Bea Nickys echter Tod

„Die Wolfsgrube“ heißt Szilárd Rubins einziger Ausflug ins Krimigenre

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie nennen das Spiel „Mörder und Detektiv“. Zettel werden gezogen, die beiden Rollen verteilt. Dann heißt es „Licht aus“ – und der „Mörder“ sucht sich ein Opfer. Liegt dieses, durch Berührung „ermordet“, irgendwann reglos am Boden, geht das Licht wieder an: Der „Detektiv“ gibt sich zu erkennen und muss nun durch Fragen an die Umstehenden den „Mörder“ ermitteln. Wurde dieser entlarvt, darf in der nächsten Runde er der Detektiv sein. Ein amüsantes Partyspiel also – und ein perfekter Vorwand, um im Dunkeln hemmungslos zu flirten. Nur dass diesmal nach der dritten Partie alles anders ist.

Denn „die junge Frau, die neben der kleinen französischen Kommode lag, war nicht im Spiel gestorben. So, wie sie da lag, mit starrem Blick, nadelspitzengroßen geröteten Äderchen in den glasigen Augen, auf den Lippen der weiße Gebäckschaum, hätte sie den schönsten Applaus nicht mehr gehört. Dieser Tod auf dem Boden des Salons der Dorfvilla war Bea Nickys echter Tod.“

Sechs Männer und vier Frauen sind es, die in Szilárd Rubins erstmals auf Deutsch erschienenen Krimi „Die Wolfsgrube“ in einem Landhaus im ungarischen Pécs zusammenkommen. Die Männer sind alte Schulfreunde, Angehörige des Abiturjahrgangs 1945, und feiern nach fünfzehn Jahren ihr Wiedersehen: Einer ist inzwischen Arzt geworden, ein anderer Apotheker, dann gibt es noch einen Journalisten und einen Schriftsteller.

Die beiden auf den ersten Blick interessantesten Charaktere sind Beke, ein Polizeihauptmann, der in der Spionageabwehr arbeitet und dem, eine klassische déformation professionelle, wie es scheint, nach seiner Ankunft fast alles verdächtig vorkommt: Dass sich etwa die Frau des Arztes Magda Hevesi nennt, obwohl sie doch offensichtlich mit ihrer alten Schulfreundin Emmi Schweller identisch ist. Oder der einst charakteristisch krumme Daumen des sechsten Freundes, Decsi, der nun auffallend gerade erscheint.

Der Biochemiker Decsi mit der frischen Narbe an der Schläfe ist gerade von einem längeren beruflichen Aufenthalt in Schweden zurückgekehrt. Und verblüfft nun die Freunde mit seinen bizarren Detailerinnerungen. Will hier jemand um jeden Preis als „echt“ erscheinen? Nach dem Mord an der Tänzerin beginnt Beke in der Villa, jeden der Anwesenden zu verhören: Alle haben sie, so viel steht schnell fest, etwas zu verbergen. Der Apotheker etwa, der die ganze Zeit glaubte, unheilbar krank zu sein – und sich deshalb mit der von einer England-Tournee zurückgekehrten Balletttänzerin Bea Nicky auf dubiose Geschäfte eingelassen hat. Weshalb seine Frau, auch sie ist bei der Feier anwesend, ein Verhältnis zwischen den beiden unterstellt.

Und dann ist da noch die Frage, wer eigentlich die Idee zu diesem Wiedersehen hatte. Und eine Vielzahl mysteriöser Gegenstände, „MacGuffins“ im Sinne Alfred Hitchcocks, die das „Who dunnit“-Spiel erst so richtig vorantreiben oder den miträtselnden Leser nur auf falsche Fährten locken. Wie das vom Arzt gehüteten Modell-U-Boot aus Schulzeiten. Oder eine Kaminuhr, die im selben Moment verschiedene Uhrzeiten anzuzeigen scheint. Oder der Dominostein auf dem Fußboden, der eine 0 und eine 6 zeigt – eine Nachricht oder ein Erkennungszeichen für einen ausländischen Spion?

Szilárd Rubins Roman – sein einziger Ausflug ins Krimigenre – erschien 1973 unter dem Titel „Mulatság a farkasveremben“; wie sich am Ende erweist, haben sich in den Roman Erfahrungen von Holocaust und Vertreibung ebenso eingeschrieben wie der Ungarnaufstand 1956 und die Dauerparanoia während des Kalten Krieges. Die Werke dieses ungarischen Autors, der 2010 mit 83 Jahren verstarb, erfahren erst seit wenigen Jahren, nicht nur in seinem Heimatland, eine Wiederentdeckung. So wurde seine melancholische „Kurze Geschichte der ewigen Liebe“ (2009 auf Deutsch erschienen) auch in den deutschsprachigen Feuilletons hymnisch gefeiert. „Die Wolfsgrube“ als wiederentdecktes Meisterwerk der Krimi-Geschichte zu bezeichnen wäre wohl übertrieben, gleichwohl bietet diese zugleich aus einem Rendezvous zwischen Agathe Christie und Ian Fleming gezeugte Schöpfung ein fesselndes Lesevergnügen.

Titelbild

Szilárd Rubin: Die Wolfsgrube.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Timea Tankó.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013.
208 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347535

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