Panoramen der Durchgangsstationen

Ulrike Zitzelspergers Studie „Topografien des Transits“

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast folgerichtig schließt Ulrike Zitzelspergers Buch zur „Fiktionalisierung von Bahnhöfen, Hotels und Cafés im zwanzigsten Jahrhundert“ mit einem Nachwort, in dessen Zentrum der 2006 eröffnete Hauptbahnhof in Berlin steht. Denn letzterer ist tatsächlich nicht mehr als ein gläserner und untertunnelter Ort des Durchgangs, der diese rastlose Bewegung durch seine Unwirtlichkeit noch zusehends befördert. Zwar bemüht sich die Autorin, kritische Einschätzungen des Glas-Stahl-Baus am Humboldthafen einzubeziehen, doch fällt ihr Fazit – wenn auch etwas enigmatisch-allgemein – uneingeschränkt zugunsten des Gebäudes und seiner vermeintlichen metonymischen Funktion aus. Der Berliner Hauptbahnhof setze „neue Zeichen“ und gewährleiste „die Kontinuität vertrauter und prinzipieller Zusammenhänge.“

Diesen Abschluss fomuliert Zitzelsperger ganz am Ende der durch Aufnahmen der Autorin illustrierten Studie. Sie klassifiziert Bahnhöfe, Hotels und Cafés als „halböffentliche Räume“ und untersucht sie als konstante Orte, auf die sich (auch epochal) differente Fiktionalisierungen beziehen. Die Fokussierung der drei betrachteten Topografien unter dem Stichwort „halböffentlicher Raum“ erscheint plausibel. Allerdings wird nicht erläutert, weshalb gerade diese drei ins Zentrum gestellt wurden. Zweifellos hätten die drei durch den Einbezug weiterer Räume heterotopischer Qualität (etwa Bibliothek, Schwimmbad, Friedhof oder ähnliche) ergänzt und kontrastiert werden können. Die angewandten Kriterien wären dabei in ähnlicher Weise gültig und es fänden sich fraglos auch eine Reihe zu untersuchender Texte.

Abgesehen davon aber bietet Zitzelspergers Studie ein reichhaltiges Panorama von bedeutsamen Orten und fiktionalisierten Topografien, die die Autorin immer wieder aus der Vielzahl von literarischen, sachliterarischen oder historischen Einzelbeispielen herauszuarbeiten versteht. Sie zeigt auf, wie diese Orte in den von ihr ausgewählten Texten zu historischen Kristallisationspunkten und zu Gedächtnisorten werden. Diesen zwei Konzepten folgt die Untersuchung hauptsächlich. Dies befördert nachhaltig auch ihre Struktur.

Eine Einführung expliziert die möglichen Bedeutungen von (speziellen) Räumen und Orten, die als ‚halböffentlich‘ charakterisiert werden. Darauf folgen zwei umfängliche Kapitel „Geschichtsräume“ und „Erinnerungs- und Konfrontationsräume“, die in historischen beziehungsweise motivischen Längsschnitten das jeweilige Konzept anhand zahlreicher Text- und Filmbeispiele erläutern und vorführen. Zitzelspergers gut lesbares Buch konzentriert sich dabei beinahe ausschließlich auf Orte im (westlichen) Mitteleuropa, eine Ausnahme ist das Hotel Lux in Moskau. Der Band formuliert damit vielleicht indirekt auch die Aufforderung, ähnliche Überlegungen mit Blick auf ostmitteleuropäische Raumkonstellationen auszuweiten. Material gäbe es mehr als genug.

Den größten Teil der Studie nehmen Analysen der Topografie Bahnhof und ihrer fiktionalisierten Darstellungen ein, die, wie auch im Falle der Hotels und Cafés, durch Überlegungen zu stadt-, architektur- und zum Teil regionalgeschichtlichen Texten flankiert werden. Die Verkehrsgeschichte Berlins bildet dabei immer wieder einen der Hauptbezugspunkte, besitzt exemplarische Bedeutung in Zitzelspergers Untersuchung. Dies trifft besonders auch für den Anhalter Bahnhof zu, dessen städtebaulich fataler Abriss etwas zu leichtfertig allein mit der Teilung Berlins begründet wird.

Störend sind Ungenauigkeiten, gerade mit Bezug auf den Untersuchungsgegenstand Bahnhof – der Tränenpalast am Bahnhof Berlin Friedrichstraße war nicht für Ein- und Ausreise bestimmt, sondern nur für die Ausreise aus Ostberlin, daher der Name des Gebäudes – oder sachliche Fehler: Der U-Bahnhof Potsdamer Platz war bis zu seiner Wiedereröffnung 1993 vollständig geschlossen. Ein Geisterbahnhof, der von Zügen der Westberliner S-Bahn ohne Halt durchfahren wurde, war hingegen der S-Bahnhof Potsdamer Platz. Ähnliches gilt auch für die Aussage, „der Umbau des Hauptbahnhofs in Leipzig wurde – nachdem man den Neubau von Bahnhöfen in der DDR vernachlässigte – auch […] als Erfolg empfunden, weil der Vergleich (und die Konkurrenz) mit dem Hauptbahnhof Frankfurt möglich blieb.“ Zum einen hat es in der DDR sehr wohl eine Reihe von Bahnhofsneubauten gegeben, etwa Berlin-Lichtenberg, Zentralflughafen Berlin-Schönefeld, Potsdam Hauptbahnhof oder Berlin Hauptbahnhof (ehemals Ostbahnhof, nur Empfangsgebäude) oder Bahnhof Cottbus, der Hauptbahnhof Chemnitz (seinerzeit Karl-Marx-Stadt). Zum anderen hat der durchaus umstrittene Tunnelbau in Leipzig nichts mit einem konstruierten Konkurrenzverhältnis zu Frankfurt/Main zu tun.

Zitzelspergers Band aber erreicht zweifellos sein Ziel. Denn er beschreibt die betrachteten Orte pointiert in der Vorstellung eines Nacheinander und erweist in diesem Zuschnitt den fiktionalen Eigen- und Stellenwert von Bahnhof, Hotel und Café.

Titelbild

Ulrike Zitzlsperger: Topografien des Transits. Die Fiktionalisierung von Bahnhöfen, Hotels und Cafés im zwanzigsten Jahrhundert.
Peter Lang Verlag, Bern 2013.
276 Seiten, 56,20 EUR.
ISBN-13: 9783034317061

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