Einer, der dem Boden nicht traut

Barbara Wiedemann begleitet den Dichter Paul Celan durch Württemberg

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für seinen schwäbischen Dichterfreund Hermann Lenz war der 1920 in Cernowitz/Bukowina geborene Lyriker Paul Celan „einer, der dem Boden nicht traut“. Mit seinen Gedichten schuf der Holocaust-Überlebende Celan daher einen ganz eigenen Sprachraum, der vielfach als hermetisch verstanden wird.

Umso interessanter ist es deshalb, wenn dem Unbehausten nunmehr eine Untersuchung gewidmet wird, die territoriale Bezüge herstellt: „Ein Faible für Tübingen. Paul Celan in Württemberg“. Die Autorin Barbara Wiedemann ist eine ausgewiesene und verdienstvolle Celan-Forscherin. Sie hat zahlreiche Briefwechsel des Dichters ediert, zum Beispiel mit Nelly Sachs, Hanne und Hermann Lenz, Gisela Dischner, Heinrich Böll und Paul Schallück, und ihre profunden Kenntnisse in die vorliegende Studie eingebracht. Was zunächst wie ein regionales Thema erscheint, weitet sich gerade in der lokalen Begrenzung exemplarisch zu einem spannenden Stück deutscher Literaturgeschichte. Intime Ortskenntnisse, der Einblick in die lokale Presse und die Befragung von Zeitzeugen ermöglichen neben der Sichtung des in Marbach lagernden Nachlasses ein anschauliches Bild davon, wie der 1952 zum ersten Mal, von Paris kommend, ins Nachkriegsdeutschland reisende Dichter dort wirkte und empfangen wurde. Stuttgart war der Standort von Celans erstem Verlag, der Deutschen Verlagsanstalt. Hier wohnte er regelmäßig bei den Freunden Hanne und Hermann Lenz. Mehrfach las er in Tübingen, wo Walter Jens und Hans Mayer lebten, wohin ihn aber vor allem Friedrich Hölderlin zog, der zahlreiche Spuren in Celans Werk hinterlassen hat („Tübingen, Jänner“). Nach einem rasch aufgegebenen Versuch mit Rumänisch hatte sich der junge Celan dafür entschieden, seine Gedichte in seiner Muttersprache Deutsch zu verfassen, die zugleich auch die Sprache der Mörder seiner Eltern war. Obwohl er also in Deutschland seine Leserschaft erwartete, fürchtete er auch, dort auf die Täter zu treffen. Diese Furcht war nicht unbegründet. Wiedemann weist nach, wie Celan im Adenauerstaat überall, eben auch in Württemberg, auf die Spuren einer keineswegs bewältigten Vergangenheit stieß, welchen antisemitischen Zumutungen er ausgesetzt war und wie viele etwa derjenigen, denen er die Hand schüttelte, 1933 das „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ für Adolf Hitler unterschrieben hatten, wie etwa sein Stuttgarter Förderer Hermann Kasack. So kann Wiedemann durch ihre genaue Recherche vor Ort und durch ihre Sensibilität für Unter- und Zwischentöne manche Legende der Erinnerungsliteratur widerlegen, auch die von der ‚Überempfindlichkeit‘ des traumatisierten Dichters, der schließlich 1970 den Tod in der Seine suchte. Sie erkundet anhand neuerer Quellen Celans Rolle bei seinem Auftritt vor der Gruppe 47 in Niendorf und seine Position im unseligen Plagiat-Streit mit Claire Goll. Die unsichere Faktenlage zur Frage, was der Dichter bei seinen Besuchen gelesen und gesehen haben mag, ergänzt sie durch eine überzeugende Auflistung von Möglichkeiten.

Über die biografische Spurensuche hinaus enthüllt die Autorin auch viele Einflüsse auf Celans Dichtung, die sich direkt aus lokalen Begegnungen ergeben, etwa das Sprechgitter des ehemaligen Klarissen-Klosters in Pfullingen, das Celan zu seinem Gedicht „Sprachgitter“ inspirierte. Zu seiner ersten Lesung in Württemberg hatte ihn sein Verleger nach Stuttgart gebeten. Dort las der bislang unbekannte Dichter vor rund 20 geladenen Gästen in der Villa des Verlegers. Dieser bot ihm, das ermittelt Wiedemann aus den Verlagsunterlagen, anschließend für den Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ pro Buch 20 Pfennige, so viel „wie ein Ortsgespräch aus der Bahnhofstelefonzelle“ kostete. Zur letzten Lesung des Büchner-Preisträgers von 1960 kamen in das Auditorium Maximum der Tübinger Universität 400 Besucher. Trotzdem saß Celan 1968 bereits zwischen allen Stühlen beziehungsweise quer zu den Lagern des Literaturbetriebs. Denn im Zeitalter einer forciert engagierten und einer modernistisch konkreten Literatur sah sich seine reine Poesie, die er jedoch keineswegs als weltabgewandt verstand, zunehmendem Unverständnis ausgesetzt. Daneben vollzog sich der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der NPD in den deutschen Landesparlamenten. Vielleicht waren dies Gründe, weshalb er nun endgültig den Boden unter den Füßen verlor.

Dem Pfullinger Verleger Günther Neske schlug Celan die Bitte um einen Verlagswechsel nach einigem Überlegen ab, weil dieser auch Martin Heidegger veröffentlichte. Später kam es gleichwohl zu einer Begegnung mit dem Philosophen, die hier, wie ebenso die wechselvolle Verlagsgeschichte Celans, nur am Rande erwähnt wird.

Titelbild

Barbara Wiedemann: "Ein Faible für Tübingen". Paul Celan in Württemberg. Deutschland und Paul Celan.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2013.
292 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783863510725

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