Wenn aus Zufall Notwendigkeit wird

Navid Kermanis Frankfurter Poetikvorlesungen über „Jean Paul, Hölderlin und den Roman, den ich schreibe“

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie soll man die Poetik eines Romans und das eigene Schreiben desselben erklären, wenn der Roman noch nicht fertig, sondern immer noch im Entstehen ist? Wie also die Notwendigkeit ästhetischer Entscheidungen rechtfertigen, wenn diese heute, nächste Woche, in drei Monaten wieder geändert werden? Wie soll man also ein work in progress poetologisch zu fassen bekommen?

Als Navid Kermani 2010 die Frankfurter Poetik-Dozentur übernahm, schrieb er an einem Roman, der später den Titel „Dein Name“ tragen sollte, zu diesem Zeitpunkt allerdings selbst verschiedene Namen besaß, einer lautete beispielsweise „In Frieden“, ein anderer „Das Leben seines Großvaters“. Seine Poetik-Vorlesungen, die nun unter dem Titel „Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“ erschienen sind, sind keine ausgefeilte Regel-Poetik oder eine Lehrstunde im Creative Writing. Sondern sie eröffnen einen sehr persönlich gefärbten Blick in die Schreibwerkstatt eines Schriftsteller und sein Ringen um die richtige Form für seinen Stoff: „Daß auch der Roman, den ich schreibe, ständig mitbedenkt, wie er geschrieben ist, hat zur Folge, daß das, was ich Ihnen heute und an den kommenden Dienstagen so Gott will vortrage, anders als bei meinen Vorgängern und Vorgängerinnen nicht gesondert als kleine Broschüre oder als Taschenbuch erscheinen wird, sondern in wesentlichen Zügen zu dem Roman gehört, den ich schreibe. Sollten Sie meine Vorlesungen also einmal nachlesen wollen, müßten Sie warten, bis der Roman erscheint, den ich schreibe, und sich dann durch tausend oder noch viel mehr Seiten mühen, auf denen sich seine Poetik hier und dort verteilt.“

Zum Glück für die Leser ist es anders gekommen. Denn so bescheiden im Auftreten und freudig in der Fabulierlust suchen diese Poetik-Vorlesungen ihresgleichen. Zwar wehrt Kermani gleich zu Beginn den zentralen Begriff ab und schildert sein Hadern, doch rächt sich der Geschmähte in den nächsten Wochen. Zufällig überträgt – für ein paar Minuten – die moderne Tonanlage des Hörsaals nicht die Worte Kermanis, sondern die BWL-Vorlesung im Nachbarsaal. Zufällig erlischt das Licht kurz nach halb acht abends – oder geschah dies notwendigerweise, weil der Bewegungsmelder der Saalbeleuchtung keine Regung des gebannt lauschenden Publikums registrierte? Doch der Frage, ob der Zufall Jean Paul, Friedrich Hölderlin und den gegenwärtig zu schreibenden Roman zusammenführte oder die Notwendigkeit, kann und will Kermani in seinen Vorlesungen nicht ausweichen.

Von räumlicher Nähe und intellektueller Distanz

Jean Paul und Hölderlin eröffnen das Resonanzfeld, mit dem derjenige, „der oft Enkel, sonst Sohn, Vater, Mann, Liebhaber oder Freund, hin und wieder Romanschreiber, regelmäßig Berichterstatter, dann wieder Orientalist, ein Jahr lang die Nummer zehn und an einigen Stellen Navid Kermani genannt wird“, die Überlegungen in den fünf Vorlesungen zum Klingen bringt. Beide Schriftsteller können nicht in ihrem Typus, ihrer Biografie nicht unterschiedlicher sein. Doch blickt man genauer hin, erkennt man Gemeinsamkeiten. Räumliche Nähe, ähnliche Sozialisation, vergleichbare Vorlieben. Doch über eine persönliche Bekanntschaft ist nichts bekannt, allenfalls gibt es Verbindungslinien über gemeinsame Freunde und Förderer. Selbst ihre Wiederentdeckung verläuft parallel, als der Kreis um Stefan George sich ihrer Werke annimmt – „man könnte es Zufall nennen, daß sie sich offenbar nie begegneten, oder bezeichnend, daß sich keiner von beiden […] je über den anderen äußerte.“

Ist es Zufall oder Notwendigkeit, dass die Dichter nicht zueinander fanden? Schließlich waren die beiden in ihrem Schreiben, in ihrer Poetik gegensätzlicher als kaum zwei andere Poeten, nicht nur um 1800. Während Jean Paul sein Schreiben aus dem Leben nimmt, wie kein zweiter noch von der sechsten Tischrede, dem aufgeregten Herzschlag der Liebe und dem nervösen Schweißausbruch bis ins Letzte erzählt, verdichtet Hölderlin Gefühle, Empfindungen und Gedanken, bis ein funkelnder Diamant aus dem Kohlenstaub des Lebens entstanden ist. Es ließe sich eine ganze Reihe von Gegensatz-Paaren aufstellen, die Hölderlin und Jean Paul in Opposition gegeneinander antreten ließen.

Doch Kermani geht den anderen Weg. Er beschreibt nicht die Wirkungen, die Jean Paul oder Hölderlin auf sein Schreiben hatten, sondern den Einfluss des einen und des anderen. Dabei ist die Situation, wie er in die Fänge beider Schriftsteller gerät, durchaus ähnlich. Mit seinem schwungvollen Stil berichtet Kermani von den Zufällen, durch die die Autoren in sein Leben traten. Jean Paul leistete zunächst Unterstützung für die schriftstellerische Tätigkeit in durchaus praktischer Weise. Als eine Schreibtischplatte wackelt, schafft ein Band der Dünndruckausgabe flugs Abhilfe, die ungelesen in einem Umzugskarton liegt. Erst beim Rückbau fällt Kermani der Band erneut in die Hände, und das Lesen, das aus Scham aus einem ungebührlichen Verhalten gegenüber einem Klassiker beginnt, wird bald beinahe zur Sucht.

Obwohl diese Episode sich als unwahr herausstellt, wird sie für den Roman, den Kermani schreibt, zur notwendigen Voraussetzung. Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach dem Grund, aus dem Kermani sich plötzlich in die Lektüre Hölderlins versenkte. War es die Unlesbarkeit der Frankfurter Ausgabe, deren Herausgeber KD Wolff bei der zweiten Vorlesung sogar zufällig anwesend ist, mit ihren Schichten von Vor- und Überschreibungen, den Palimpsesten aus Hölderlins Hand? Oder konturierte die Leseausgabe, die Kermani als Schnäppchen im Internet erstand, stärker das Werk und weniger das Schreiben des Autors? Kermani jedenfalls vertieft sich auch in diesen Klassiker. Gefangen ist er von dem Prinzip des Dichters in seinen jungen Jahren, ganze Existenzen in Namenslisten mit wenigen Angaben zu bannen.

Die Kunst der Abschweifung, die Schule der Genauigkeit

Das Leben in Literatur überführen – dieses Vorhaben teilt Kermani mit den beiden Schriftstellern. Von Jean Paul lernt er die Kunst der Abschweifung, die nicht zufällig die Romanhandlung verlässt, sondern nur ein notwendiger Bestandteil des Lebens ist, in dem auch nichts geradlinig verläuft. Hölderlin hingegen ist ein Lehrmeister in Sachen Genauigkeit. Jede Fassung ist nur vorläufig, nur ein weiterer Schritt beim Versuch, die Worte so zu wählen, dass sie den Gedanken in seiner ganzen Tiefe ermessen können. Melodie und Rhythmus geben dem Satz Form, bringen ihn zum Klingen. Nicht umsonst liest Kermani Zitate von Hölderlin und Jean Paul nicht selbst. Sondern lässt, anders als bei anderen Poetologen, zwei Schauspieler die Worte sprechen. Die Polyphonie, die auf diese Weise ins Spiel kommt, zeugt auch von der Schwierigkeit desjenigen, der spricht. Ist es Gottes Stimme in der Inspiration? Oder der Schriftsteller, der seinem Leben durch das „Ich“ nachträglich eine Form geben will?

Bei der Frage nach dem „Ich“ trifft auch Hölderlin auf Jean Paul. Gemeinsam ist ihnen ein weit gefasstes Verständnis des Romantischen, das Jean Paul in seiner „Vorschule der Ästhetik“ entwickelt, wie Kermani es deutet, „als Hinwendung zu oder auch nur bloßen Ahnen, Sehnen nach einer anderen Wirklichkeit als der von Raum und Zeit […].“ Geburt und Tod markieren die Grenzen des Ich, beides ist zugleich unfassbar und konkret. Unfassbar in dem Sinne, dass das Sterben an sich das Ich nicht tangiert, das konkrete Sterben aber sehr wohl.

Die Bedeutung der Namen

Hölderlin und Jean Paul werden Kermani zu Lehrern des Gebrauchs von Namen – und deshalb ist es auch notwendig, dass der spätere Roman von Kermani „Dein Name“ heißen wird. Von Jean Paul lernt er, wie schwierig es ist, „ich“ in einem literarischen Text zu sagen. An dessen Texten weist er kenntnisreich nach, dass Jean Paul, der große Plauderer der deutschen Literatur, sich im Ich geradezu versteckt. Kein weiß sich besser in Szene zu rücken und sich als Autor selbst in seine Literatur zu bringen als er. Und doch erfährt man so gut wie nichts über den, der „ich“ sagt. Kermanis wichtigste Passagen sind deshalb auch nicht in der Ich-, sondern in der Er-Form geschrieben, gleichsam als Abstraktion von sich selbst, um das Innere darstellen zu können.

Kermanis Vorlesungen enden mit einem vorsichtigen Fazit. „Das Ich gilt, aber nicht mein Ich.“ Der Schriftsteller erweist sich als Mystiker, wenn er die Beschränkung des Ichs für seine Poetik feststellt. Nicht das Ich absolut setzen – wie es die literarischen Quasselstrippen und autobiografischer Exhibitionisten tun, sondern das Absolute im „Ich“ zu suchen. Indem man vom „Ich“ zurücktritt, findet man das Allgemeine, wie Kermani am Beispiel seines Großvaters ausführt, der wichtigsten Figur seines damals noch zukünftigen Romans. „Was Jean Paul empfand und Hölderlin besser beschrieb, ist nicht bloß ein individueller, es ist ein allgemeiner oder idealer Moment innerhalb des poetischen Prozesses: ein Einzelner zu sein und doch das Ganze in sich zu tragen, nichts zu werden und dadurch Gott.“

Wer Kermani gespannt durch die fünf Vorlesungen folgt, braucht seine Interpretationen zu Jean Paul und Hölderlin nicht zu teilen. Der Autor ist kein Germanist, der vor jeder Tücke, vor jeder Lücke der Forschung auf der Hut sein muss. Sondern Kermani spricht als Künstler und über sein Schaffen. Seine Ausführungen sind nicht verallgemeinbar, aber sie erlauben ein tieferes Verständnis seines Arbeitens. Und sie machen Lust, sich dem Roman, den Kermani schrieb, zum ersten oder zum wiederholten Male zu nähern. Entweder weil die Poetik-Vorlesungen ein Gefallen an der Fabulierkunst und rhetorischen Schärfe des Schriftstellers und „Poetologen“ Kermani geweckt haben, oder um nun das literarische Werk an den poetologischen Ausführungen zu messen, auf welche Weise dieses zufällige Leben in notwendige Literatur überhaupt zu überführen sei.

Titelbild

Navid Kermani: Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
224 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239937

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