Eine menschliche Beziehung zu seinem Gegenstand

Eine Biografie stellt Egon Friedell vor

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er wusste, dass er auf der Liste stand. Als Jude und als „Asphaltliterat“ wollten ihn die Nazis abholen und ins KZ sperren. Oder schlimmeres. Aber noch im Tod wahrte er Stil: Als Hitler in Wien einmarschierte und die Wiener ihn mit tosendem Jubel empfingen, stürzte sich Egon Friedell vier Tage nach dem Einmarsch, am 16. März 1938, aus dem Fenster in den Tod – aber nicht, ohne die Passanten unten auf der Straße gewarnt zu haben: „Bitt schön, gehn’s zur Seite“. Eine hübsche Anekdote, die Friedell sich selbst hätte ausdenken können.

Zu seiner Zeit war Friedell (1878-1938) ein Bestsellerautor, aber auch ein beliebter Kabarettist und begnadeter Schauspieler. Dem Beck-Verlag ist es zu verdanken, dass seine „Kulturgeschichte der Neuzeit“ auch nach dem Krieg wieder aufgelegt wurde, nach der ersten Auflage beim selben Verlag im Jahr 1927. Es ist noch heute wenigstens ein Longseller, obwohl Friedells Geschichtstheorie konservativ ist und nicht wenig umstritten: „Unser Werk machte den Versuch, einen geistig-sittlichen Bilderbogen, eine seelische Kostümgeschichte der letzten sechs Jahrhunderte zu entwerfen und zugleich die platonische Idee jedes Zeitalters zu zeigen, den Gedanken, der es innerlich trieb und bewegte, der seine Seele war.“ Die platonische Idee – das klingt sehr hochgestochen und sogar pathetisch.

Vor allem das Genie feiert Friedell: „Die Genies sind die wenigen Menschen in jedem Zeitalter, die reden können. Die anderen sind stumm, oder sie stammeln. Ohne sie wüssten wir nichts von vergangenen Zeiten: wir hätten bloß fremde Hieroglyphen, die uns verwirren und enttäuschen. Damit ein Abschnitt der menschlichen Geistesgeschichte in einem haltbaren Bild fortlebe: dazu scheint immer nur ein einziger Mensch nötig zu sein, aber dieser eine ist unerlässlich. […] Denn die großen Männer sind zu unserem Leben notwendig, damit die weltgeschichtliche Bewegung sich periodisch und ruckweise frei mache von bloßen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz.“

Friedell war beim Publikum allerdings auch deswegen so erfolgreich, weil er stets anschaulich und beinahe feuilletonistisch blieb. Betont subjektiv und sogar anekdotisch, was die Historiker mit Schaudern abwenden lässt, dem Normalleser aber die behandelten Epochen derart lebendig vor Augen stellt, dass er sie nicht mehr so schnell vergessen sollte. Und auch Friedells oft en passant eingestreute Boshaftigkeiten, sein trockener Witz, seine enorme Belesenheit und der angenehme Stil lassen seine „Kulturgeschichte“ immer noch sehr lesbar erscheinen.

Eine Biografie über ihn ist 1994 in Bozen erschienen, jetzt, im Todesgedenkjahr gibt es eine neue vom Literaturwissenschaftler und -kritiker Bernhard Viel, die mit dem Untertitel „Der geniale Dilettant“ die gefährdete Existenz dieses Wiener Workaholics genau einfängt. Leider hält sie sich ein bisschen zu sehr mit etwas oberflächlichen psychologischen Interpretationen auf und ärgert vor allem am Anfang mit sehr ausufernden und stilistisch nicht immer gelungenen Beschreibungen der Autoren des „Jung Wien“ wie Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg, Felix Salten – warum zum Beispiel taucht der Name des Autoren immer erst am Schluss einer manchmal zweiseitenlangen Beschreibung des Schriftstellers auf – ist das ein Ratespiel?

Auch der Versuch, das berühmte Stück um Johann Wolfgang Goethe mit Friedells Schulzeit zu verknüpfen, ist misslungen, zu gezwungen, zu sehr an den Haaren herbeigezogen: Während Friedell vor sich hinträumt und später der Schule verwiesen wird, fällt Goethe in einer Deutschprüfung über sein Leben und sein Werk mit Applomb durch, weil er zum einen meint, das eine oder andere Detail sei doch nicht so wichtig, zum anderen, es sei doch indiskret, nach seinen Beziehungen zu den Frauen zu fragen, zum dritten, er habe die Fortsetzung des „Wilhelm Meister“ geschrieben, weil er doch den Vorschuss schon bekommen habe, bis dem Dichterfürsten der Kragen platzt: „Jetzt werd mersch awwer zu dumm! Erst frache Se mich Sache, die koi Mensch wisse kann und die ganz wurscht sinn, nachher erzähle Se mir’n Blödsinn übern Tasso, dann mache Se mer de ‚Farwelehr‘ schlecht, dann wolle Se iwwer die Weiwer Sache wisse, die Ihne en Dreck angehn… Da muss ich schon de Götz zitiere: Ihr könnt mich alle miteinander…“ Ein witzige Idee und ein sehr erfolgreiches Stück, das Friedell mit Alfred Polgar zusammen schrieb. Aber die Verknüpfung, die Viel versucht, läuft im ersten Kapitel eines Buches über Friedells Leben doch ins Leere.

Erst danach kommt die Hauptsache: Friedells Leben, seine Schulbesuche in Wien, Horn, Baden, Heidelberg, Frankfurt, Berlin und Bad Hersfeld. Viermal versuchte er, das Abitur zu machen. 1899 begann er in Heidelberg zu studieren und machte nach nur fünf Jahren, mit 26, seinen Doktor der Philosophie über „Novalis als Philosoph“, von dem er sich sein Lebensprogramm auslieh, „dass jeder Mensch der Dichter seiner eigenen Biographie ist, die meisten unbewusst, einem instinktiven Bildungstrieb folgend, etwa in der Art, wie eine Alge sich ihre Kieselgehäuse baut, der geniale Mensch bewusst. Unsere Erlebnisse und Handlungen sind gleichsam Sekrete unseres Willens, unseres intelligibeln Ichs, unserer Seele, die als die einzige wahre Realität geheimnisvoll schöpferisch hinter unserem sichtbaren Leben thront.“

Ab hier jedenfalls trägt der Biograf sehr viel Material zusammen, erzählt von Friedells zerrissenen Persönlichkeit, versucht vieles aus seiner jüdischen Herkunft herzuleiten und den Traumata seiner Kindheit (die Mutter verließ die Familie für einen Liebhaber, als er 3 Jahre alt war), was ihm aber nicht immer stringent gelingt, weil er doch zu oberflächlich bleibt: „Das war ein Lebenstrauma. Er hat das seiner Mutter nie verziehen und wollte sie auch nie wieder sehen, was er dann auch durchgezogen hat. Das hat sich natürlich auf sein Verhältnis zu Frauen ausgewirkt und hat sein ganzes Leben durchtränkt. […] Interessiert ihn eine Frau, muss er sie immer ein bisschen niedermachen, aus Angst, sie zu nahe an sich heranzulassen. Er hatte richtig Berührungsangst.“

Insgesamt macht Viel in vielen Details die Person Friedells sehr lebendig, stellt die verschiedenen Facetten als Autor und Journalist, Kabarettist, Regisseur, Dramatiker (beides unter anderem am Burgtheater) und Schauspieler vor, der so gebildet war (und frech), dass er in einer Aufführung auf Max Reinhardts Schloss Leopoldskron (zu dessen Schauspieltruppe er zeitweise gehörte) den berühmten Schauspieler Max Pallenberg als Molières „Eingebildeter Kranke“ damit durcheinander brachte, dass er in seiner Rolle als Arzt griechisch und lateinisch improvisierte.

Von seinem Vater hatte Friedell ein Vermögen geerbt, von dem er bis zur Inflation nach dem Ersten Weltkrieg gut leben konnte. Aber eine Unikarriere strebte er nie an. Sein Ideal war der freie Gelehrte, und 1906 ging er, schrecklich für die Doktorenzunft, zum Kabarett. Seine ersten Schritte endeten mit einem Hinauswurf, sein zweiter Anlauf ein Jahr später war erfolgreicher: „Fritz Wärndorfer, ein geistreicher Gentleman mit sehr viel Geld und Geschmack – zwei Dinge, die bekanntlich fast nie beisammen sind – kam auf den Gedanken, durch die Wiener Werkstätte ein Kabarett bauen zu lassen… Nie hat es ein farbigeres und beschwingteres, kapriziöseres und originelleres Kabarett gegeben als die ‚Fledermaus‘ und nirgends bessere Weine als die in der Bar.“ Leider hielt auch die „Fledermaus“ nicht lange.

Sein Witz kommt in vielen Feuilletons vor und macht auch vor sich selbst nicht halt. So schrieb er einmal über seine eigene Kritikertätigkeit: „Ein hervorragender Kritiker muss vor allem drei Eigenschaften besitzen: er muss erstens unfehlbar, zweitens originell und drittens gediegen sein. […] Was die Beurteilung schauspielerischer Leistungen anlangt, so mache man es sich zur Richtschnur, dass man alles über alles sagen kann. Jedes Prädikat ist anwendbar, man muss es nur mit der nötigen Selbstverständlichkeit bringen. Denn es gibt da doch nur zwei Fälle: entweder das Prädikat stimmt oder es stimmt nicht. Stimmt es, so ist es gut, stimmt es aber nicht, so ist es noch viel besser, denn dann wirft es ein ganz neuartiges Licht auf den Gegenstand. […] Man schlage eine beliebige Seite irgend eines Spezialwerks auf, zitiere daraus und sage dazu ‚bekanntlich‘. Also zum Beispiel: ‚Karl Moor, der seinen Namen bekanntlich dem Mitschüler Schillers Hans Friedrich Christoph von Mohr verdankt‘ oder ‚Das Stück hat etwas von der subtilen Primitivität der japanischen Nogakuspiele, die bekanntlich in der Ära des ersten Shogun Yoshimasa ihre Blüte erreichten.‘ Am allereinfachsten aber ist es, Originalität zu erzielen: sie besteht nämlich ausschließlich in den Adjektiven. Zu diesem Zwecke ist es empfehlenswert, sich eine Liste seltener Beiwörter anzulegen. Da ich fest entschlossen bin, keine Kritiken mehr zu schreiben, so bin ich gern bereit, meinen eigenen Fundus an einen strebsamen Anfänger billig abzugeben; es befinden sich einige prächtige, noch sehr gut erhaltene Exemplare darunter, zum Beispiel ‚etoiliert‘, ‚hypnoid‘, ‚satiniert‘, ‚luguber‘, ‚endimanchiert‘. Man wird vielleicht glauben, das seien Äußerlichkeiten; aber man bedenke doch einmal, welchen Unterschied es macht, ob ich sage, die Kunst der Duse hat etwas Welkes, oder: sie hat etwas Etoiliertes, Herr Basserman spielt den Philipp in verschwimmenden Umrissen, oder: er spielt ihn ganz sfumato; auf einmal sieht es wie ein Gedanke aus.“

Auch Friedells Konservativismus streift Viel, seine problematische Haltung zum Judentum, das er als zum Christentum Übergetretener kritisierte, seinen Hang zur christlichen Mystik und einem romantisierten Mittelalter, das Friedell als eine wunderbare, weil gottnahe Zeit erschien. Und von daher die gesamte Neuzeit als eine Epoche des Niedergangs. Auch die Wissenschaft überzog Friedell mit seinem beißenden Spott und setzt den Fachidioten eine andere, ihnen überlegene Spezies entgegen: „Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im üblen Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel.“

Titelbild

Bernhard Viel: Egon Friedell. Der geniale Dilettant.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
352 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406638503

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