Weltliteratur aus Niederbayern

Roland Berbig kommentiert Günter Eichs Zeit in Geisenhausen

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Günter Eich, 1907 in Lebus an der Oder geboren, ab 1918 in Berlin und Leipzig aufgewachsen, durch sein Studium der Sinologie kurzzeitig bis nach Paris gelangt und schon in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts als Lyriker und Hörfunkautor reichsweit bekannt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der ganz großen Literaturstars der jungen Bundesrepublik. Wer in den 50er-, 60er- oder 70er-Jahren ein deutsches Gymnasium besuchte, kam um sein berühmtestes Gedicht nicht herum: Eichs „Inventur“, diese illusionslose Standortbestimmung des Einzelnen inmitten kollektiver Not, hatte man einfach zu kennen. Und eigentlich auch sein legendäres Hörspiel „Träume“ (1951) mit dem bewegenden Aufruf, der noch in den 1968er-Jahren allenthalben zitiert wurde: „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“. Im Nachwort zu einem erstmals 1972 erschienenen Eich-Lesebuch, das der Autor noch selbst zusammengestellt hat, schreibt Susanne Müller-Hanpft: „Die Verweigerungshaltung gegenüber gesellschaftlicher Vereinnahmung ist und bleibt eine Konstante im Werk Eichs“. Das Gedicht, so schreibt sie weiter, gelte ihm „als Erkenntnismittel und -möglichkeit für die im Detail aufleuchtende Totalität der Wahrheit“. Beides gilt bis heute und ist auch weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist, dass der Unteroffizier Eich 1944 in Geisenhausen stationiert war und dass er – nach seiner Entlassung aus entbehrungsreicher amerikanischer Kriegsgefangenschaft im Rheinland – dorthin zurückkehrte, um dann fast zehn nicht nur für sein Schriftstellerdasein entscheidende Jahre in dem Marktflecken zwischen Landshut und Vilsbiburg zu bleiben. Diesen Geisenhausener Jahren Günter Eichs hat der Berliner Germanist Roland Berbig ein in vielerlei Hinsicht stattliches, im Juni 2013 erschienenes Buch gewidmet: „Am Rande der Welt“ heißt es – ein Eich-Zitat, wenngleich der Schriftsteller die Berliner Perspektive bald aufgegeben hat: Geisenhausen wurde zum Zentrum der Welt, jedenfalls für ihn und wenigstens für einige Jahre.

Berbigs voluminöse Studie spielt, mit aufschlussreichen Ausblicken bis in Eichs Todesjahr 1972, hauptsächlich in der Zeit von 1944 bis 1954. Keine vollständige Eich-Biografie also, eher ein kenntnisreicher Lebensabschnittskommentar auf der Grundlage zahlreicher weitgehend unbekannter Quellen. Die meisten von ihnen, Briefe und Fotos, aber auch mündliche Auskünfte, stammen von der Geisenhausener Familie Schmid, in deren Haus der im Grunde besitz- und mittellose Eich 1945 die freundlichste Aufnahme fand, die sich nur denken lässt – was, wie man weiß, in jener uns schon ziemlich fernen Zeit nicht unbedingt die Regel war, in Niederbayern nicht und anderswo auch nicht. Die freundschaftliche Verbundenheit mit den Schmids hielt ein Leben lang – die täglichen Sorgen ums Essen und Heizen verbinden, auch die Mühen mit der Besatzerpolitik und den langsam in Gang kommenden Behörden, und ganz allgemein natürlich die gesellschaftlich-politische Auseinandersetzung mit der Nazizeit und ihren Folgen. Und später auch die Freude über die ersten Anschaffungen und erst recht über den Luxus eines VW-Cabriolets, das Eich eifrig benutzte und dabei die Familie Schmid, wann immer es ging, gerne mitnahm. Kurzum: Geisenhausen und die Schmids werden dem Dichter allmählich zu einer Art zweiter Heimat und bilden die emotionale Grundlage für seine zunehmende poetische Kreativität. Im Niederbayerischen fand Eich aus Kriegstraumatisierung und Lebenskrise heraus, und viele seiner dort entstandenen Gedichte, Prosastücke und Hörfunktexte tragen Spuren seiner damaligen Alltagswelt in sich. Womit der springende Punkt von Roland Berbigs Untersuchung angesprochen ist: Was trägt all das Biografische zur Erhellung und zum besseren Verständnis des poetischen Werks von Günter Eich bei? Denn selbst wenn man gerne einräumt, dass es in Berbigs Buch nicht nur um Poesie, sondern auch um den niederbayerischen Nachkriegsalltag und die Familie Schmid aus Geisenhausen geht – entscheidend bleibt allemal, was es Neues vermitteln kann über die Literatur, der der Dichter sein internationales Renommee und seine bleibende Bedeutung verdankt.

Naturgemäß gehören Eichs Bemühungen um berufliche Chancen eng zu seinem Schaffen. Es gab noch nicht das, was man später „Literaturbetrieb“ nennen wird, aber: Es tat sich was in den vier Zonen, die 1949 zwei Republiken werden sollten. Wie er Kontakte zu fast allen deutschen Rundfunkanstalten knüpfte, wie er den „Akzente“-Herausgeber Walter Höllerer kennenlernte, den späteren Gründer des Literarischen Colloquiums Berlin, wie er sich Hans Werner Richter und der Zeitschrift „Der Ruf“ näherte und 1950 den neu geschaffenen Preis der „Gruppe 47“ erhielt, wie Dichterfreundschaften entstanden, zum Beispiel mit dem Schweizer Kollegen Rainer Brambach, wie er nach dem Erfolg von „Geh nicht nach El Kuwehd! “ (1950) zum meistgefragten Hörspieldichter der Nachkriegszeit wurde – all das ist literatursoziologisch und literaturgeschichtlich hochinteressant, und hier ist es bestens dokumentiert. Ebenfalls wichtig und manchmal sehr berührend: die quälende Trennungsphase von seiner ersten Frau bis zu Scheidung (1949), die zärtliche Liebe zur Wiener Poetin Ilse Aichinger samt Hochzeit (1953) und die Geburt des gemeinsamen Sohnes Clemens Eich (1954-1998) – der übrigens ein herausragender, bis heute viel zu wenig beachteter Schriftsteller seiner Generation war. Roland Berbig hat das alles – und selbstverständlich noch viel, viel mehr – mit großem Aufwand und sympathischer Emphase zuverlässig recherchiert, und anschaulich schreiben kann er auch. Erwartet man zu viel, wenn man einem gestandenen Germanisten auch noch etwas gründlichere Textanalysen zutraut? Wiewohl man nicht behaupten kann, dass der Forscher gänzlich erstickt ist in seinem Material – konkrete Eich-Philologie muss man anderswo suchen, es gibt sie und weitgehend wird sie auch im Literaturverzeichnis aufgeführt. Hat die interpretatorische Zurückhaltung zur Lesbarkeit der Studie beigetragen? Jedenfalls kann man schöne und lehrreiche Lektürestunden mit ihr verbringen, auch wenn der bayerische Mensch sich oft genug in seiner quasi genetischen Skepsis gegenüber norddeutschen Autoren und Lektoraten bestätigt fühlen kann – zumindest, was deren Ortskenntnisse im Süden des deutschen Sprachraums angeht. Den „Attasee“ wird man in Österreich nicht finden, eine „Taxistraße“ gibt es in München nicht, höchstens eine Taxisstraße; „Dingolfingen“ kann nicht in Niederbayern liegen und „Eggerfelden“ auch nicht, die Dörfer um Landshut herum heißen Weihmichl oder Furth und nicht „Weimichl“ oder „Fürth“. Das sind natürlich Peanuts, wenn auch ärgerliche. Die Lesefreude sollte das nicht trüben.

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Roland Berbig: Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
535 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312593

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