Doppelbiografie zweier Genies

Thomas de Padova erzählt von Leibniz, Newton und der Technik der Zeitmessung

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas de Padovas Buch über die Jahrhundertgenies Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton ist einerseits eine Parallelbiografie, andererseits eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, in deren Mittelpunkt die Uhr und der Umgang mit der Zeit stehen, und es kann dabei natürlich nicht an der Philosophie des 17. Jahrhunderts und dem Gegensatz von Empirismus und Rationalismus vorbeigehen. Es ist von allem etwas, und das macht die Lektüre trotz der Seriösität der Darstellung spannend und unterhaltend.

„Genial“ ist eine inflationär und oft leichtfertig gebrauchte Vokabel geworden, aber Leibniz und Newton haben angesichts ihrer unfassbaren Intelligenz, der erstaunlichen Vielseitigkeit ihrer Interessen und Forschungen sowie dank der prägenden Kraft ihrer Ideen diese Bezeichnung mehr verdient als fast alle anderen großen Köpfe der letzten tausend Jahre. Wer die Vielfalt ihrer Beschäftigungen an sich vorbeiziehen lässt und bedenkt, welchen ungeheuren Einfluss sie auf unser Denken, ja auf unseren Alltag genommen haben, der kann sie gar nicht genug bewundern. Zeitweise standen sie in einem kollegialen brieflichen Gedankenaustausch, stritten sich aber später, von ihren Gefolgschaften eifrig assistiert, jahrelang und mit steigender Heftigkeit über die Priorität bei der Entdeckung der Infinitesimalrechnung. Selbst vor Verleumdungen und Verdächtigungen schreckten beide Seiten nicht zurück.

De Padova ist ein zurückhaltender und neutraler Berichterstatter, der uns nicht allein diesen Streit, sondern dazu die Lebensumstände seiner beiden Protagonisten und damit auch die Wissenschaftskultur jener Jahre nahebringt. Darüber hinaus gibt er uns Einblicke in viele interessante Fakten über den Alltag in der Mitte und am Ende des 17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht eigentlich immer die Weiterentwicklung der Uhr, die für die Messungen der klassischen Mechanik, aber auch für Ortsbestimmungen auf See – es war das Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen – von enormer Bedeutung war. Zunehmend wurde sie auch wichtig für die Gestaltung des Tages wie für den Arbeitslohn, denn erst jetzt begann der Arbeitgeber, die Arbeitsstunden seiner Bediensteten mit einer Uhr zu messen – und das geschah natürlich nicht zu deren Gunsten. So wurde die Uhr zur Schlüsseltechnik der Zeit und veränderte auf nahezu allen Gebieten das tägliche Leben. Als Taschenuhren Minutenzeiger bekamen, war es wahrscheinlich nicht allein Imponiergehabe, das ihre Besitzer förmlich dazu zwang, immer wieder die Uhr aus der Tasche zu ziehen und einen Blick auf das Zifferblatt zu werfen (bis heute sagt man „watch“ und nicht etwa „clock“ zu einer tragbaren Uhr), sondern vor allem auch die Faszination durch die Technik.

De Padova stellt die Mechanik der Uhr ganz in den Mittelpunkt seines Buches und geht ausführlich auf die Probleme ein, ihre Genauigkeit immer weiter zu steigern. Wer zum Beispiel auf hoher See seine Position mit Hilfe einer Uhr bestimmen wollte (gemessen werden sollte die Differenz zwischen der Tageszeit im Heimathafen und der Bordzeit), der musste auf ein enorm präzises Instrument zurückgreifen können, das sich auch von heftigem Seegang nicht irritieren ließ, und es dauerte lange, bis die Uhrmacher den Ansprüchen der Nautiker genügen konnten. Von der gesteigerten Präzision profitierten auch Newtons astronomische Arbeiten, und Leibniz ließ sich von Uhrmachern bei dem Bau verschiedener Rechenmaschinen assistieren, mit denen er vor den Akademien in Paris und London glänzte. Aber so interessant dieser Aspekt auch sein mag, und so sehr die Uhrenmetaphorik das Weltverständnis der Zeit auch beeinflusste (selbst Gott wurde zum Uhrmacher), noch größeren Einfluss hat wohl die Erfindung der Infinitesimalrechnung auf das Denken der Europäer ausgeübt. Ohne sie gäbe es weder die moderne Physik noch die Dominanz des gradualistischen Denkens, der Vorstellung also, dass es überall allerkleinste, nicht mehr messbare Unterschiede seien, in denen sich jede Bewegung und Veränderung vollzieht. Die Natur erlaubt keine Sprünge – das ist bis heute ein Grundgesetz unseres Naturbildes.

Es ist etwas schade, dass de Padova zwar immer wieder auf die historischen Interessen und diplomatischen Aufgaben des Deutschen, nicht aber auf die Bibelforschungen des Engländers eingeht. Diese mögen ja obskur gewesen sein, aber dennoch wäre es interessant, sowohl etwas über die Motive als auch über die Methoden und Ergebnisse von Newtons Forschungen zu erfahren.

Das Buch ist in einem angenehmen, sachlichen und trotzdem lebendigen Deutsch verfasst. Aber auf eine auffällige Schwäche muss trotzdem hingewiesen werden: Offenbar ist sowohl dem Autor als auch den Lektoren des Verlages der Unterschied zwischen indirekter Rede und Irrealis unbekannt. Passagen wie die folgende sind dafür typisch: „Anstelle der leibnizschen Differenzen hätte Newton, und hätte ‚immer schon’, Fluxionen verwendet. Diese habe er sowohl in seinen Principia als auch in seinen späteren Publikationen elegant eingesetzt.“ Der immer wieder unmotivierte Wechsel zwischen „hätte“ und „habe“ bzw. „wäre“ und „sei“ ist unverständlich in einem sonst so anspruchsvollen Buch und überaus störend, wenn so viele Briefe, Reden oder Bücher referiert werden müssen.

Titelbild

Thomas de Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit.
Piper Verlag, München 2013.
320 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054836

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