Verteidigung der Freiheit

Zum 100. Geburtstag von Albert Camus sind vier große Biographien erschienen

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er wird als einer der Großen des 20. Jahrhunderts gefeiert und er zählt zu den weltweit meistgelesenen französischen Autoren. Als Albert Camus am 7. November 1913 in der Nähe von Algier in einem Arbeiterviertel zur Welt kam, deutete nichts darauf hin, dass er zu einem der bekanntesten Schriftsteller seiner Zeit werden sollte, zu einem modernen Klassiker, dessen Aktualität ungebrochen scheint. Er wird als der Philosoph des Absurden beschrieben, als Denker der Revolte und Verteidiger der Freiheit angesichts der von ihm bekämpften Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Seine Romane „Der Fremde“ und „Die Pest“ sowie der philosophische Essay „Der Mythos des Sisyphos“ sind internationale Bestseller geworden. Unter den „Mandarins von Paris“ hingegen hatte er einen schweren Stand. Nach einem öffentlichen Streit mit Sartre, der Camus Werk „Der Mensch in der Revolte“ zum Gegenstand hatte, verhärteten sich die Beziehungen zu den französischen Linken, Camus saß zwischen allen Stühlen.

Zu seinem 100. Geburtstag sind vier große Biographien erschienen, darunter zwei in diesem Herbst. Beide sind von prominenten Autoren des deutschsprachigen Feuilletons verfasst: Iris Radisch und Martin Meyer. Beide Biographen, soviel sei vorweg gesagt, spielen leider in ihren ansonsten überaus lesenswerten Büchern Camus und Sartre gegeneinander aus und verfehlen dabei die historische Situation der fünfziger Jahre, die nach einer differenzierteren Betrachtung dieses Streits der beiden einflussreichen Intellektuellen Frankreichs verlangt.

Iris Radisch wählt als Kapitelüberschriften ihrer faszinierend geschriebenen Biographie die zehn Lieblingswörter Camus: „Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.“ Sie beschreibt die ärmlichen Viertel in Belcourt, einem Vorort von Algier, in dem der junge Camus neben einer stummen Mutter und einer tyrannischen Großmutter aufwächst, beide Analphabeten, erzählt von der Armut, die Camus nicht als bloßes Unglück empfand, „denn das Licht breitete seine Schätze über sie aus“, von seiner Tuberkuloseerkrankung, seiner Einsamkeit, von seinem Leben in Paris, seiner Ehe, den zahllosen Frauengeschichten und schließlich von der Zurückgezogenheit seiner letzten Jahre in Lourmarin, zwischen Avignon und Aix-en-Provence gelegen, Camus Gegenentwurf zur Pariser Welt. Es ist der Ort, wo er 1960 auch seine letzte Ruhe fand. Im Kapitel „Das Meer“ beschreibt Radisch die Bedeutung des Mittelmeers für den Schriftsteller. Sie stellt uns das einzige erhaltene Gedicht des Algerienfranzosen vor, das dieser mit 19 Jahren schrieb und schon alles enthalte, was der „Pariser Starphilosoph“ dann in den fünfziger Jahren im Schlusskapitel „Das mittelmeerische Denken“ seines Essays „Der Mensch in der Revolte“ gegen die Kultur Europas vorbringe. Dort stellt er eine mediterrane Kultur der Gelassenheit, des Maßes und der Nähe zur Natur vor, die es zu bewahren gilt und die ihre Herkunft aus dem antiken Griechenland nicht verleugnet. Radisch untersucht die Einflüsse, die Jean Grenier, Camus einstiger Lehrer, auf ihn ausübte. Dabei schildert Radisch die Bezüge zwischen Valerys „Inspirations méditerranéennes“ und dem „mittelmeerischen Denken“ von Camus, die vor allem durch Grenier vermittelt wurden.

Jahre zuvor, im Juli 1944, schrieb Camus in seinem vierten „Brief an einen deutschen Freund“, der ein imaginärer Freund ist: „Ich glaube weiterhin, dass unserer Welt kein tieferer Sinn innewohnt. Aber ich weiß, dass etwas in ihr Sinn hat, und das ist der Mensch, denn er ist das einzige Wesen, das Sinn fordert. Diese Welt besitzt zumindest die Wahrheit des Menschen, und unsere Aufgabe besteht darin, ihm seine Gründe gegen das Schicksal in die Hand zu geben. Und die Welt hat keine anderen Seinsgründe als den Menschen, und ihn muss man retten, wenn man die Vorstellung retten will, die man sich vom Leben macht.“ Camus hat sich als die Stimme der Sprachlosen empfunden; er blieb dabei seiner algerischen Herkunft und der Armut seiner Kindheit treu.

Martin Meyer hat eine Werkbiographie „Albert Camus – Die Freiheit leben“ vorgelegt, die sich kenntnisreich und detailliert den zentralen Themen des Dichters widmet: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Zu empfehlen ist die Biographie auch Lesern, die sich mit Camus Werk erst vertraut machen wollen, mit seinen Romanen und Dramen, seinen philosophischen Essays und politischen Kommentaren. Meyer erläutert anhand der Werke „Der Fremde“, „Der Mythos des Sisyphos“ und „Caligula“, wie „Camus aus der Luft der Zeit zwischen zwei Weltkriegen ein Daseinsgefühl“ holte, „das sich dem Bedürfnis nach dem Höheren entfremdet hatte und – nach-metaphysisch – nun auf die Modalitäten der Existenz zurückgeworfen war.“ In drei Formen der Darstellung, so Meyer, wurde diese Wahrnehmung in den Werken „literarisch und philosophisch“ konkret: „philosophisch gegen die Gesetze einer orthodox-plausiblen Schulphilosophie, literarisch gegen die Tradition psychologisch ausufernder Seelenkunde.“ Der junge Schriftsteller erregte Aufsehen, indem er in einer harten und klaren Sprache ans Werk ging. „Sowohl die Ouvertüre für die Erzählung vom Fremden – ‚Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht‘ – wie der Ingress zum Essay über den ‚Mythos des Sisyphos‘ – ‚Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord‘“ – machten die arrivierten Schriftstellerkollegen und die Leserschaft aufmerksam.

Auch die einzelnen Lebensstationen von Albert Camus werden von Meyer prägnant geschildert, so Camus Reise nach Schweden anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises. Camus litt unter starken Depressionen, Schreibhemmungen, Erstickungsanfällen, die von Panik und Ängsten begleitet waren. Das Tagebuch, das Camus zu dieser Zeit im Jahre 1957 führte, enthält nur sieben Notate, „keines spiegelt die Ereignisse in Schweden“, so Meyer.

Der bekannte französische Philosoph Michel Onfray hat bereits 2012 in Frankreich sein kämpferisches Camus-Buch „Im Namen der Freiheit“ veröffentlicht und porträtiert den Schriftsteller vor allem als Vorbild für schwierige Zeiten, als „hochaktuellen Denker und Freiheitskämpfer“, wobei nicht immer deutlich unterschieden werden kann, ob gerade Camus oder Onfray zum Leser spricht. Jedenfalls gelingt es Onfray, die philosophischen Entwicklungslinien von der französischen Aufklärung über Hegel und Kierkegaard, Jaspers und Heidegger hin zum französischen Existenzialismus zu ziehen. Ebenso wird ein ausgezeichneter Ausblick auf das französische Denken im Anschluss an Sartre und Camus gegeben. Auch wenn der Leser nicht allen Folgerungen des Autors zustimmen mag, ist die Lektüre dieser kenntnisreichen Monographie sehr zu empfehlen. In ihr werden die literarischen wie auch die essayistischen Werke des Schriftstellers einer philosophischen Betrachtung unterzogen. Im Roman „Der Fremde“ gibt es keine philosophische Referenz, keinen Philosophen, der genannt wird, nicht einmal ein Zitat aus der langen Geschichte der abendländischen Philosophie. Nur einmal wird Meursault, die wohl bekannteste Romanfigur des 20. Jahrhunderts, mit der Bezeichnung „Antichrist“ bedacht. Auf den letzten Seiten des Romans komme es, so Onfray, zu einer „nietzscheanischen Erfahrung“. Meursault, der auf seine Hinrichtung wartet, hat sich nach einem heftigen Streitgespräch mit dem Anstaltsgeistlichen wieder beruhigt. Er ist allein in der Zelle und wartet auf die Vollstreckung des Todesurteils. „Von draußen riecht es nach Nacht, Erde, Jod, Salz und Sommer, das Heulen der Schiffssirenen dringt zu ihm herein, die Sterne scheinen ihm ins Gesicht. Der Protagonist erinnert sich an seine Mutter, die im Alter ihren einstigen Verlobten wiedergetroffen und versuchte hatte, ein verlorenes Leben nachzuholen“. Am Ende erzählt dann Meursault: “Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert, von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt.“ Ist diese Zugehörigkeit zur Welt, so fragt Onfray, die das Glück Meursaults ausmacht, nicht eine andere Umschreibung für Nietzsches Unschuld des Werdens?

Zum Schluss sei noch auf eine Bildbiographie von Catherine Camus hingewiesen, der Tochter des Schriftstellers. Das Buch besticht durch seine gelungene Gestaltung und Zusammenstellung von Fotos und Dokumenten aus dem Leben von Camus und den Orten, in denen er lebte. Catherine Camus hat diesen bibliophilen Band herausgegeben, um uns zu zeigen, „dass Albert Camus nichts anderes war als ein Mensch unter Menschen, der sich vor allem darum bemühte, ein wirklicher Mensch zu sein.“

Titelbild

Martin Meyer: Albert Camus. Die Freiheit leben.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
367 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243538

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Catherine Camus (Hg.): Albert Camus. Sein Leben in Bildern und Dokumenten.
Übersetzung aus dem Französischen von Alwin Letzkus.
Edition Olms, Oetwil am See 2013.
225 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783283011512

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Iris Radisch: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013.
350 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057893

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Titelbild

Michel Onfray: Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus.
Übersetzt aus dem Französischen von Stephanie Singh.
Knaus Verlag, München 2013.
580 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783813505337

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