanova Kostikova“ – von Osman und Tschepucha gegeben wurde, deren ‚wahren’ Namen sie aber nicht kennen. Nastja, das einarmige Mädchen, trägt die Entfernung von sich selbst noch im fremdgegebenen Namen, der im Russischen an den Knochen – ‚kost’ – und die Emaille – ‚emal’ – erinnert, und sie damit dem Mechanischen, Anorganischen näher als dem Menschen bringt.

Lauter fremd- und falschbenannte Protagonisten also, denen diese Anonymität scheinbar gerade recht ist – ist doch gerade Osman, so Tschepucha in einer seiner indirekt wiedergegebenen Reden, von einem Gefühl des Verschwindens, der Leere bestimmt. Diese auszuleben, bietet sich der sogenannte „Osten“ – und erst recht Sibirien – geradezu an. Vergleichbar mit Andrzej Stasiuks und Juri Andruchowytschs Erforschungen des „verschwindenden“ Mitteleuropas bildet auch hier das der Repräsentation sich Entziehende, aus der Geschichte Gefallene einen Faszinationspunkt. Wo aber Stasiuk gerne über die Landkarte – Paradigma geopolitischer Repräsentation – und ihre Löchrigkeit meditiert, stehen bei Widder die Namen, das heißt: die Fragen nach dem Signifikat. Es sind so beispielsweise die „aussterbenden“, in ihrer Kultur und Identität vom Verschwinden begriffenen Völker Sibiriens, die dem Leser zum Faszinosum werden. Nicht nur aufgrund der Fremdheit – dem zumeist fehlenden Wissen zur geographischen, sprachlichen, politischen Lokalisierung – der Völkernamen, sondern auch aufgrund der über sie getroffenen Aussagen. So heißt es über „eine Art Hospiz“, das Osman und seine Begleiter auf ihrer Reise besuchen, hier seien „Reste der antiken Urbevölkerung des Landes“ versammelt, in einer „Arche zum friedlichen gemeinsamen Verlöschen“. Der Roman agiert die Privation, Reduktion und das Verschwinden, das Bedeutungslos-Werden der Namen und Sprachen aus; der eigenen Identität, wie bei Osman, aber ebenso der „Sprachheimat“ – wie bei Nastja, deren Sprache von niemandem verstanden wird, die in der Leere des Raumes verloren scheint. Auch die eurozentrische Gegenreaktion gegen diese radikale Fremdheit – also die Tradition ‚wissenschaftlicher’, ethnographischer Studien zu den Völkern – findet Eingang in den Roman: Es ist der „Freizeitethnograph“ Tschepucha, der aus obskuren (aber faktisch vorhandenen) Berichten von Sibirienreisen zitiert, verfasst von Autoren, die – so der Erzähler – „niemand kennt und die vielleicht auch gar nicht existieren.“ Dass der Roman diese Zitate als Zitate markiert, reproduziert und blockiert zugleich tradierte Topoi über das Land und seine Bewohner, verhindert somit die neokolonialistischen Züge eines Andrzej Stasiuk – und gibt damit aber auch einem anderen Topos, dem der Sprachlosigkeit, Raum; der Konnex von Reisen, Wissen und Macht wird vorgeführt und als ebensolcher markiert, verfällt dem in „Ibissur“ durchgehend thematisierten prekären Status von Aussage und Aussagesubjekt.

Anonymität, (partiell) scheiternde Semiose, ins Unbenennbare, ins Halluzinatorische driftende Aisthesis – gestaltet „Ibissur“ das „Unwahrnehmbar-, Unpersönlich- und Ununterscheidbar-Werden“ aus, jene „Tugenden“, die Gilles Deleuze und Félix Guattari preisten? Dass für Osman die Reise letztlich im ‚Wiederfinden’ seines Namens endet, gibt dem Roman retrospektiv einen Zug hin zum Bildungsroman, wenn auch zu einem radikal reduzierten, ans Existenzialistische – wenn nicht Absurde – grenzenden Bildungsroman.

Titelbild

Roman Widder: Ibissur. Erzählung.
Diaphanes Verlag, Zürich 2013.
140 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783037343203

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