Szenen einer Ehe

Louis Begleys neuer Roman über zerrüttete Paarungen aus der besseren amerikanischen Gesellschaft

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viel Erfindung verträgt ein Roman? Bekannt ist Thomas Manns Neugier auf jenen bunten Lebensstoff, aus dem Romane gemacht werden konnten. Gerhart Hauptmann war eines seiner prominenten Opfer. Aus der Beobachtung bei einem gemeinsamen Urlaub im Oktober 1923 in Bozen entstand bekanntlich das mokant-majestätische Porträt des Mynheer Peeperkorn im „Zauberberg“.

In dem neuen Roman des amerikanischen Schriftstellers Louis Begley, der seit dem Debüt mit „Lügen in Zeiten des Krieges“ seine Figuren ebenfalls dem Leben abzusehen pflegt, vorzugsweise dem eigenen, geht es genau um dieses Verhältnis zwischen Roman und Realität. Nicht aber im Sinne eines Schlüsselromans. Begleys Figuren sind Geschöpfe der Fiktion. Aber sie werden auf eine an den großen realistischen Erzählern geschulte Weise auf die Suche nach dem Ursprung des Erzählens geschickt. Es geht um das Schicksal der Einbildungskraft in der Erinnerung.

Der Roman „Erinnerungen an eine Ehe“ spielt, wie seine Vorgänger, in der besseren Gesellschaft an der amerikanischen Ostküste. Die Geburt mit einem goldenen Löffel im Mund ist jedoch keine Garantie für ein glückliches Leben. Das hat der Ich-Erzähler Philip, ein New Yorker Schriftsteller in den Siebzigern mit immer noch respektablen Verkaufszahlen, schmerzlich erfahren. Sein Kind ist von einem herabfallenden Ast im Central Park erschlagen worden, seine Frau nach kurzer Krankheit gestorben. Wir lernen Philip bei einer Ballettaufführung im New York State Theater kennen, als er unversehens in der Pause von Lucy De Bourgh Snow angesprochen wird. Sie ist eine immer noch attraktive, aber rauflustige Frau aus jenen feinen Verhältnissen, die sich darüber beklagen, nur an der zweitschönsten Seite des Central Parks zu wohnen, wo die Morgensonne nicht hinkommt.

In der meisterhaft ausgemalten Eröffnungsszene im Theater zieht Louis Begley alle Register epischen Spannungsaufbaus. Lucy, „munter, redselig und eine Spur zu ungestüm“, hat ein unstillbares Erzählbedürfnis. Der Erzähler begegnet ihr (so hebt etwa die Rezension des Romans von Shirin Sojitrawalla im Deutschlandradio hervor) wie ein Anwalt, der seine Mandantin ausreden lässt, aber ihre Aussagen anhand anderer Zeugen und Indizien überprüft. Erst unwillig, dann interessiert, zuletzt gebannt verfällt Philip ihren Lebenserinnerungen, die mit seiner eigenen Biografie in Frankreich und den USA beruflich wie auch erotisch mehrfach verbunden sind. Kein Wunder, dass er bald den Plan fasst, aus Lucys Erinnerungen einen Roman zu fabrizieren.

Doch das ist gar nicht so einfach. Zwar erzählt die leicht reizbare Dame in schönster chronologischer Ordnung und plaudert mit Sinn für intime Details über ihre Ehe und benachbarte Affären. Aber Philips Berufsethos, das „keine Biographie und keine Reportage“ zulässt, zielt auf eine unabhängige Geschichte.

Zugleich bröckelt das unfreundliche Bild, das Lucy von ihrem Ex-Mann Thomas Snow zeichnet, umso mehr, als Philip Personen aus der näheren Umgebung seiner Stoffquelle befragt – und dabei überrascht feststellt, wie viele Gesichter doch die erzählte Wahrheit hat. So ist Thomas nicht nur der ungehobelte Aufsteiger, der beim Essen die Krawatte ins Hemd stopft, nicht Walzer tanzen kann und die Gans falsch tranchiert, sondern auch ein unglücklicher Glückspilz, ein betrogener Betrüger, der seine Frau zeitweise an einen sadistischen Schweizer Journalisten verliert.

Für die wohlfeile Lehre, dass Erfolg, Geld, gesellschaftliche Stellung nicht über das Glück eines Menschen entscheiden, ist sich Louis Begleys Roman (es ist sein zehnter) zu schade. Es geht um weitaus mehr. Die Erinnerungen an ein Ehedesaster formieren sich zu einer epischen Ethnologie der vermeintlichen Gesellschaftselite. Am Ende finden wir Lucy in Philips Chateau in den Hamptons. Eine späte Beziehung scheint sich nicht gerade anzubahnen. Aber vielleicht eine neue Erzählung, eine nochmals andere Version des erfundenen Lebens. Die Erfindungskraft ist die reichste Gabe des Romanciers. Sie ist ein Phänomen, schreibt Begley, der im Oktober 2013 seinen 80. Geburtstag feierte, in einem seiner Essays, „das Schriftsteller rettet und Philologen frustriert“. In diesem exzellenten Roman kommt die poetische Imagination aufs schönste auf ihre Kosten. Und niemand braucht sich, wie seinerzeit der von Thomas Mann abkonterfeite Gerhart Hauptmann, über die Fiktionen der Erinnerung zu grämen.

Titelbild

Louis Begley: Erinnerungen an eine Ehe.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
222 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423929

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